Julian Nagelsmann sagte einmal über Christoph Daum: „Er ist ein Trainer, dem man ewig zuhören kann.“
Daum: „Nagelsmann keine Lichtgestalt“
Und wie denkt Daum über Nagelsmann? Das verrät der 68-Jährige, der früher unter anderem den 1. FC Köln, den VfB Stuttgart, Bayer Leverkusen und Fenerbahçe Istanbul trainierte, im ausführlichen Interview mit SPORT1. Dabei spricht Daum auch über Niko Kovac, Steffen Baumgart - und die Impf-Debatte um Joshua Kimmich.
SPORT1: Herr Daum, Niko Kovac wurde bei der AS Monaco entlassen. Was haben Sie da gedacht?
Christoph Daum: Rein von den Ergebnissen her ist das nicht nachvollziehbar. Niko hat dort sehr erfolgreich gearbeitet und einen guten Punkteschnitt erzielt. Er hat zudem einige Spieler besser gemacht. Ich habe die Spiele gegen Paris Saint-Germain und Lille gesehen, da hat Nikos Mannschaft auf Augenhöhe agiert. Ich habe nicht mit so einer Entscheidung der Bosse gerechnet. Auch bei Thomas Tuchel zu seiner Zeit bei PSG war es ähnlich. Da musste Thomas gehen, obwohl er hervorragende Ergebnisse erzielt hat. Niko hat so viel Qualität, dass er aus dieser Situation gestärkt hervorgehen wird.
Daum: „Intensives Verhältnis zu Niko“
SPORT1: Sie haben Kovac 1996/1997 bei Bayer Leverkusen groß gemacht. Wie gut ist der Draht zu ihm noch?
Daum: Seit seinem Beginn bei Eintracht Frankfurt, wo ich ja auch war, habe ich ein intensiveres Verhältnis zu Niko. Marcel (Daums Sohn, d. Red.) hat ja auch mit ihm zusammengearbeitet. Niko und ich haben uns oft getroffen und ausgetauscht. Er hat bei der Eintracht einen prima Job gemacht. Der Wechsel zum FC Bayern stand von Anfang an unter einem ungünstigen Stern. Und in Monaco hat er tolle Arbeit geleistet. Niko ist ein Kämpfertyp. Er wird wieder aufstehen und überprüfen, was er in Zukunft noch besser machen kann. Mit jeder Entlassung wird ein Trainer reifer. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
SPORT1: Wer war für Sie Trainer des Jahres und warum?
Daum: Eigentlich muss ich da Steffen Baumgart zuerst nennen. Aber, was Christian Streich in Freiburg gemacht hat, ist sensationell. Natürlich muss man auch Julian Nagelsmann nennen mit einem gigantischen Punkteschnitt. Dieser war sogar noch höher als der von Pep Guardiola. Aber die Voraussetzungen, unter denen Streich oder Baumgart arbeiten müssen, sind schon andere. Lange war der 1. FC Köln für mich die Mannschaft der Stunde. Aber Streich lebt eine große Bodenständigkeit und gewisse Werte vor, die der Bundesliga gut tun. Also mein Ranking lautet Streich, Baumgart, Nagelsmann.
Daum schwärmt von Steffen Baumgart
SPORT1: Gibt es Parallelen zwischen Baumgart und dem jungen Christoph Daum?
Daum: Ich möchte da keine Vergleiche anstellen, weil ich Steffen Baumgart zu sehr schätze. Jeder Trainer hat seine eigene Persönlichkeitsstruktur, die natürlich Parallelen zu anderen Trainern aufweist. Für Steffen sind Leidenschaft, Begeisterung und Motivation der Spieler Schlüsselelemente neben seiner Fachkompetenz. Alle lechzen nach Typen, und Steffen ist ein Typ. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
Leider werden im Profifußball immer mehr Personen austauschbar, aber so jemand wie Steffen fällt positiv auf. Ein Oliver Glasner (Trainer von Eintracht Frankfurt, d. Red.) oder ein Marco Rose (Trainer von Borussia Dortmund, d. Red.) treten äußerlich emotional kontrolliert in der Öffentlichkeit auf. Ich erkenne viele Dinge bei Steffen Baumgart, die auch für mich wichtig waren und sind. Auch ich wollte immer eine Mannschaft sehen, die mit Herzblut spielt. Die Zuschauer schreien nicht ‚Wir wollen euch zaubern sehen‘, sondern ‚Wir wollen euch kämpfen sehen‘.
