Ernst Tanner kennt sich aus im Red-Bull-Kosmos. Bis Sommer 2018 war 55 Jahre alte Entdecker von David Alaba Nachwuchsleiter bei Red Bull Salzburg. In gleicher Position hatte er früher bereits erfolgreich bei 1860 München und der TSG Hoffenheim gearbeitet. Bei den Löwen war Tanner der Jugendtrainer von Julian Nagelsmann. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
„Julian ist mittlerweile zu groß geworden“
Kurz nach dem Einstieg von Ralf Rangnick (seit vergangener Woche Trainer bei Manchester United) in Salzburg 2012 wurde Tanner Nachwuchschef in der Akademie Liefering.
Diese machte er zu einer Topadresse in Europa. Aus dieser Zeit kennt er auch den am vergangenen Sonntag bei RB Leipzig beurlaubten Jesse Marsch und BVB-Superstürmer Erling Haaland. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
Tanner sieht Kernfrage bei Tedesco und Leipzig
Seit 2018 ist Tanner der Sportdirektor bei MLS-Klub Philadelphia Union. Im SPORT1-Interview spricht der 55-Jährige über das Marsch-Aus, dessen wahrscheinlichen Nachfolger Domenico Tedesco, Nagelsmann - und Haaland. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
SPORT1: Herr Tanner, Tedesco wird wohl Marsch-Nachfolger in Leipzig werden. Ist er aus Ihrer Sicht der Richtige?
Ernst Tanner: Er ist sicherlich ein guter und renommierter Coach. Aber die Frage wird halt sein, inwiefern er bereit ist, in die Red-Bull-Philosophie einzusteigen und die Linie fortzuführen.
SPORT1: Was sagen Sie zum 2:1-Sieg von RB Leipzig gegen Manchester City?
Tanner: Als Deutscher freut man sich logischerweise über Siege der Bundesligisten in der Champions League. Aber in erster Linie war das natürlich für Leipzig wichtig, um weiter im internationalen Geschäft zu bleiben.
SPORT1: Wie überrascht waren Sie, als RB Leipzig die Entlassung von Jesse Marsch bekannt gab?
Tanner: Wir haben das bei uns im Büro intensiv diskutiert. Unser Trainer und ich kennen Jesse sehr gut und haben ihn vor Corona in Salzburg mal besucht. Wir schätzen ihn alle und teilen relativ identische Ansichten. Ich war schon etwas bestürzt, als ich die Nachricht von der Trennung erfuhr. Als mich mein Trainer gefragt hat, was ich zu Jesse und Leipzig sage, da meinte ich nur: „Der richtige Mann am richtigen Platz, aber leider zur falschen Zeit“‘.
Tanner: Leipzig hätte früher handeln müssen
SPORT1: Wie meinten Sie das?
Tanner: Man muss sich nur anschauen, was in Leipzig alles flöten gegangen ist. Es kamen viele neue Spieler und es haben viele Leistungsträger den Klub verlassen. Und Julian Nagelsmann ging auch weg. Das ist in Leipzig natürlich alles risikoreich. Dass das nicht gleich wie am Schnürchen läuft, ist auch klar.
SPORT1: Oliver Mintzlaff sagte im STAHLWERK Doppelpass auf SPORT1, dass Marsch schon am 7. und 10. Spieltag zu ihm gekommen und Zweifel geäußert habe, ob er der richtige Trainer sei. Spätestens am 10. Spieltag hätte man da doch handeln müssen. oder?
Tanner: Auf jeden Fall. Wenn der Trainer das schon zweimal sagt, dann liegen die Probleme in Leipzig sicher tiefer. Und dann war das Ganze noch schlechter vorbereitet, als wir es von außen befürchtet haben. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass der Trainer der wichtigste Angestellte im Klub ist und er muss geschützt werden, wo es nur geht. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Jesse in Leipzig so geschützt wurde, wie es hätte sein sollen.
SPORT1: Man dachte immer, dass RB Leipzig die zweite Kraft in der Bundesliga sein kann. Wird der Klub jetzt wieder um Jahre zurückgeworfen?
