„Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn! Was soll ich sonst sagen.“
Wie Union seine Gegner verzweifeln lässt
Urs Fischer fehlten die Worte. Sein Team hatte soeben auch Borussia Dortmund mit 2:0 geschlagen und den dritten Pflichtspielsieg in Folge eingefahren. Für die Berliner bedeutet der Erfolg, dass sie weiter die Tabellenführung genießen dürfen, die längst kein Ausreißer mehr nach oben zu sein scheint.
Seit dem sechsten Spieltag grüßen die Köpenicker von der Spitze der Tabelle, haben nach dem 5:0-Erfolg der Bayern gegen Freiburg mittlerweile vier Punkte Vorsprung auf den Tabellenzweiten, der jetzt aus München kommt. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
Dabei wirkt es, als sei der Union-Fußball recht einfach und leicht zu durchschauen. Trotzdem erwischte es den BVB, der sich einmal mehr im Stadion an der Alten Försterei geschlagen geben musste. Edin Terzic fasste das Phänomen Union nach dem Spiel kurz zusammen: „Jeder weiß, was sie tun - und keiner kann es verhindern.“ Für ihn galt, wie wenige Wochen zuvor schon für Bayern-Coach Julian Nagelsmann: Alles Vorwissen half nichts.
Union-Philosophie lässt Gegner verzweifeln
Auch der Spielverlauf spielte den Eisernen natürlich in die Karten, schließlich ging Union nach einem folgenschweren Patzer von BVB-Keeper Gregor Kobel bereits früh durch Janik Haberer in Führung (8.). Was folgte, kann man als Grundprinzip der Union-Philosophie bezeichnen: Dichte Abwehrketten, körperbetonte Zweikämpfe und das Lauern auf Konter.
Kaum ein Team ist nach einer Führung schwerer zu knacken als die Berliner. Lediglich beim 1:1 gegen den FC Bayern brachten die Eisernen eine eigene Führung nicht über die Zeit, ansonsten bedeutete eine Union-Führung gleichzeitig immer auch einen Sieg. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
Auch gegen den BVB brachte der Tabellenführer sein Spiel durch, erhöhte in der 21. Minute durch Haberer und ließ im Anschluss wenig anbrennen. Auffällig: In der Bundesliga tun sich die Köpenicker oft einfacher als in der Europa League, in der sie nach vier Spielen mit sechs Punkten nur auf Platz drei liegen.
Im Gegensatz zur Bundesliga muss Union Berlin in der Europa League oft mit der Rolle des Favoriten umgehen. Dazu gehört auch, dass die Berliner meist den Ball haben und das Spiel diktieren müssen. Der auf Konter lauernde und ausgerichtete Union-Fußball kommt dann natürlich weniger zur Geltung, weshalb die Köpenicker auch um den Einzug in die K.o.-Runde bangen müssen.
In der Bundesliga fühlen sich die Berliner hingegen pudelwohl. Sie können ihrem Gegner den Ball überlassen und diese das Spiel machen lassen, um dann auf schnelle Ballgewinne zu setzen und mit einfachen, schnörkellosen Pässen in die Spitze Torchancen zu kreieren. Auch gegen den BVB funktionierte die Spielidee von Trainer Fischer über die volle Distanz, seine Spieler zermürbten jegliche Angriffe der Schwarz-Gelben und liefen dabei - wie fast in jedem Bundesligaspiel - mehr als der Gegner.
Auch der Tiefstwert von nur 21 Prozent Ballbesitz brachte die Berliner nicht aus dem Konzept, konnte der BVB doch immer wieder neu anlaufen, um am Ende von Abwehrchef Robin Knoche und seinen Nebenleuten gestoppt zu werden.
Parallelen zwischen Union und Leicester City
Dass Union auch nach dem zehnten Spieltag deutlich an der Tabellenspitze steht, hat nicht nur mit dem Schwächeln der namhaften Konkurrenz zu tun. Die Eisernen haben von zehn Spielen sieben gewonnen, nur eines verloren. Dabei kassierten die Berliner nur sechs Gegentore, weniger als alle anderen.
Kann Union seinen Lauf konstant fortsetzen und am Ende tatsächlich Überraschungsmeister werden? Gladbach-Trainer Daniel Farke traut den Berlinern viel zu und erinnert an ein Beispiel aus England:
„Im Fußball ist alles möglich. Wir haben auch in Deutschland Situationen erlebt, wo Kaiserslautern nach dem Aufstieg Meister geworden ist. In England ist es noch gar nicht so lange her, dass Leicester kurz nach dem Aufstieg Meister geworden ist.“
Es sei in diesen Zeiten alles aber ein bisschen unrealistischer als vor 20, 30 Jahren, weil sich die Machtverhältnisse geändert hätten. (...). „Es ist vielleicht nicht realistisch, aber wir spielen Fußball, um auch mal unrealistische Dinge möglich zu machen“, erklärte Farke auf der Pressekonferenz vor dem Pokalspiel der Gladbacher bei Darmstadt 98.
