Ungefähr 50-mal habe ich am Wochenende das schon ikonische Bild der Bayern-Bosse betrachtet, die sich zu dritt auf der Tribüne in Mainz zusammendrängen und nicht mehr weiterwissen. Sie sind ein einziges Häufchen Elend.
Mitleid mit Bayern? Ich schon!
Während des Spiels, das die Bayern klar verloren, war das Bild immer wieder zu sehen, und auch später, als Dortmund gegen Frankfurt gewonnen und die Tabellenführung übernommen hatte. Dabei entwickelte sich in mir ein längst vergessenes Bayern-Gefühl: Mitleid.
Die Bayern haben zehn Jahre lang alles gewonnen. In diesem Zeitraum hatte ich vorrangig Mitleid mit Borussia Dortmund, dem ewigen Zweiten; dem verlässlichen Abbieger, wenn eigentlich gerade Strecke ist.
Und jetzt tun mir die Bayern leid. Zum ersten Mal seit 1999.
Bayerns Schwäche öffnet dem BVB das Tor zum Paradies
Alles hat sich gegen sie verschworen, alles. Was sie auch machen: Es klappt nicht. Bayern könnte deshalb erstmals seit 2012 Vizemeister werden.
Vizemeister. Allein schon das Wort. Für Bayern-Fans hat es denselben Klang wie Inflation oder Gaspreiserhöhung.
Es ist verrückt. Wahnsinn, wie Klubchef Kahn sagen würde. Und am Sonntag kommt Hertha BSC. Die Mannschaft hat seit 46 Jahren kein Bundesligaspiel beim FC Bayern gewonnen und ist jetzt doch Angstgegner. Das muss man auch erstmal hinbekommen.
Wie soll man gegen die gewinnen, wenn nichts mehr funktioniert? Wenn sich alles verschworen hat? In diesem Ausmaß erlebt unsereins das sonst nur beim Regale zusammenbauen. Du denkst, du machst alles richtig, und am Ende ist links, wo rechts sein sollte, die Rückwand steht vorn und die entscheidende Schraube, die alles zusammenhält, ist spurlos verschwunden.
Dann lacht sich Süle kaputt
Die Dortmunder sind ganz da. Ein Punkt Vorsprung auf Bayern und noch „genau fünf Schritte“ bis zum Paradies, hat Trainer Edin Terzic gesagt.
Auf dem Borsigplatz ist bestimmt schon das erste leise Brummen zu hören.
Das muss das Schlimmste sein für die Bayern: Dortmund. Ausgerechnet die Mannschaft, die nie was auf die Reihe kriegt, wird womöglich Meister. Ausgerechnet Mats Hummels sprintet (!) zu Platz eins. Ausgerechnet Niklas Süle, über den sie sich lustig machten, als er München verließ, lacht sich am 34. Spieltag kaputt und isst zur Feier des Tages Burger mit Pommes aus der Meisterschale.
Und warum? Kann denn alles menschliches Versagen sein?
Ich glaube ja an den Gerechtigkeitssinn der Fußballgötter. Sie haben aufgepasst. Sie verlangen jetzt vom Rekordmeister auf einen Schlag zurück, was sie jahrelang unter dem Verwendungszweck „Bayern-Bonus“ überwiesen haben.
Fußball-Deutschland spottet über Bayern-Bosse
Keiner von uns kann sich vorstellen, was das wirklich bedeutet. Wie es für Kahn, Brazzo und Herbert Hainer, den Durchwinker unter den Kontrolleuren, sein muss, wenn ein ganzes Land auf dich zeigt, schimpft, sich ärgert oder totlacht. Wie es sich anfühlt, wenn du wochenlang das Gespött der Leute bist, und es einfach nicht besser werden will.
Deswegen taten mir diese drei am Samstag leid. Das letzte Mal, als mir die Bayern so leidtaten, war Mai 1999. Fast genau 24 Jahre her also. Damals beging Trainer Ottmar Hitzfeld seine verhängnisvollen Wechselfehler im Champions-League-Finale gegen Manchester United. Die Bayern gingen in der Nachspielzeit schneller unter, als Julian Nagelsmann „Fünf-Jahres-Vertrag“ sagen kann.
Aber sie brauchten damals nur zwei Jahre, um sich von diesem Schock zu erholen – 2001 gewannen sie die Champions League dann doch. Man darf sie eben niemals unterschätzen, diese Eigenschaft der Bayern.
Wie 1999 ist jetzt ein Wechselfehler Schuld. Diesmal sind die Bosse, Kahn und Salihamidzic, verantwortlich für den jähen Absturz, und keiner mag sie mehr. Die beiden standen 1999 auf dem Platz, als das Drama von Barcelona seinen Lauf nahm. Kahn hütete das Tor, Brazzo wurde in der 87. Minute für Mario Basler eingewechselt.
Kahn und Brazzo wissen, wie es ist, zu versagen. Und sie wissen, wie man daraus lernt und stärker zurückkommt. Zwei Jahre später holten sie damals zusammen den Henkelpott.
Vielleicht macht das Bayern Hoffnung. Vielleicht sage ich das aber auch nur aus Mitleid.
Alex Steudel ist freier Journalist. Er war Bayern- und Nationalmannschaftsreporter sowie Chefredakteur von Sport Bild. In seiner Kolumne für SPORT1 widmet er sich auf nicht immer ganz ernstgemeinte Weise aktuellen Themen. Steudel-Kolumnen gibt es auch regelmäßig im kostenlosen Fußball-Newsletter Fever Pit‘ch von SPORT1-Chefredakteur Pit Gottschalk. Zur Anmeldung geht‘s hier: https://newsletter.fever-pit.ch/