Er könnte noch leben. Glücklich und zufrieden, mit einer eigenen Familie, einem auskömmlichen Beruf – und am Wochenende zu Werder Bremen gehen. Ein Glasermeister wäre er womöglich geworden. Ein Kopf in der anonymen Menge, aus der er niemals aufgetaucht wäre. Einer von 82 Millionen.
Der traurigste Tag der Werder-Historie
Niemand außerhalb seines Umfelds hätte etwas mit dem Namen Adrian Maleika anfangen können, wenn er nicht am 16. Oktober 1982 ein Fußballspiel besucht hätte. Den Preis hätte er liebend gern bezahlt, stattdessen bezahlte er mit seinem Leben. Der 16 Jahre alte Glaserlehrling Adrian Maleika verstarb heute vor 42 Jahren. Dies ist seine Geschichte, die Werder Bremen als „mahnendes Beispiel dafür, was sich niemals wiederholen darf“ bezeichnete.
Die Familie Maleika kommt in den Sechziger-Jahren aus Schlesien nach Deutschland. Polnische Aussiedler sagt man im Behördendeutsch dazu. In Bremen lassen sie sich nieder, drei Kinder wachsen hier auf. Zwei Jungs und zum guten Schluss ein Mädchen. Die Jungs entdecken wie so viele in jener vordigitalen Zeit, in der selbst Computer noch etwas für Professoren sind, die Liebe zum Fußball.
Schon früh glühender Werder-Fan
Roland, fünf Jahre älter, und Adrian, treten dem Werder-Fanclub „Die Treuen“ bei und spielen auch selbst Fußball. Adrian gilt als „ein lieber Junge, kein Rockertyp“, wie Werder-Manager Willi Lemke sagen wird, als das Unglück geschehen ist. Die Malaikas wohnen nur zwei Straßen weiter, man kennt sich vom Sehen.
In den frühen Achtzigern ist es nicht ungefährlich, Fußballfan zu sein. In einer Zeit hoher Jugendarbeitslosigkeit (187.000) wächst eine „Null-Bock-Genration“ heran. Viele von ihnen finden sich in den aufkommenden Fanclubs wieder und suchen am Wochenende eine Möglichkeit, Dampf abzulassen. Es kommt an Bahnhöfen, in Innenstädten und im Stadion zu regelrechten Schlachten rivalisierender Fangruppen. Die Anlässe sind meist nichtig, das Tragen der falschen Farben reicht schon.
Dem Hooligan-Problem, von England auf den Kontinent geschwappt, stehen die Vereine und der DFB zunächst ratlos gegenüber. Nur Werder Bremen hat seit 1981 schon ein Fan-Projekt und sechs Wochen vor seinem Tod sitzen die Brüder Maleika im NDR-Studio, um mit anderen Fanclubmitgliedern in der Sendung Buten&Binnen das Pilotprojekt vorzustellen. Da ahnt noch niemand, dass Adrian schon bald wieder im Fernsehen sein wird, nun aber in den Hauptnachrichten – mit Bild und Namen.
Tödlicher Überfall beim Nordderby
Denn am 16. Oktober 1982 geht er mit den Treuen auf Auswärtsfahrt. Das Nordderby beim HSV steht an, diesmal im Pokal. Es ist brisanter als sonst, da sich Werder zur zweiten Kraft im deutschen Fußball hinter Meister HSV aufschwingt. 1982 wird die Bundesliga vom Norden aus regiert.
Allzu viele Bremer treten die Fahrt nicht an, im Sonderzug sollen es rund 200 gewesen sein. Als der Zug auf Gleis 14 am Hamburger Hauptbahnhof eintrifft, wird er schon erwartet. Von der Polizei – und von grölenden HSV-Fans. Bierdosen fliegen. Die Ordnungshüter verhindern tätliche Ausschreitungen, es bleibt bei verbalen. Die Bremer werden zur S-Bahn geleitet, die die Fanmassen in den Volkspark bringt. Man erreicht ihn zu Fuß am besten von der Station Stellingen und da steigen die meisten auch aus. Wieder von Polizei eskortiert.
Eine kleinere Gruppe aber fährt weiter bis Eidelstedt, Adrian ist dabei. Warum sie das taten, wurde nie publik. Waren sie auf Randale aus, gar mit den HSV-Hools verabredet? 40 Jahre später sagt Dirk Mansen (58), damals als HSV-Fan vor Ort und heute Fanbeauftragter des Klubs: „Die Auseinandersetzung ist entstanden, weil beide Seiten sich gesucht haben.“
Roland Maleika, der ältere Bruder, kann und will das nicht glauben – nicht in Bezug auf seinen Bruder, der „immer etwas ängstlich war“, wie er in einer NDR-Doku erzählte. Adrian hatte extra seine Werder-Kutte zu Hause gelassen. Aber sein ziviles Outfit schützt ihn nicht, als sie um 14. 55 Uhr in den Volkspark einbiegen. Er ist ja mitten drin in der Gruppe von Werder-Fans.
Auf dem Weg zum Gästeblock werden sie nun überfallen, buchstäblich auf hinterhältigste Weise. Aus dem Nichts kommen Steine geflogen, es wird mit Leuchtkugeln geschossen und die Cola-Dosen, die durch die Herbstluft fliegen, sind mit Zement gefüllt. Der berüchtigte HSV-Fanclub „Barmbeker Löwen“, rechtsradikal unterwandert und von einem Hitler-Fan geführt, spielt die unrühmliche Hauptrolle in dieser Tragödie, auch Skinheads mischen mit. Adrian flieht in ein Gehölz, doch es liefert keinen Schutz gegen Mauersteine.
