Lucas Genkinger war gerade mal 15, als er 2010 zum Streitobjekt von zwei Bundesliga-Managern wurde. Horst Heldt, damals Sportdirektor des VfB Stuttgart, und Christian Nerlinger, zu der Zeit Sportdirektor beim FC Bayern, bekamen sich wegen Genkinger in die Haare.
Ex-Bayern-Talent: Das hat mich genervt
Der Wechsel nach München klappte, doch den Durchbruch schaffte er bei den Bayern nicht. Im Juni 2019 beendete er seine aktive Laufbahn. Heute arbeitet Genkinger in der Landwirtschaft und ist zudem als Personal Coach tätig. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
Im SPORT1-Interview spricht der 27-Jährige über die Nachwuchsleistungszentren im Fußball, Pep Guardiola und verrät, was Sascha Mölders mit seinem Karriereende zu tun hatte.
SPORT1: Herr Genkinger, haben Sie die Nummer von Horst Heldt und Christian Nerlinger?
Lucas Genkinger: (lacht) Nein, die hatte ich auch nie, ich weiß, worauf das abzielt.
SPORT1: Hätten Sie die beiden gerne mal angerufen und nochmal mit genügend Abstand über das Theater von damals geredet, als Sie mit 15 Jahren Streitobjekt der beiden Manager waren?
Genkinger: Den Streit nehme ich nicht auf meine Kappe. Ich war damals selbst schockiert, wie sich um mich gestritten wurde. Ich war erst 15. Das war echt der Mega-Zoff zwischen Bayern und dem VfB und das hätte man sich sparen können. Zu der Zeit war das schon sehr ungewöhnlich, dass es solche Transfers in meiner Altersklasse gibt. Es gab damals keinen Vertrag, nicht mal eine mündliche Vereinbarung. Ich sehe das nicht als meinen Fehler oder dass ich etwas bereuen müsste.
SPORT1: Aber was war das für ein Gefühl, als Sie mitbekamen, dass sich Heldt und Nerlinger so um Sie gestritten haben?
Genkinger: Ich kann mich gut daran erinnern, das wurde ja damals auch in den Medien ausgeschlachtet. Dennoch habe ich das nicht in der Tragweite mitbekommen. Mein erstes Gefühl aber war gut. Ich dachte mir ‚Okay, ich komme mal über die regionalen Nachrichten hinaus.‘ Und das war eher cool.
Bayern-Wechsel „richtig verrückte Zeit“
SPORT1: Sie sind dann zum FC Bayern gewechselt. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Genkinger: Es war eine richtig verrückte Zeit. Ich bin alleine nach München gezogen und lebte dort im Internat. Ich kannte dort niemanden. Es fühlte sich anfangs beim FC Bayern wie ein Abenteuer an. Ich hatte starkes Heimweh.
Mich trainierten namhafte Trainer. In der U16 war mein Trainer Harald Cerny, er war richtig gut und sympathisch. Ein Jahr später trainierte ich beim Sohn von Franz Beckenbauer (Stefan, d. Red.), der leider schon verstorben ist. In der U19 konnte ich mit Marc Kienle und später kurz mit Heiko Vogel zusammenarbeiten.
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SPORT1: War es damals für Sie schwer im NLZ der Bayern?
Genkinger: Es war nicht immer leicht. Ein Spieler soll immer denselben Charakter haben, sei es auf oder neben dem Platz. Da findet oftmals eine Art „Züchtung“ von Talenten statt. Es darf gar keine Freigeister mehr geben. Ich finde in diese Richtung haben sich die meisten NLZs heutzutage stark entwickelt.
SPORT1: Heute können sich Talente bei Bayern also gar nicht mehr entfalten?
Genkinger: Pauschal würde ich das bejahen, vor allem auf dem Platz ist das so. Natürlich habe ich nicht den vollen Einblick und es gibt sicher auch Ausnahmen. Aber man will nicht, dass ein Spieler eine Zidane-Pirouette macht, weil das nicht in das Passspiel von einem Guardiola passt.
