In der Saison 2018/19 war der FC Schalke 04 dem sportlichen Abgrund sehr nahe. Angeführt von Sportvorstand Jochen Schneider, der sein Amt im März 2019 angetreten hat, stehen die Königsblauen in der laufenden Spielzeit wesentlich besser da.
Der Schalke-Boss im Interview
Bis vor ein paar Spieltagen waren die Schalker sogar noch mittendrin im Rennen um die Meisterschaft, nun kämpfen sie immerhin noch um das internationale Geschäft. (Tabelle der Bundesliga)
Im Interview mit SPORT1 erklärt Schneider, der vor Schalke beim VfB Stuttgart und RB Leipzig aktiv war, wie die Knappen die Krise verarbeitet haben, wie zufrieden er mit Trainer David Wagner ist und wie er für die Zeit nach Alexander Nübel plant.
SPORT1: Herr Schneider, fangen wir direkt beim kommenden Gegner an. Was sagen Sie zur Leistung von RB Leipzig bei Tottenham Hotspur?
Jochen Schneider: Hut ab, großen Respekt vor der Leistung! Leipzig hat fast über die gesamten 90 Minuten das Spiel kontrolliert und am Ende auch verdient gewonnen.
SPORT1: Wie intensiv verfolgen Sie persönlich noch den Weg von RB Leipzig?
Schneider: Intensiv, das ist ja klar. Wie von jedem anderen Bundesligisten auch. Man verfolgt jeden einzelnen Bundesligisten, aber Leipzig natürlich noch ein Stück mehr.
Schneider pflegt Kontakt zu Rangnick
SPORT1: Gibt es noch Kontakt zu Ralf Rangnick?
Schneider: Ja, klar.
SPORT1: Wie oft und wie sieht dieser dann aus?
Schneider: Unregelmäßig. Aber wir sehen uns ja jetzt am Samstag und treffen uns dann - auch mit Oliver Mintzlaff - noch auf einen Kaffee. Die Kontakte sind noch wirklich gut.
SPORT1: Wie sehr hat Rangnick Ihnen damals zum Wechsel geraten und welche Tipps hat er Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Schneider: Das ging ja alles relativ schnell, am Ende haben wir noch mal eine halbe Stunde gesprochen. Er hat mir natürlich ein paar Tipps gegeben, aber die Zeit für tiefgründigere Gespräche gab es nicht mehr.
SPORT1: Am Anfang hatte man das Gefühl, dass es Ihnen nicht ganz leicht fiel, auf Schalke den Posten in der ersten Reihe zu bekleiden ...
Schneider: Die Anfangszeit war natürlich extrem schwierig, wir haben mitten im Abstiegskampf gesteckt. Deswegen war die eine oder andere Laune auch der Situation geschuldet. Diese acht bis zehn Wochen von Anfang März bis Mitte Mai waren nicht vergnügungssteuerpflichtig.
SPORT1: Die Saison bis jetzt läuft ja ganz gut. Wie ist Ihr Eindruck von Schalke in dieser Spielzeit?
Schneider: Als erstes haben wir im Sommer gute Entscheidungen getroffen - sowohl auf inhaltlicher als auch auf personeller Ebene. Wir haben ein gutes Team, ein gutes Team drumherum und einen großartigen Cheftrainer, der die Mannschaft hervorragend führt, sodass wir auf einem guten Weg sind. Natürlich gibt es auf so einem Weg auch Auf und Abs, das ist ganz normal. Aber alles in allem können wir bis jetzt ganz zufrieden sein.
"Uns fehlt ein bisschen die Leichtigkeit"
SPORT1: Sie haben die Aufs und Abs angesprochen, die letzten Spiele liefen zäh. Haben Sie Gründe gefunden, warum es zuletzt vor allem offensiv nicht so gut lief?
Schneider: Uns fehlt ein bisschen die Leichtigkeit in den letzten Spielen. Wir haben auch weniger Chancen herausgespielt, trotzdem hatten wir noch genug Chancen, um die Spiele für uns zu entscheiden. Es fehlt uns ein Stück weit die Effizienz vor dem Tor, was aber anderen Mannschaften auch so geht.
