Raphael Guerreiro gehört zu den dienstältesten BVB-Spielern. Seit Juli 2016 kickt der Portugiese, der in Frankreich geboren wurde und dort auch aufwuchs, nun schon in Dortmund. In dieser Zeit bestritt er für die Schwarzgelben 177 Pflichtspiele und war an 66 Treffer (32 Tore und 34 Assists) direkt beteiligt. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
So denkt Guerreiro über Reus‘ Kritik
Im exklusiven SPORT1-Interview, das auf Französisch geführt wurde, spricht der 28 Jahre alte Europameister von 2016 über die großen Abwehrprobleme, die Philosophie von Trainer Marco Rose, Ex-Coach Thomas Tuchel, seine Idole und seine Zukunft.
Guerreiro: „Möchte nur kicken“
SPORT1: Beim BVB gibt es mit Ihnen, Axel Witsel, Thomas Meunier, Thorgan Hazard und Dan-Axel Zagadou eine „French Connection“. Wie ist Ihr Verhältnis untereinander?
Guerreiro: Die Jungs sind sehr wichtig für mich. Es ist schön für mich, dass wir so viele französisch-sprachige Spieler im Kader haben. Zu unserer Gruppe gehören auch Manuel Akanji und Roman Bürki. Wir sitzen in der Kabine alle nebeneinander, sind oft zusammen, unternehmen viele Dinge und haben einfach sehr viel Spaß. Das heißt aber nicht, dass wir keine Dinge mit Spielern unternehmen, die Deutsch oder Englisch sprechen. Das ist insgesamt sehr harmonisch.
SPORT1: Ist Französisch demnach auch die Hauptsprache in der BVB-Kabine?
Guerreiro: Nein, das ist tatsächlich Englisch. Als ich vor sechs Jahren zum BVB gekommen bin, war das noch Deutsch. Mittlerweile sprechen wir – weil viele ausländische Spieler dazugekommen sind – hauptsächlich Englisch. In kleineren Gruppen benutzen wir dann unsere eigenen Sprachen. Und natürlich wird auch viel Deutsch gesprochen. Es ist ein Mix.
SPORT1: Es macht den Anschein, als stünden Sie nicht so gerne im Mittelpunkt. Zumindest sind Sie nach außen eher der ruhige Typ. Sie geben auch nicht oft Interviews. Wieso?
Guerreiro: Ich spreche nicht so oft in den Medien und das ist bewusst so gewählt. Ich möchte einfach nur kicken und stehe hinterher nicht so gerne im Mittelpunkt. In der Kabine bin ich dagegen deutlich aktiver. Ich kann schon mal laut werden und ergreife hin und wieder das Wort.
SPORT1: Innerhalb der Mannschaft, so ist uns zu Ohren gekommen, sollen Sie sogar der Klassenclown sein. Mahmoud Dahoud hat mal gesagt, dass Ihre Frau zuhause vier Kinder hat.
Guerreiro: Mich eingeschlossen, ja (lacht). Ich mache einfach gerne Späße. Aber ich bin sicher nicht der Klassenclown.
SPORT1: Sie haben mal verraten, dass sich Ihre Frau wundert, wenn Teamkollegen Geschichten über Sie aus der Kabine erzählen. In der Team-WhatsApp-Gruppe sind Sie für lustige Sprüche bekannt. Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Guerreiro: Das stimmt, ich lockere die Stimmung gerne mal auf. Vor etwa einem Jahr waren wir bei einem Auswärtsspiel in der Champions League in Sevilla. Es gab ein Unwetter mit viel Wind und Regen. Unser Flug hatte daher Verspätung. Wir saßen aber alle schon im Flieger und mussten warten. Die Stimmung war bei manchen Kollegen recht angespannt. Ich habe daraufhin ein GIF in die Gruppe gestellt mit einem Flugzeug, das gehörig wackelt. Das sorgte für viele Lacher und am Ende auch für etwas Entspannung. Ich schreibe gerne Blödsinn in die Gruppe. Dabei darf man nicht alles zu ernst nehmen.
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SPORT1: Wie ist es mittlerweile um Ihr Deutsch bestellt?
Guerreiro: Nach mehr als fünf Jahren beim BVB verstehe ich eigentlich alles, aber ich antworte meist noch auf Englisch. Das ist einfacher für mich. Mit meiner Frau rede ich zuhause sogar manchmal Deutsch. Es fällt mir persönlich aber immer noch recht schwer. Es ist aber schon deutlich besser geworden.
