In einer Bundesliga-Chronik von 2003 findet sich ein Beitrag von Michael Kutzop und die Überschrift lautet: „Ich verschoss den berühmtesten Elfmeter der Liga-Geschichte.“
Diesen Fehlschuss wird Kutzop nie vergessen
Das gilt 20 Jahre später noch und wenn sie 100 wird, dann wohl auch. Denn eine größere Zuspitzung der Ereignisse ist kaum denkbar. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
So bleibt es dabei: Nie hat es einen wichtigeren Elfmeter in der Bundesliga gegeben als am 22. April 1986.
Kutzop schießt ihn danach noch öfters - in seinen Träumen, wie er bereits 1993 zugibt.
Die Erinnerung an diesen Tag hat den damaligen Werder-Profi schon so oft eingeholt, dass er sie stoisch erträgt wie andere den Heuschnupfen im Frühling.
Rudi Völler ist wegen Kutzops Fehlschuss nie Deutscher Meister geworden
„Ich stehe da mittlerweile drüber, wirklich. Am Anfang war es schwieriger“, sagte der damalige Libero des SV Werder Bremen, der nach der Karriere Rudi Völlers Fußball-Schule auf Mallorca leitete.
Der Weltmeister und Champions-League-Gewinner, ist sein Freund geblieben, obwohl er schuld daran ist, dass Völler nie Meister wurde - stattdessen wieder mal die Bayern triumphierten.
Man muss sich das noch einmal vergegenwärtigen: 152 Bundesliga-Einsätze bis zum Rücktritt 1990, 28 Tore, darunter 17 Elfmeter - Kutzop war einer der sichersten Strafstoßschützen.
Er hat in der Bundesliga immer vom Punkt getroffen. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
Warum bloß nicht an jenem Dienstagabend im Weserstadion, als der Spielplan Werder und den FC Bayern zu einem echten Endspiel um den Titel zusammenführte?
Mit einem Sieg gegen Bayern wäre Werder Meister
Mit einem Sieg wäre Bremen, das zwei Punkte Vorsprung hatte, Meister geworden. Aber in dem hin- und herwogenden Spiel wollen einfach keine Tore fallen.
Die Torhüter Jean-Marie Pfaff (Bayern) und Dieter Burdenski halten prächtig, wobei der Belgier mehr zu tun bekommt.
Werder will die Entscheidung im eigenen Stadion. Unter dem Beifall der Massen wechselt Otto Rehhagel nach 77 Minuten Rudi Völler ein.
Im Hinspiel wurde er von Klaus Augenthaler verletzt, 64 Tage nach seiner Leistenoperation feiert er sein Comeback und spielt gleich eine Hauptrolle. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
Die 88. Minute: Völler kommt über rechts und will den Ball über Sören Lerby lupfen. Der Däne streckt die Arme instinktiv nach vorne, weil er den Ball nicht ins Gesicht bekommen will.
Kutzop: „Vielleicht habe ich da zu viel Zeit gehabt, nachzudenken“
Aber genau das passiert. Für Schiedsrichter Volker Roth sieht es, auch nach Betrachtung der TV-Bilder, nach einem Handspiel aus.
Elfmeter - sicherlich keine glückliche Entscheidung. Die Bayern rasten aus und bestürmen Roth. Das Spiel ist unterbrochen, denn „der Ball war erst mal weg“, erinnert sich Kutzop.
Bayerns Co-Trainer Egon Coordes entsorgt das Spielgerät, ob aus Wut oder mit Absicht, mit einem Tritt - und einen zweiten Ball gibt es in diesen Tagen des Fußballs auf die Schnelle nicht.
„Vielleicht habe ich da zu viel Zeit gehabt, nachzudenken“, räsoniert Kutzop. Bayern-Spieler kommen zu ihm, flüstern ihm so einiges ins Ohr, was er bis heute nicht preisgeben will.
Die Angst vor dem Fehlschuss, der doch der Meister-Schuss werden soll, frisst die Seele auf. Pfaff lässt sich derweil von Bayern-Trainer Udo Lattek beraten, möglichst lange stehen zu bleiben.
Bremens sicherster Elfmeterschütze verschießt
Endlich wird der Ball gefunden, nach zwei Minuten und acht Sekunden. Schleppend läuft Kutzop an, verzögert, schickt Pfaff in die falsche Ecke - und trifft doch nur den Außenpfosten.
„Dieses Scheißgeräusch vergesse ich nie“, sagt Kutzop. So bleibt es beim 0:0, die Münchner liegen sich in den Armen ob der unverhofften Chance, noch Meister zu werden am letzten Spieltag.
Elf Flaschen Schampus, die im Kabinengang für die Bremer parat standen, bleiben ungeköpft. Es wird nur Frustbier getrunken.
Kutzop nimmt den ersten Schluck an der Weser, als eine Mitarbeiterin von SAT1 dem die Einsamkeit suchenden Fehlschützen eine Flasche vorbeibringt. Es ist eine Geste ohne Worte, denn „wir haben nur geschwiegen“.
Danach sitzt er gemeinsam mit Freunden bei Völlers, dessen erste Ehefrau Angela hat was Leckeres gekocht - doch Kutzop bekommt nichts runter.
FC Bayern schnappt Werder noch den Titel weg
„Keiner hat mir einen Vorwurf gemacht, erst später haben einige geflachst, ich hätte sie um eine Eigentumswohnung gebracht. Und der Rudi hat mir später oft gesagt: Alles habe ich gewonnen, nur nie die deutsche Meisterschaft, nur wegen dir.“
Der Titel nämlich geht an die Bayern, die dank Bremens 1:2 in Stuttgart vier Tage später noch vorbeiziehen.
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Ganz ungeschoren ließ ihn Völler nicht davonkommen: Wenn ein neuer Kurs von Fußball-Schülern in Cala Millor begrüßt wurde, sahen die Kinder zum Anfang immer ein Video über Völlers Werdegang, es enthielt auch den ominösen Elfmeter.
Aber wie gesagt: Er steht längst drüber: „Wenn ich verwandelt hätte, wäre ich zwar zwei Mal Meister geworden. Aber heute würde mich doch keine Sau mehr kennen.“
1986 ist die neue Popularität noch lästig, wegen all der nächtlichen Anrufer, die sich entweder über den Fehlschuss beschweren oder noch mal bedanken wollen, ließ er seine Telefonnummer ändern.
Rehhagels Worte an Kutzop werden wahr
Aber das Schicksal meinte es doch noch gut mit ihm. Otto Rehhagel hatte es schon gewusst, als er ihn ein paar Tage nach Saisonende bei der Asien-Reise zur Seite nahm: „Michael, es gibt einen Fußball-Gott. Wenn Sie weiter hart an sich arbeiten, wird er Sie belohnen.“
1988 wurde Kutzop mit Werder doch noch Meister und glaubt seitdem an den Fußball-Gott. Rudi Völler war da leider schon in Italien…
Jede gute Geschichte braucht eine Schlusspointe: Wenn Kutzop getroffen hätte, hätte Roth den Elfmeter wiederholen lassen, da der Bremer beim Anlaufen kurz stehen geblieben war…