Tanner: Das glaube ich nicht. Es ist ja unglaublich viel Potenzial da, wie man am Dienstag gegen Manchester City gesehen hat. Wenn man die beste Mannschaft der Welt schlagen kann. Dann kann man da nicht von Rückschritt sprechen. Aber es ist natürlich immer ein herber Einschnitt, wenn der Trainer entlassen werden muss. Gute Trainer gibt es da draußen nicht wie Sand am Meer, um das Red-Bull-Thema weiter zu spinnen. Da gab es ja eine Philosophie. Und wenn man der folgen will, muss man auch die richtigen Leute in die wichtigen Positionen stecken. Eine hohe Fluktuation ist nie förderlich.
Tanner: Nagelsmann inzwischen ein Weltklasse-Trainer
SPORT1: Wer wäre für Sie der ideale Marsch-Nachfolger gewesen?
Tanner: Sicherlich wäre Roger (PSV-Eindhoven-Trainer Roger Schmidt, d. Red.) einer gewesen. Aber er wollte ja in Eindhoven bleiben. RB Leipzig in diesem Moment ist bestimmt nicht einfach. Wenn ich sehe, wie RB zuletzt gegen den Ball gespielt hat, dann war das schon vogelwild und alles andere als Red-Bull-like. Das betrifft aber nicht nur diese Saison.
SPORT1: Muss der neue Mann zwingend aus dem Red-Bull-Stall kommen?
Tanner: Es geht darum, dass man seine Linie beibehalten kann. Am Ende des Tages müssen auch die Spieler in die Pflicht genommen werden. Wenn einer einfach nicht gegen den Ball arbeiten will, dann wird der Vertrag eben mal nicht verlängert. So einfach ist das. Dann lernen die Jungs das auch. Und wenn sie nicht mehr spielen, lernen sie es auch, wieder mehr arbeiten zu müssen.
SPORT1: Kommen wir zu einem Trainer, der überall jeden überzeugt hat: Julian Nagelsmann. Sie kennen ihn aus der Zeit bei 1860. Welches Zeugnis stellen Sie ihm nach den ersten Monaten beim FC Bayern aus?
Tanner: (lacht) Ich kann dem Julian kein Zeugnis ausstellen. Er ist mittlerweile zu groß geworden. Aber ich verfolge natürlich seine Entwicklung ganz genau und er hat das in München bisher bravourös gemeistert. Er kam in einer schwierige Phase dort hin, aber Julian ist einfach ein Weltklasse-Trainer. Ich denke, dass er sich die Akzeptanz im Klub und bei den Spielern innerhalb kürzester Zeit einfach erarbeitet hat. Das spricht für ihn.
Nagelsmann „muss aufpassen, was er da sagt“
SPORT1: Wie schafft Nagelsmann das nur?
Tanner: Julian ist an Lebensjahren noch jung, aber an Trainerjahren schon weit fortgeschritten. Er hat zwischen 14 und 16 seine Trainerscheine an der Leistungssportschule gemacht und ist dann früh als Co-Trainer eingestiegen. Mit Anfang 20 hat er schon Mannschaften trainiert. Julian hat inzwischen einiges auf dem Buckel - auf höchstem Niveau. Nur, weil er erst 34 Jahre alt ist, ist er kein junger, unerfahrener Trainer. Es sind einfach perfekte Bedingungen für ihn.
SPORT1: Wo hat sich Nagelsmann als Trainer am meisten verändert?
Tanner: Es gab schon mal eine Zeit, in der er mit seinen Aussagen sehr forsch war. Das ist mittlerweile etwas besser geworden. Da hat sich Julian sehr verändert. Er steht beim FC Bayern in einem medialen Fokus, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Seine Aussagen haben fast noch mehr richtungsweisende Funktion als die vom Bundespräsidenten (lacht!). Und da muss Julian schon zweimal aufpassen, was er da sagt.
SPORT1: Erling Haaland spielte in Salzburg in der Jugend, als Sie dort waren. Wie war die Zeit damals?
Tanner: Ich kenne Erling in erster Linie vom Jugendscouting. Als er zu uns kam, habe ich ihn begrüßen können, war aber eigentlich schon auf dem Sprung nach Amerika. Wir hatten Erling aber bereits in der Datenbank, da war er erst 15.