Guerreiro: „Ist ein Prozess“
SPORT1: Kommen wir zum Fußball: Wie erklären Sie sich das 2:5-Debakel gegen Leverkusen?
Guerreiro: Es war schwer für mich, nach diesem Spiel einzuschlafen. So ging es, glaube ich, allen. Es hat mich ein bisschen an das 1:5 gegen Stuttgart erinnert. Die Höhe der Niederlage war komplett verdient. Wir waren an diesem Tag ganz schlecht. Unser Spiel mit Ball war schlecht, es gab quasi keins, wir hatten keinen richtigen Spielaufbau, waren nicht beweglich genug und haben schwach verteidigt. Leverkusen war mit Wirtz und Diaby einfach gnadenlos. Sie haben ihre Räume und Chancen genutzt. Dieses Spiel müssen wir schnell vergessen und abhaken.
SPORT1: Von den Fans gab es danach laute Pfiffe.
Guerreiro: Wir haben als Borussia Dortmund fünf Gegentreffer zuhause bekommen. Das haben wir an diesem Tag leider verdient.
SPORT1: Ihr Kapitän, Marco Reus, hat vor einigen Wochen mal gesagt: „Wir sind eine Mannschaft, die nicht verteidigen kann!“ Geben Sie ihm recht?
Guerreiro: Wir haben beim gemeinsamen Verteidigen in der Tat Probleme. Die Länderspielpause haben wir genutzt, um genau diesen Aspekt intensiv zu trainieren. Und dann geben wir so ein Bild ab. Wir wollen offensiv nach vorne spielen und lassen dem Gegner dabei oft zu viele Räume. Wir kassieren zu viele Gegentore, gehen nicht konsequent genug in die Zweikämpfe. Das fängt vorne an und hört hinten auf. Da nehme ich mich natürlich nicht aus. Das wichtigste ist, dass wir immer noch Zweiter sind in der Tabelle. Wenn wir unsere Abwehrprobleme endlich konstant in den Griff bekommen, dann ist viel mehr möglich für uns. Das ist ein Prozess, und er dauert noch an.
SPORT1: Wie erklären Sie sich die vielen Aufs und Abs in dieser Saison?
Guerreiro: Wir machen tolle Spiele wie gegen Freiburg, dann verlieren wir hoch wie in Amsterdam oder jetzt gegen Bayer – das ist ernüchternd. Wir nehmen uns in jedem Spiel viel vor und sind super vorbereitet. Wenn wir gut drauf sind, können wir uns in einen Rausch spielen, wenn wir schlecht drauf sind, kann das aber genauso gut nach hinten losgehen. Wir arbeiten aber hart dran, um das in den Griff zu bekommen. Das kann ich Ihnen versprechen.
SPORT1: Hat der BVB ein Kopfproblem?
Guerreiro: Das glaube ich nicht. Wir sind mental schon auf der Höhe. Wir müssen noch mehr kommunizieren und besser miteinander spielen. Wir können am Sonntag gegen Union die richtige Antwort zeigen, damit wieder ein wenig Ruhe einkehrt und wir an unseren Defiziten arbeiten können.
SPORT1: Ist der Druck, der Bayern-Jäger Nummer eins sein zu müssen, vielleicht zu groß für die Mannschaft? (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
Guerreiro: Es wäre gut, wenn wir mehr auf uns schauen und nicht immer von den Bayern reden oder uns medial in dieses Thema treiben lassen. Sie haben einfach einen Kader mit mehr Tiefe, so ehrlich muss man sein. Sie sind wirtschaftlich viel stärker als alle anderen. Diese Vergleiche ergeben deshalb wenig Sinn. Wir versuchen alles, um den Abstand zu verringern. Aber dass das angesichts der großen Unterschiede keine Selbstverständlichkeit ist, sollte allen klar sein.
SPORT1: In dieser Saison können Sie sich den Titel bei neun Punkten Rückstand wohl abschminken.
Guerreiro: Ich hake gar nichts ab. Ich persönlich verliere nie den Glauben. Aber es bringt nichts, wenn wir reden. Dadurch bekommen wir keinen einzigen Punkt mehr.
SPORT1: Im DFB-Pokal ist der BVB im Achtelfinale rausgeflogen, in der Champions League schon in der Vorrunde. Ist der Europa-League-Titel nun das größte Ziel?
Guerreiro: Wir wollen diesen Titel unbedingt holen, auch wenn viele starke Teams dabei sind. Die Saison wie im vergangenen Jahr wieder mit einer Trophäe zu beenden, das ist unser größtes Ziel. Unser Aus in der Champions League war natürlich enttäuschend. Wir sind nun in der Europa League und nehmen den Wettbewerb an. Wir haben richtig Bock drauf und werden das absolut seriös angehen.