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SPORT1: Man hat derzeit das Gefühl, dass das Umfeld ein wenig hektisch wird. Wenn man die Kommentare im Internet mal querliest, hat man das Gefühl, dass sich die Stimmung ein bisschen dreht.
Schneider: Drehen würde ich nicht sagen, aber ein bisschen Unruhe ist da. Das gehört zu Schalke dazu, das ist die Bundesliga, da gehören ein wenig Glamour und Schlagzeilen dazu. Aber wichtig ist, wie wir intern damit umgehen und wir wissen das richtig einzuschätzen, von daher wird bei uns intern niemand nervös. Wir haben jetzt 22 Spieltage hinter uns, vier haben wir davon verloren. Wenn uns das einer vor der Saison gesagt hätte, dann hätten wir das alle unterschrieben. Wir haben neun Siege, neun Unentschieden und vier Niederlagen, das sagt recht viel über uns aus: Es ist nicht so leicht, uns zu besiegen.
SPORT1: Viele Fans stören sich daran, dass die Spiele - wie das glückliche Unentschieden gegen Mainz - vom Trainer öffentlich zu positiv bewertet werden. Können Sie das verstehen?
Schneider: Ich verstehe das, dass die Fans mal einer anderen Meinung sind wie die Verantwortlichen eines Vereins. Das ist normal und es ist auch gut, dass über die Spiele und die Spielauslegung gesprochen wird. Zum Glück leben wir in einem Land, wo jeder seine Meinung frei äußern darf.
SPORT1: Insgesamt haben Sie es geschafft, dass die Saison für Schalker Verhältnisse sehr ruhig verläuft. Wie ist das gelungen, was haben Sie womöglich sogar geändert?
Schneider: Wir sind in die Saison reingegangen und haben uns gesagt, dass es unangenehm sein muss, gegen uns zu spielen - das, was im Großteil der letzten Saison nicht der Fall war. Wir wollen aktiv nach vorne spielen, Lust haben, die Zweikämpfe zu gewinnen. Das haben wir bis auf das Spiel gegen Bayern München, was richtig schlecht war, auf den Platz bekommen.
Kein Vergleich zu Stuttgart und Leipzig
SPORT1: Welche Rolle spielt der Trainer in diesem Team?
Schneider: Die Wichtigste. Der Cheftrainer ist immer die wichtigste Person in jedem Verein. Von daher spielt er natürlich eine überaus wesentliche Rolle.
SPORT1: Sie haben zuvor schon andere Vereine kennengelernt. Was ist für Sie der größte Unterschied zwischen Stuttgart, Leipzig und jetzt Schalke?
Schneider: Ich bin kein Freund davon, Vereine oder Personen zu vergleichen. Was Schalke schon immer auszeichnet, ist diese emotionale Wucht, die bedingungslose Unterstützung der Fans, diese Extreme, die ein Schalker mitbringen muss, von extrem positiv bis extrem negativ, und daher sehr leidensfähig sein muss. Und was darüber hinaus natürlich einzigartig ist, ist die Bedeutung, die der Fußball hier im Ruhrgebiet genießt - das ist schon etwas ganz Besonderes.
SPORT1: Am Samstag geht es gegen Leipzig. Kann sich ein eingetragener Verein wie Schalke auf Dauer mit Klubs messen, die einen Mäzen hinter sich haben?
Schneider: Die Frage ist mir zu pauschal, weil jeder Verein seine eigene Geschichte hat. Jeder Verein lebt im Hier und Jetzt und muss daraus das Beste machen. Wir haben gute Möglichkeiten, die müssen wir nutzen. Wir müssen gute Entscheidungen treffen und dann schauen wir mal, wo wir hinkommen. Jetzt Vergleiche zu ziehen mit anderen Vereinen, ob eine Rechtsform noch zeitgemäß ist, das steht alles nicht auf dem Kalender.
SPORT1: Wie sieht Ihr langfristiger Plan mit dem Verein aus?
