Im Märchen der Gebrüder Grimm führt Hans im Glück ein scheinbar parodoxes Leben. Den großen Klumpen Gold, den er sich erarbeitet hat, tauscht Hans in immer wertlosere Dinge um – bis er am Ende mit leeren Händen dasteht. Erst dann ist Hans glücklich, weil er sich damit aller Verantwortung entledigt hat und frei fühlt.
Super-GAU mit Ansage
Märchenhaft ist das, was gerade bei Borussia Mönchengladbach passiert, keineswegs. Und dennoch muss sich der Sportdirektor Max Eberl ein bisschen wie der Grimm‘sche Hauptdarsteller vorkommen – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen.
Zehn Jahre lang war Eberl so etwas wie der „Max im Glück“ vom Niederrhein. Der heute 48-Jährige führte dank seines scheinbar untrüglichen Händchens die Borussia von einer grauen Maus zu einem dauerhaften Anwärter auf die internationalen Plätze. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
Gladbach erwies sich über die Jahre immer mehr als Fabrik der Stars. Eberl verkaufte Spieler für ein Vielfaches ihres Einkaufspreises und ersetzte sie meistens mit Talenten oder Jungstars, die in aller Regelmäßigkeit zündeten.
Reus und Favre als Startschuss für Gladbach-Aufsteig
Der Ausgangspunkt des Borussen-Märchens – also der „Klumpen Gold“, den Eberl 2009 an Land gezogen hatte, trug den Namen Marco Reus. Es war der Beginn einer furiosen Entwicklung, die durch die Ankunft von Lucien Favre beschleunigt wurde.
Aus einem Abstiegskandidaten formte der Schweizer Trainer im Handumdrehen eine Spitzenmannschaft mit Spielern, die bei größeren Teams Begehrlichkeiten weckten.
Der Kreislauf kam damit so richtig in Schwung: Reus verließ den Klub 2012 Richtung Dortmund, also wurde Eberl früh dazu gezwungen, nach kreativen Lösungen zu suchen, um den Abgang des damaligen Jungstars zu kompensieren.
Dass der umtriebige Manager hin und wieder daneben lag, zeigte sich ausgerechnet beim Reus-Ersatz: Zwölf der 17 Millionen Euro, die der Nationalspieler einbrachte, wurden in Luuk de Jong investiert, doch der niederländische Stürmer floppte.
Im Gegensatz zu Hans im Glück, der durch seine verlustreichen Tauschgeschäfte immer glücklicher wurde, konnte Eberl einer Verschlechterung selbstredend nichts abgewinnen - musste er auch nicht, denn Fehlgriffe blieben die absolute Ausnahme. Eberl holte Raffael, Yann Sommer, Juan Arango oder Thorgan Hazard – und landete regelmäßig Glücksgriffe.
Super-GAU mit Ansage
Der Name Eberl wurde in der Bundesliga mit den Jahren immer mehr zum Synonym für Erfolg – so sehr, dass der FC Bayern mehrmals bei ihm anklopfte. Eberl widerstand dem Ruf aus seiner bayerischen Heimat und baute stattdessen weiter am Ausbau des „gallischen Dorfes“, wie er seine Gladbacher selbst bezeichnete.
Dann kam Corona – und setzte den erfolgsverwöhnten Borussen am Niederrhein gewaltig zu. Dies betraf nicht nur die durch Geisterspiele wegbrechenden Einnahmen, sondern auch die eifrigen „Tauschgeschäfte“ des Gladbacher Managers.
Schon vor der aktuellen Saison deutete sich eine erzwungene Abkehr seines Erfolgssystems an. Erstmals seit Eberls Amtsantritt blieben sämtliche Stars im Klub, was der Sportdirektor als Erfolg verkaufte.
In Wahrheit war es nicht weniger als der Beginn eines Super-GAUs mit Ansage.
Erst Ginter, dann Zakaria
Kurz vor Jahresende ereilten Eberl zwei Hiobsbotschaften innerhalb von zwei Tagen: Nachdem Matthias Ginter am Dienstag seinen Abschied aus Gladbach im kommenden Sommer bekannt gab, tat es ihm Denis Zakaria am Mittwoch gleich. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
In Eberls Geschäftsmodell sind ablösefreie Wechsel nicht vorgesehen. Zwei Spieler, die vor dem Beginn der Pandemie noch einen Marktwert von zusammen 70 Millionen Euro hatten, werden den Borussia-Park verlassen, ohne einen einzigen Cent in die Vereinskasse zu spülen.
Bis zum Schluss hatte Eberl um eine Vertragsverlängerung seiner beiden Schlüsselspieler gekämpft, doch der sportliche Misserfolg der Fohlen, die wohl auch nächstes Jahr nicht international vertreten sein werden, tat sein Übriges.
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Überhaupt scheint Eberl momentan das Glück des Tüchtigen verlassen zu haben. Mit dem angekündigten Wechsel von Marco Rose zum BVB ging die Tendenz der Fohlen rasant nach unten – eine Entwicklung, die sich unter dessen Nachfolger Adi Hütter fortsetzte.
Abstiegssorgen am Niederrhein?
Im Fußballjahr 2021 trat Gladbach die meiste Zeit nicht viel besser als ein Abstiegskandidat auf, sieht man einmal von wenigen Highlights ab, wie dem aberwitzigen 5:0-Pokalsieg gegen den FC Bayern ab.
Mit gerade einmal 19 Punkten liegt die Borussia nur noch drei Zähler vor einem direkten Abstiegsplatz – und der Rückrundenstart mit Spielen in München und gegen Leverkusen könnte schwerer nicht sein. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
Das Märchen von „Max im Glück“, es hängt gerade am seidenen Faden. Wenn es allerdings einen gibt, der es doch noch zu einem Happy End führen kann, dann sicherlich Gladbachs umtriebiger Manager selbst.