Die von Farke angesprochenen Engländer stiegen 2009 aus der Drittklassigkeit auf, feierten 2014 den Aufstieg in die Premier League und wurden nur zwei Jahre später sensationell Meister. Union schaffte ebenfalls 2009 den Sprung in die zweite Liga, wo der Klub zehn Jahre lang verharrte. 2019 setzten sich die Berliner in der Relegation gegen den VfB Stuttgart durch, seitdem konnte sich der Klub von Jahr zu Jahr steigern.
Nach Platz elf, Platz sieben und zuletzt Platz fünf stehen die Berliner nun ganz oben - und könnten nach dem 1. FC Kaiserslautern 1998 und dem VfL Wolfsburg 2009 den nächsten Sensationsmeister stellen.
Leicester City schaffte das Kunststück bereits im zweiten Premier League-Jahr, hatte aber auch gänzlich andere Voraussetzungen wie die Eisernen: „Die Wege ähneln sich, aber in Leicester wurde schon in der 2. Liga durch den Besitzer kräftig investiert. Die Erfolgsgeschichte von Union ist noch mehr hausgemacht“, erklärte Sky-Experte Didi Hamann, der 2011 Co-Trainer bei den Foxes war, bei Bild.
Klare Kaderstrukturen als „Basis für den Erfolg“
Wie auch Leicester in der Saison 2015/16 verfügt Union über einen gut besetzten Kader. In Kasper Schmeichel hatten die Engländer einen starken Rückhalt, mit Robert Huth und Wes Morgan zwei Abwehrkanten in der Innenverteidigung. Zudem war das Team gespickt mit individuellen Stars wie Riyad Mahrez oder Jamie Vardy, die für die Foxes Tore am Laufband lieferten. Und dann wäre da noch Mittelfeldmotor N‘Golo Kanté, der den Takt im Zentrum vorgab.
Auch Union besitzt mit Frederik Rönnow und Robin Knoche einen zuverlässigen Torhüter und einen tadellosen Abwehrchef, zudem in Sheraldo Becker einen hochtalentierten Offensivstar, der in dieser Saison sowohl als Torschütze als auch Vorlagengeber brilliert.
Das Mittelfeldgerüst um Rani Khedira und den vom SC Freiburg neuverpflichteten Haberer scheint perfekt aufeinander abgestimmt. „Beide Kader haben eine klare Struktur, alle Spieler kennen ihre Aufgaben. Das ist die Basis für den Erfolg. Ich erkenne da klare Parallelen“, ergänzt Hamann.
Zum Phänomen Union gehört auch, dass jede Woche andere Spieler herausragen und keiner so dominant ist, dass er nicht zu ersetzen wäre. Fischer nimmt zwischen den Europapokal- und Bundesliga-Spielen immer mal wieder Wechsel vor, um Regenerationspausen im eng getakteten Terminkalender zu gewähren.
Schwächephasen der Konkurrenz helfen Union
Wie auch Leicester City 2016 profitiert Union derzeit von Schwächephasen der Konkurrenz. Die Bayern holten aus den letzten sieben Bundesligaspielen lediglich zwei Siege, die Konkurrenz aus Dortmund und Leipzig sucht seit Wochen vergebens nach Konstanz. Auch Bayer Leverkusen hat derzeit ganz andere Probleme, als sich mit der Tabellenspitze zu befassen.
Leicester City erlebte ein ähnliches Szenario. Meister Chelsea enttäuschte auf ganzer Linie und belegte am Ende nur Platz zehn. Auch Manchester City, 2015 noch Zweiter, konnte aus den direkten Duellen mit den Foxes nur einen Punkt ergattern und belegte am Ende Platz vier. Leicesters stärkster Kontrahent Arsenal hatte am Ende der Saison satte zehn Punkte Rückstand auf den Überraschungsmeister.
Ob es die Eisernen Leicester City gleichtun können, hängt auch vom FC Bayern ab. In Berlin kann man nicht von einer Beibehaltung des aktuellen Schnitts von 2,3 Punkten pro Partie ausgehen. Zumal bei einem Überwintern in einem europäischen Wettbewerb (der Gruppendritte der Europa League rutscht in die Conference League) auch nach der WM eine Dreifachbelastung weiter möglich ist.
Vielmehr sollten die Fans der Köpenicker darauf hoffen, dass die Bayern hin und wieder Punkte liegenlassen - wie beispielsweise schon am nächsten Wochenende beim Tabellenvierten TSG Hoffenheim. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
Union gastiert am Sonntag beim Tabellenletzten VfL Bochum und kann bei weiteren Patzern der Konkurrenz seinen Vorsprung ausbauen - dann wohl in der ungewohnten Rolle des Favoriten.