Guerreiro freut sich auf Süle
SPORT1: Marco Rose setzt auf ein hohes Gegenpressing. Wieso funktioniert das noch nicht so gut?
Guerreiro: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Seine Ideen sind sehr gut, er bereitet uns auf jedes Spiel top vor. Ich glaube, dass es einfach ein bisschen Zeit braucht, bis wir seine Spielphilosophie verinnerlicht haben. Hinzu kommt, dass sich auch die Gegner immer besser auf unser Spiel einstellen. Der Coach möchte dieses hohe Gegenpressing mit uns spielen. Er ist total überzeugt davon, und wir sind es auch. Ich bin sicher, dass wir seine Idee bald schon richtig umsetzen werden.
SPORT1: In Niklas Süle hat der BVB schon jetzt einen Top-Mann für die Abwehr verpflichtet. Wie denken Sie über den Transfer?
Guerreiro: Ich freue mich sehr darauf, dass Niklas Süle ab Sommer unsere Abwehr verstärken wird. Mit seiner Erfahrung wird er uns sicher guttun. Bis Sommer sind wir aber noch Konkurrenten. Ich hoffe, dass wir ihn im nächsten direkten Duell schlagen. Aus Respekt vor Bayern, dort ist er ja noch Spieler, möchte ich nichts weiter dazu sagen.
SPORT1: Die Zukunft von Akanji und Zagadou ist offen. Wünschen Sie sich, dass beide verlängern?
Guerreiro: Na klar! Manu und Daxo sind zwei Eckpfeiler, die schon lange dabei sind. Sie müssen am Ende für sich entscheiden, was sie wollen. Ich hoffe sehr für unsere Gruppe, dass sie uns erhalten bleiben.
SPORT1: Sehen Sie sich eigentlich als klassischen Linksverteidiger oder lieber weiter vorne im Mittelfeld? Thomas Meunier hat kürzlich erst gesagt, dass er Sie gerne weiter vorne im Mittelfeld oder gar im Zentrum sehen würde.
Guerreiro: Im linken Mittelfeld fühle ich mich am wohlsten, das ist kein Geheimnis. Dort kann ich mein Potenzial voll ausschöpfen und mehr Einfluss auf das Spiel nehmen. Ich liebe es, wenn ich jemanden wie zum Beispiel Jadon Sancho vor mir habe. Mit ihm habe ich in den vergangenen Jahren sehr gut harmoniert. Das Zusammenspiel hat Spaß gemacht. Ich musste mich – seitdem er weg ist – neu anpassen und meine Spielweise ändern.
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SPORT1: Wünschen Sie sich die Dreierkette zurück?
Guerreiro: Für eine Dreierkette braucht es sehr viel Bewegung, viele Seitenverlagerungen, damit wir über die Flügel gefährlich sind. Eine Dreierkette kann den Unterschied ausmachen und daher immer eine Option sein. Aber ganz ehrlich: Das entscheidet alleine der Trainer.
SPORT1: Unter Thomas Tuchel haben Sie in einer Dreierkette vorne links gespielt, mitunter sogar im zentralen Mittelfeld. Sie werden oft als Lieblingsschüler von Tuchel bezeichnet. Wie blicken Sie auf Ihre Zeit unter dem heutigen Chelsea-Coach zurück?
Guerreiro: Ich hatte meine bisher beste Zeit beim BVB unter ihm, das ist völlig klar. Ich habe einige Treffer erzielt und Vorlagen gegeben. Das ist auch ein Grund, wieso meine Lieblingsposition links im Mittelfeld ist.
SPORT1: Tuchel wurde jüngst zum Welttrainer gekürt. Verdient?
Guerreiro: Für mich ist die Wahl keine große Überraschung, denn ich weiß, was er als Trainer kann. Er hat mit Chelsea die Champions League geholt und sie sportlich auf ein neues Level gehoben.
SPORT1: Stimmt es eigentlich, dass Rui Costa ihr großes Idol war?
Guerreiro: Ich habe seine Spielweise immer geliebt. Er war ein genialer Fußballer, von dem ich mir viel abgeschaut habe. Mein Idol war aber immer schon Cristiano Ronaldo. Es ist eine große Ehre, dass ich mit ihm in der Nationalmannschaft spielen darf. Ich mochte aber auch Fabio Coentrao, der wie ich auch Linksverteidiger war.
SPORT1: Wer sind für Sie aktuell die besten Linksverteidiger?