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Daum: Eriksen hat vieles überstrahlt
SPORT1: Gab es 2021 ein Highlight für Sie?
Daum: Ja. Was vieles überstrahlt hat, war die Situation von Christian Eriksen bei der Europameisterschaft. Dadurch konnten wir alle mal inne halten und darüber nachdenken, ob dieses „Höher, schneller, weiter“ und dieser Gigantismus in die richtige Richtung führt. Leider ging es dann zu schnell ins Tagesgeschäft über. Wir müssen dringend einige Entwicklungen im Fußball überdenken. Ich saß damals vorm Fernseher und dachte nur: ‚Kann man so ein Spiel überhaupt fortführen?‘ Es machte sich eine weltweite Betroffenheit breit. Die Finnen riefen damals „Christian“ und die Dänen „Eriksen“. Das war eine bemerkenswerte Situation.
SPORT1: Gab es einen traurigsten Moment im vergangenen Jahr?
Daum: Ganz klar die Entwicklung und der Abstieg von Schalke 04 und Werder Bremen. Dass diese Traditionsvereine so abschmieren konnten, war schon enttäuschend. Werder wird wohl erstmal länger aus der 2. Liga nicht mehr hochkommen.
SPORT1: Was ist Ihnen noch negativ aufgefallen?
Daum: Das war die Ankündigung der europäischen Super League. Zwölf Vereine hätten als Antrittsgeld rund 300 Millionen Euro bekommen. Für viele hoch verschuldete Klubs war das eine lebensrettende Situation. Aber den Wettbewerbs-Gedanken außer Kraft zu setzen, war absurd. Es gab noch nie dagewesene Fan-Proteste. Und das zu Recht. Neun der zwölf Vereine sind dann auch schnell zurückgerudert. Leider haben Real, Barca oder Juventus diese Pläne noch im Kopf. Das Premium-Produkt ist die Champions League. Gott sei Dank wurde die Super League erst mal abgebügelt, ist aber leider wohl nicht für immer beerdigt.
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Daum nimmt Kimmich in Schutz
SPORT1: Ein Aufreger 2021 war auch Joshua Kimmich mit seiner anfängliche Impf-Verweigerung. Hat er von seinem guten Ruf etwas eingebüßt?
Daum: Joshua Kimmich hat mit der Aktion „WeKickCorona“ betont, dass Solidarität und Gesundheit in der Pandemie über allem stehen. Mit seiner Impf-Skepsis hat er dies konterkariert und sich geschadet. Joshua hat seine persönlichen Bedenken korrigiert und ist und bleibt ein Vorbild. Ein Vorbild sollte sich auch einmal nicht vorbildlich verhalten dürfen.
Nagelsmann beeindruckt Daum
SPORT1: Wie fällt Ihr Urteil über Julian Nagelsmann nach seinem ersten Halbjahr beim FC Bayern aus?
Daum: Er hat gezeigt, dass er in seinem jungen Alter einer der besten deutschen Trainer ist. Er hat zwar die besten Spieler, aber er muss diese Ich-AGs führen können. Diesen ganzen Laden zusammenzuhalten, ist eine große Stärke von Julian Nagelsmann. Wie er in der Corona-Pandemie Probleme weg moderiert und die Dissonanzen nach der JHV gehandelt hat, war großartig.
Bei Bayern gab es früher mit Louis van Gaal und Carlo Ancelotti auch Fachleute als Trainer, aber sie sind an ihre Grenzen gestoßen. Natürlich ist Julian erst ein halbes Jahr in München, aber es hat mich in dieser Zeit schon sehr überzeugt, wie er auch in schwierigen Momenten souverän blieb. Ich bin gespannt, wie er das in der Champions League hin bekommt, wenn die K.o.-Runde beginnt.
SPORT1: Man hat das Gefühl, ihm gelingt alles.
Daum: Wir sollten den Ball flach halten. Einen Titel hat er noch nicht gewonnen. (lacht) Julian hat bestimmt gewurmt, dass er mit Leipzig im Pokalfinale gegen den BVB so unterging. Er hat bei Bayern sicher eine höhere Titel-Garantie. Aber er ist auch in der Bringschuld, diese Titel abzuliefern. Julian ist ein Trainer, der perspektivisch arbeitet, dem Tageserfolg die entsprechende Bedeutung beimisst, aber darüber hinaus konzeptionell zukunftsweisend arbeitet.