Heute muss ein Talent so spielen, wie es der Verein will. Freigeister werden im deutschen Fußball weitestgehend unterdrückt. Ich war im NLZ bei Stuttgart, Bayern, 1860 und in Heidenheim, weiß also, wovon ich spreche. Wobei ich sagen muss, dass ich bei Heidenheim hier auch das Gegenteil erleben durfte.
SPORT1: Was war damals im Bayern-NLZ schön und was weniger schön?
Genkinger: Es war vor allem schön, dass man dort innerhalb der Mannschaft einen Zusammenhalt gespürt hat. Es ging immer um Fußball. Was nicht so schön war, ist dieses extrem Wechselhafte. Ich war in der U16 und U17 absoluter Stammspieler. Ich war teilweise sogar Kapitän.
Doch in der U19 war ich plötzlich der Bankwärmer. Wenn ich sie überhaupt wärmen durfte, überwiegend war ich nicht mal im Kader. Das war schon hart beim FC Bayern. Gerade unter dem Aspekt, dass ich nicht bei meiner Familie sein konnte und alles für den Fußball aufgegeben hatte. Alleine in München zu hocken, tat richtig weh.
SPORT1: Fühlten Sie sich damals als junger Kerl vom Verein im Stich gelassen?
Genkinger: Am Anfang noch nicht. Einige Freunde sagten mir damals, dass das auch normal ist, wenn man plötzlich raus ist. Ich war dann schon 17, 18 und konnte damit umgehen. Was mich richtig genervt hat bei Bayern, war, dass ich Wechselgedanken hatte und ich ein bisschen verarscht wurde. Man sagte mir, ich solle Geduld haben und im nächsten Jahr würde ich mehr Spielzeit bekommen.
Aber so war es dann eben nicht. Da hätten die Bayern menschlicher handeln können. Man sagte mir mehr Chancen auf Einsätze zu und die habe ich dann nicht bekommen.
„Ich weiß bis heute nicht, wie ein Müller oder ein Badstuber das geschafft haben“
SPORT1: Glauben Sie, dass heutzutage mit den Jungs in den NLZ‘s ehrlich umgegangen wird?
Genkinger: Das kann ich pauschal nicht so sagen. Ich war ja auch in Heidenheim im NLZ tätig und da war ich sehr positiv überrascht. Da herrschte viel Menschlichkeit. Da gab es Freigeister und es wurden keine Talente gezüchtet. Dort haben die Spieler ihre Freiheiten bekommen.
SPORT1: Wie sehen Sie heute die Jugend beim FC Bayern?
Genkinger: Ich finde es bei Bayern generell schwierig, den Sprung von der Jugend in die erste Mannschaft zu schaffen. Ich sehe grundsätzlich die Bemühungen, aber wenn man von der zweiten in die erste Mannschaft möchte, dann ist es eigentlich unmöglich.
Ich weiß bis heute nicht, wie ein Müller oder ein Badstuber das geschafft haben. Sie sind von der Regionalliga in die Champions League durchgestartet. Es hat sich immer bewährt, Spieler auszuleihen wie damals bei Lahm und Alaba. Das ist immer noch ein guter Weg.
SPORT1: Warum ist der Wechsel von der Jugend in den Herrenbereich so schwer?
Genkinger: Weil es ein brutal anderes Niveau ist. Gianluca Gaudino zum Beispiel war ein sehr schmächtiger Spieler und hat es leider nicht gepackt. Er geht in der Regionalliga unter, aber seine wenigen Spiele in der Bundesliga hat er richtig gut gemacht. Die Regionalliga ist eine schwere Liga. Spieler, die dort untergehen, wären teilweise der 1. und 2. Liga besser. Ich hätte Gaudino gewünscht, dass er sich in der Bundesliga durchsetzen kann.
SPORT1: Was war Ihre größte menschliche Enttäuschung im Fußball?
Genkinger: Ein dunkler Moment war sicher, als ich merkte, dass es bei den Bayern für mich nicht mehr weitergeht. Bei mir ging es fast immer nur aufwärts. Ich bin immer von einem Verein zum nächsten gewechselt und war immer begehrt. (DATEN: Spielplan der Bundesliga)
Als es bei Bayern nicht weiter ging für mich, merkte ich zum ersten Mal, wie schnell es enden kann. Ich hatte damals auch hier und da ein Probetraining gemacht zum Beispiel bei Schalke. Es war alles abgesprochen, doch auch dort wollte man mich nicht. Da spürte ich, dass es vorbei ist. Ich habe dann in der Regionalliga weitergemacht.