Guerreiro: Andrew Robertson von Liverpool und Alphonso Davies von den Bayern sind echt stark. Davies ist körperlich robust und technisch sehr versiert.
SPORT1: Sie haben vorhin von Cristiano Ronaldo gesprochen. Wie ist er in der Kabine?
Guerreiro: Er ist nett, sehr zugänglich und hat immer ein offenes Ohr für seine Mitspieler. Er hilft allen. Es ist ein Genuss, ihn als Mitspieler zu haben. Er ist ein wahrer Champion.
SPORT1: Kürzlich wurde Ronaldo 37 Jahre alt. Könnte die WM in Katar das letzte Turnier für ihn sein?
Guerreiro: Erstmal müssen wir uns für dieses Turnier qualifizieren. Wir spielen Ende März in den WM-Playoffs. Dort werden wir hoffentlich das Ticket lösen. Nach Katar steht die EM 2024 in Deutschland an – und ich sehe gute Chancen, dass er da noch dabei ist. Cristiano hat angekündigt, dass er gerne noch mit 42 auf allerhöchstem Niveau spielen möchte. Wenn er das sagt, dann muss man ihn ernstnehmen. Es ist beeindruckend, wie er seinen Körper hegt und pflegt. Ich kann mir gut vorstellen, dass er noch lange spielt.
Guerreiro: „Fühle mich pudelwohl“
SPORT1: 2023 läuft Ihr Vertrag beim BVB aus. Werden Sie verlängern?
Guerreiro: Die Verantwortlichen und ich werden zu gegebener Zeit miteinander sprechen. Das ist bislang noch nicht passiert. Es gab nur lose Gespräche, aber noch nichts Konkretes. Ich wäre auf jeden Fall bereit, denn ich fühle mich hier sehr wohl.
SPORT1: Also würden Sie gerne bleiben?
Guerreiro: Ich liebe diesen Verein sehr, das weiß jeder. Aber wir müssen uns am Ende einigen. Der neue Vertrag wird natürlich wichtig für mich sein, so viele werde ich auch nicht mehr unterschreiben. Es muss also alles passen. Ich will mich jetzt auf die restlichen Spiele in dieser Saison fokussieren. Ich sehe keine Eile. Meine Vertragssituation hat keine Priorität. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
SPORT1: Ihre Ex-Kollegen wie Hakimi, Dembélé, Aubameyang oder Sancho haben den BVB verlassen. Wieso sind Sie dem Verein bis heute treu geblieben?
Guerreiro: Ich hatte in der Vergangenheit auch die Möglichkeit zu wechseln. Aber ich stehe auf Stabilität. Wenn ich mich in einem Verein wohlfühle, und das ist beim BVB absolut der Fall, dann bleibe ich gerne. Dortmund ist in meinen Augen ein großer Klub. Ich habe hier eine wichtige Rolle und bin Stammspieler. Bei einem neuen Verein müsste ich mich komplett neu beweisen. Wenn ich nicht spiele, fühle ich mich nicht wohl. Beim BVB fühle ich mich pudelwohl. Wenn ein anderer großer Verein kommt, denke ich natürlich nach. Aber ich sehe meine Zukunft aktuell in Dortmund - und nicht woanders!
SPORT1: Lucien Favre hat Sie im Herbst 2018 mal wegen ihrer Körpergröße von 1,70 Meter nicht gegen die Bayern spielen lassen. Wie haben Sie das damals aufgenommen?
Guerreiro: Er hat mich nach einer Teambesprechung zur Seite geholt und gesagt: „Rapha, du spielst heute nicht, weil du nicht groß genug bist.“ Es war ein taktischer Grund. Wir haben trotzdem zwei Gegentore nach Standards bekommen. Ich musste damals schon ein wenig schlucken, schließlich kann ich mich ja nicht größer machen als ich bin. Ich habe das akzeptiert. Mittlerweile kann ich drüber schmunzeln.
SPORT1: Raphael Guerreiro, was wollen Sie nach der Profi-Karriere eigentlich machen?
Guerreiro: Ich habe noch keine konkreten Ideen. Klar ist: Ich werde sicher nicht im Fußball als Trainer, Sportchef oder Scout arbeiten. Ich liebe den Fußball, das reine Spiel, und werde sicher mit Freunden in einer Amateurliga kicken. Aber sonst werde ich mich nach meiner Karriere aus dem Fußballgeschäft zurückziehen. Für die Zeit nach meiner Karriere wird mir das alles zu laut, zu schlagzeilenträchtig, zu unwirklich sein.