Er wird am Kopf getroffen und sackt blutend zu Boden. Der Junge, der nur Fußball sehen wollte, haucht sein Leben aus unter den Tritten enthemmter Hooligans. Sie hätten ihn leben lassen können, wie es die Hooliganehre verlangt. Wer am Boden liegt, ist doch besiegt. Den Steinwurf in ein Gebüsch hätten pfiffige Anwälte schon irgendwie relativieren können, es wäre ja erst mal zu beweisen gewesen, dass der Werfer wusste, dass sich da hinter einer versteckt.
Ein feiger Mord - Maleika verstirbt im Krankenhaus
Noch 30 Jahre später sprach der neue Fanclub-Chef der „Löwen“ dreist von „einem Unfall“. Wie aber passt das mit den Stiefeltritten und den blauen Flecken im Gesicht und am Oberkörper zusammen? Es gab nicht die eine Tat und nicht den einen Täter – das war das Glück der Angeklagten.
Aber feiger Mord war es doch.
Als die Polizei nach 20 Minuten die Szenerie endlich betritt, wird Adrian von einem Beamten gefunden. Rettungskräfte bringen ihn ins Altonaer Krankenhaus. Die Eltern werden alarmiert und kommen sofort. Bruder Roland, der seine neue Freundin und spätere Frau auf ein Badmintonturnier nach Langen bei Bremerhaven begleitet hat, sieht Adrian nie mehr lebend und macht sich darüber „mein Leben lang Vorwürfe. Ich hätte doch auf ihn aufpassen müssen, ich war doch sein älterer Bruder.“
Die Ärzte schicken die Eltern am späten Samstagabend wieder nach Hause mit der Auskunft, es könne länger dauern, bis ihr Sohn wieder aufwache. Nachts um drei klingelt dann das Telefon und die Klinik informiert sie, dass Adrian verstorben ist. Todesursache: Schädelbasisbruch und Gehirnblutungen.
Lemke: „schlimmster Tag meiner Amtszeit“
Die Bundesliga hat ihren ersten Todesfall durch Fangewalt, zuvor hatte es nur Herzinfarkte gegeben. Die Nation ist erschüttert, die Medien stürzen sich auf das Phänomen Fangewalt.
Das Haus der Maleikas wird von Reportern belagert, als wäre alles nicht schon schlimm genug. Doch in einem solchen Fall kann wohl keiner mit seiner Trauer allein sein.
Am 21. Oktober wird Adrian beerdigt, 600 Trauergäste geben ihm die letzte Ehre, darunter HSV-Manager Günter Netzer. Kollege Lemke spricht „vom schlimmsten Tag meiner Amtszeit“.
Juristische Aufarbeitung scheitert
Alle quält die Frage: Wer sind die Täter? Die Polizei verhaftet noch am Spieltag vier mit Gaspistolen, Leuchtmunition und Gassprühdosen bewaffnete Jugendliche. HSV-Präsident Dr. Wolfgang Klein ruft die Fans dazu auf, bei der Tätersuche zu helfen.
Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf die Löwen. Am 18. November stürmt ein Polizei-SEK das Klubhaus und nimmt 31 Mitglieder, die gerade eine Party feiern, fest. 16 werden als verdächtig ausgemacht. Im Dezember 1982 kommt es auf Betreiben der Vereine zum „Frieden von Scheeßel“, 200 Fans beider Lager schließen sozusagen Waffenstillstand.
Bis zur juristischen Aufarbeitung vergeht ein Jahr, im Dezember 1983 treten acht Angeklagte vor die Schranken des Landgerichts – laut Lokalpresse „alles Chancenlose und Gescheiterte“. Alle beteuern ihre Unschuld.
Drei von ihnen werden Straftaten nachgewiesen, von Landfriedensbruch ist die Rede. Nur einer muss für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Hitler-Fan Bernd B. erhält eine Bewährungsstrafe, eine Frau muss ein paar Arbeitsstunden absolvieren. Der Fall Maleika wird zu den Akten gelegt. Das Gedenken fällt unterschiedlich aus in den beiden Hanse-Städten.
Problematische Erinnerung
In Bremen organisieren sie ein „Adrian-Maleika-Gedächtnisturnier“, 2004 wird es eingestellt, denn die Angehörigen hatten ihre Probleme damit. So gut es gemeint war, die Wunde hat sich nie geschlossen, sagt Bruder Roland bis heute. 2013 bringen sie im Weser-Stadion eine Gedenktafel an.
Und in Hamburg? Noch 2003 kommt es beim Nord-Derby zu Schmähgesängen der Art: „Maleika, Maleika, die Steine fliegen weiter.“ Heute gibt es sie nicht mehr, beteuert Dirk Mansen. Aber noch immer ist das Nordderby ein Hochrisikospiel, auch wenn es derzeit seltener stattfindet.
Der HSV hat als Verein keine Schuld abzutragen, will aber Verantwortung übernehmen. Sein vom DFB ausgezeichnetes Erinnerungsnetzwerk hat den Fall Maleika wieder auf den Tisch gebracht. Und so weihen sie heute eine Gedenktafel am Tatort ein. Sie gedenken einem Jungen, der nur ein Fußballspiel sehen wollte und sein Leben noch vor sich hatte.