„Das ist Sascha Mölders‘ Schuld“
SPORT1: Und der andere Moment?
Genkinger: Ich hatte keine klassischen Verletzungen wie einen Kreuzbandriss, sondern eher mit Entzündungen zu kämpfen. Da konnte mir keiner so richtig weiterhelfen. Es gab da den einen oder anderen Moment, wo ich mir gedacht habe ‚Es kann doch nicht sein, dass es immer noch Verletzungen gibt, bei denen Ärzte ratlos sind‘. Ich hatte damals große Schmerzen und keiner konnte mir helfen. Da war ich richtig am Boden.
SPORT1: Wann haben Sie realisiert, dass es mit Profifußball nichts wird?
Genkinger: Es ist schwer den Schlüsselmoment zu nennen, aber ich versuche es mal. Das ist Sascha Mölders‘ Schuld. Es war in einem Spiel gegen 1860 und in einem Eins gegen Eins mit ihm. Dass er mich trotz seiner etwas fülligeren Statur und seines etwas wilderen Lebensstils mit meinen 22 so in die Tasche stecken konnte, war einfach nur ernüchternd. (DATEN: Ergebnisse der Bundesliga)
Ich dachte mir nur ‚Das kann doch nicht sein, dass ich so hergespielt werde - von jemand, der sich eher auf dem absteigenden Ast befindet‘. Mölders war schon dort, wo ich hin wollte. Dieses Duell mit ihm war echt frustrierend. Daher habe ich in dem Spiel mit Mölders gemerkt, dass es für mich leider nicht weitergehen wird.
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SPORT1: Gab es bei Bayern mal einen Spieler, der sie in den Arm genommen hat?
Genkinger: Nicht wirklich. Ich kann mich aber noch gut an ein Training mit Pep Guardiola erinnern. In den Länderspielpausen durften wir oft mittrainieren. Pep hat nie viel gesagt, sondern hat sich nur angeschaut, was die jungen Spieler machen. Aber einmal kam er zu mir und hat mir genau erklärt, wie mich verhalten soll, wenn ich eine Flanke reinschlage, sodass sie auch wirklich ankommt. Diese persönlichen Worte werde ich nie vergessen. Guardiola sprach zu mir wie ein Freund.
SPORT1: Sie sind Personal Coach. Ist das Ihr Hauptjob?
Genkinger: Ich bin auch in der Landwirtschaft tätig. Da bin ich über eine befreundete Familie reingerutscht. Mein ursprünglicher Plan B war als Trainer im Fußball zu bleiben. Doch wegen Corona habe ich das wieder verworfen. Und ich wollte immer schon etwas ganz anderes machen, außerdem konnte ich in die Nähe meiner Familie nach Metzingen ziehen.
SPORT1: Was machen Sie in der Landwirtschaft?
Genkinger: Ich mache die klassischen Obst- und Gemüse-Ernten. Für die Tiere bin ich gar nicht zuständig. Ich muss also keinen Mist aufgabeln.
SPORT1: Sind Sie froh dort wieder ganz bodenständig arbeiten zu können und nicht mehr im etwas gläsernen Fußballgeschäft?
Genkinger: Ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Natürlich ist der Fußball immer noch meine Leidenschaft und das merke ich, wenn ich selber kicke oder vor dem Fernseher sitze und mir ein Spiel anschaue. Ich wäre schon gerne noch ein Teil davon. Andererseits gab es viele Enttäuschungen und negative Erfahrungen und ich bin froh raus zu sein.
SPORT1: Was machen Sie als Personal Coach?
Genkinger: Ich mache nur Fußball-spezifische Trainingseinheiten. Ich bin in dem Unternehmen „Rising Pro“ mit dabei, arbeite dort als Freelancer. Die haben ihre Spieler, die sie betreuen und die sich für ein Training anmelden können. Ich bin ein Fan von neurozentriertem Training, bei dem das Gehirn auch mit trainiert wird.