Nagelsmann setzt neue Maßstäbe
SPORT1: Können Sie uns von einem besonderen Moment mit Nagelsmann berichten?
Daum: Es gab mal ein Gespräch, das mir total imponierte. Er sagte mir da: ‚Wenn ich ein Spiel beobachte, dann darf ich nicht nur taktische Wechsel machen, sondern auch emotionale.‘ Das habe ich so von jungen Trainern mit taktischen Matchplänen noch nie gehört. Julian meinte damit, dass er weiß, wann er Spieler mit mehr Risiko bringen muss oder welche, die mehr die kämpferische Note reinbringen. Profis, die das Spiel beleben. Julian sagte mir, dass er sein Team auch emotional unterstützen muss. Und er sagte noch etwas Interessantes…
SPORT1: Nämlich?
Daum: Einwechslung geht vor Auswechslung. Julian sieht proaktiv Entwicklungen im Spiel voraus und will nicht erst warten, bis etwas schief läuft, sondern er setzt die Einwechslung vor die Auswechslung. Er ist ein Trainer, der sehr vorausschauend arbeitet und sich auch mal angreifbar macht. Mir hat imponiert, dass er bei RB einmal selbstbewusst sagte, dass er den Gipfel erstürmen will. Er ist vorangegangen und wollte sich nicht mit Platz 2 zufrieden geben. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
Daum: „Nagelsmann muss aufpassen“
SPORT1: Glauben Sie, dass Nagelsmann auch in einer ersten Krise die nötige mentale Stärke besitzt?
Daum: Absolut. Wichtig sind die Strukturen innerhalb des Vereins. Wie verhalten sich Hasan Salihamidzic, Oliver Kahn oder Herbert Hainer? Aber Nagelsmann hat ja jetzt schon die ersten kleinen Problemchen gelöst. Bei einem Champions-League-Aus oder wichtigen Transfers könnten die Herausforderungen andere werden. Das sollte man im Vorfeld klären und nicht wie bei der JHV, wenn Dinge eskalieren.
SPORT1: Man hat das Gefühl Nagelsmann, wird nie scheitern.
Daum: Das würde ich nie unterschreiben. Bei Franz Beckenbauer gab es schon die einhellige Meinung, ihm würde alles zufallen. Er sei ein Kind Gottes. Julian ist keine Lichtgestalt. Franz hat als Spieler den Fußball mitgeprägt, Julian ist erst als Trainer in Erscheinung getreten. Er muss genauso aufpassen wie alle anderen Trainer. Nur auf einem höheren Niveau. Julian muss sich jeden Tag neu beweisen. Wenn er meint, er hat es endgültig geschafft, dann werden die Probleme auftauchen.
SPORT1: Was ist dem FC Bayern ohne Uli Hoeneß abhanden gekommen?
Daum: Zuletzt hat man im Vorfeld der JHV nur gewisse Dinge unterschätzt. Diese Eskalation hätte vermieden werden können. Uli wäre auf der JHV resoluter aufgetreten als Hainer. Man kann sich diesen Verein ohne ihn nicht vorstellen. Ähnlich verhält es sich beim BVB und dem Phantom Jürgen Klopp. Für Uli Hoeneß war der FC Bayern seine Familie und er hat peinlichst darauf geachtet, jeglichen Schaden von seinen Lieben fernzuhalten. Er war für jeden da. Ihm war auch egal, als Buhmann dazustehen. Natürlich fehlt Uli, aber der Klub präsentiert sich nach wie vor souverän.
Daum: „Eberl muss erkennen, dass ...“
SPORT1: Hat Max Eberl sein Glückshändchen verloren? Matthias Ginter und Denis Zakaria verlassen im Sommer Borussia Mönchengladbach ablösefrei.
Daum: Max Eberl ist nach wie vor ein Glücksfall für Borussia. Diese beiden Spieler haben sich nun so entscheiden und Max muss erkennen, dass er hier auch mal an seine Grenzen gestoßen ist. Aber er wird seine Linie weiter konsequent beibehalten.