Tanner: „Haaland hat gespielt wie eine Schlenkerpuppe“
SPORT1: War Ihnen damals schon klar, dass er mal so ein Superstürmer werden würde?
Tanner: Mir war klar, dass er sehr gut wird, wenn all das, was er konnte, zusammen wächst. Erling hat mit 15 schon gespielt wie eine Schlenkerpuppe. Das war damals alles noch etwas unkoordiniert, aber natürlich schon gut dynamisch. Technisch war das noch nicht so sauber, was aber ganz normal war. Der Junge hat natürlich seine Berücksichtigung gefunden. Heute sieht man warum. Dass er so schnell so gut werden würde, konnte man damals nicht vorhersehen. Weil da auch körperliche Entwicklungen einsetzen mussten. Wenn das nicht passiert wäre, hätte es halt länger gedauert.
SPORT1: Das Unnachahmliche ist seine Wucht, oder?
Tanner: Absolut. Erling zeichnet seine Geschwindigkeit und seine Körperlichkeit aus gepaart mit einem unglaublich guten Torabschluss. Das ist schwer zu verteidigen. Theoretisch musst du als Trainer einen dagegen stellen, der das gleiche Potenzial mitbringt. Aber das ist schwer zu finden.
SPORT1: Wird es für die BVB-Bosse überhaupt möglich sein, Haaland über den Sommer hinaus halten zu können?
Tanner: Ich denke nicht. Erling hat ja eine relativ humane Ausstiegsklausel und damit ist das Ganze nicht mehr in Dortmunder Hand. Der Abschied von Erling rückt immer näher. Es liegt dann in den Händen derer, die ihn holen und bezahlen wollen. Die Dortmunder können eigentlich nur noch zuschauen. Die einzige Hoffnung für den BVB ist, dass aufgrund von Corona alle Einnahmen wieder zurückfallen. Aber ein englischer Klub zahlt die Ablöse so oder so leicht.
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SPORT1: Welche Liga wäre für Haaland die richtige?
Tanner: Ich würde dabei nicht so sehr an die Liga denken, es geht eher um den Klub. Für Erling war Salzburg ein toller Klub, in dem er sich entwickeln konnte. Der BVB war dann ein sehr guter nächster Schritt. Ab nächsten Sommer wird er bei einem internationalen Topklub zeigen, was er kann. Für Erling wird es wichtig sein, dass er zu einem Verein kommt, wo er all seine Stärken einbringen kann. Ich kenne den Klub, der sich sehr um ihn bemüht, werde ihn aber nicht nennen.
Probleme mit Ronaldo? Rangnick „ist clever genug“
SPORT1: Sie waren in Salzburg an der Seite von Ralf Rangnick. Was sagen Sie zu seinem Wechsel zu Manchester United?
Tanner: Das ist schon ein großartiger Coup. ManUnited und Ralf - das passt perfekt zusammen. Da wollte er immer hin. Er kann da durchaus etwas bewegen. Nicht nur als Trainer, sondern dann auch als Berater. Jeder Verein kann sich glücklich schätzen, wenn er so jemanden wie den Ralf im näheren Umfeld hat. Das wird absolut funktionieren. Und zwischen ihm und Ronaldo wird es keine Probleme geben. Ralf ist inzwischen alt und clever genug, um die Situation richtig einschätzen zu können. Warum soll es da ein Problem geben? Das würde ich nicht verstehen.
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SPORT1: Wie und wo sehen Sie die Zukunft von Karim Adeyemi von Red Bull Salzburg?
Tanner: Er wird sicher in einer der Top-5-Ligen spielen und wohl zuerst mal zu einem großen Verein in Deutschland wechseln.
SPORT1: Wollen Sie mal wieder zurück in die Bundesliga?
Tanner: Ich habe einen sehr guten Job. Ich kann hier alles gestalten und kann Dinge entwickeln. Das ist in Deutschland unter dem hohen Ergebnisdruck sehr schwierig. Gerade wenn man wie ich alles immer ganzheitlich sieht, eine gute Jugendarbeit mit einem starken Übergang verbinden und trotzdem erfolgreich spielen will. Das haben wir in den zurückliegenden drei Jahren perfekt geschafft. Philadelphia ist schon ein ziemlicher Vorreiter-Klub in den USA. Warum sollte ich also zurück wollen?