Schneider: Die Voraussetzungen in allen Bereichen zu schaffen, dass wir mittelfristig in den Top 6 der Bundesliga landen, um uns für die internationalen Wettbewerbe zu qualifizieren - wohlwissend, dass der Wettbewerb natürlich enorm ist. Es sind Vereine dazugekommen, die es vor zehn oder zwölf Jahren noch nicht gab, wie die TSG Hoffenheim oder RB Leipzig. Der Wettbewerb ist dadurch härter geworden und an vielen anderen Standorten wird auch richtig gut gearbeitet. Wir wissen das, aber es muss auch der Anspruch dieses Vereins sein, mittelfristig wieder um Europa mitspielen zu können.
Schneider: "Da fahren wir auch die Ellenbogen aus"
SPORT1: Wie schwer ist das in diesem Jahr, vor allem nach einer Saison wie der vergangenen?
Schneider: Die letzte Saison sollte nie als Maßstab genommen werden, die war einfach schlecht. Da gab es viele Gründe für, nicht diesen einen Faktor. Wir wissen aber, woher wir kommen und deshalb haben wir auch bewusst keinen Tabellenplatz als Ziel ausgerufen, weil das vermessen gewesen wäre. Es galt erst mal, wieder zu unseren Grundtugenden zu finden und den Fußball zu spielen, der zu unserem Verein passt. Das haben wir bis jetzt einigermaßen geschafft, damit bin ich zufrieden. Und jetzt gehen wir Schritt für Schritt voran.
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SPORT1: Muss man dann nicht auch erst mal mit einem schmucklosen siebten, achten Platz zufrieden sein, um sich zu konsolidieren?
Schneider: Das müssen wir sehen, wir setzen uns natürlich nach oben keine Limits, dafür sind wir auch gierig genug. Da fahren wir auch die Ellenbogen raus, um das Optimale zu erreichen.
SPORT1: Wie wichtig wäre es, international zu spielen, um dann am Ende auch die entsprechenden Spieler für Schalke zu gewinnen?
Schneider: Das ist natürlich immer wichtig. Auch die jungen, hochtalentierten Spieler wollen unter der Woche spielen und nicht auf dem Sofa sitzen und Champions League oder Europa League schauen. Das ist wichtig, da müssen wir nicht drumherum reden. Es ist wichtig für die Spieler, für die Fans, für den Verein, für das Image, für die Finanzen - da gibt es viele Gründe.
SPORT1: Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass Sie Leistungsträger wie Suat Serdar, der sich in dieser Saison etabliert hat, langfristig auf Schalke halten?
Schneider: Ich bin optimistisch. Es wäre ja fatal, wenn ich es nicht wäre. Suat fühlt sich wohl hier, das hat er auch so artikuliert. Er sieht hier die richtige Plattform für seine weitere Entwicklung und wir sind glücklich, dass er hier ist - und sind glücklich mit seiner Saison. Das passt und dann macht es auch Sinn, dass solche Spieler solange bleiben, wie sie sich im Gleichschritt mit dem Verein entwickeln. Wenn ein Spieler sich schneller entwickelt als der Verein, dann ist es auch völlig legitim, dass er sich eine neue Herausforderung sucht und dann auch irgendwann mal den Verein wechselt.
SPORT1: Da wäre jetzt die Schlussfolgerung, dass sich Alexander Nübel schneller entwickelt hat als Schalke ...
Schneider: Das weiß ich nicht. Dass er diese Entscheidung getroffen hat, ist für uns jammerschade. Ich bin heute noch traurig, aber es gilt sie zu akzeptieren und zu respektieren. Das haben wir getan, Alex geht prima mit der Situation um, bringt hervorragende Leistungen. Die Fans haben gut reagiert, haben ihn nicht mit Pfiffen empfangen, sondern sehr wohlwollend - und sie respektieren auch, was er für uns geleistet hat. Das ist okay und man kann jetzt auch noch nicht sagen, ob es die richtige Entscheidung war, sondern erst in ein, zwei Jahren. Er ist ein toller Torwart und ich drücke ihm die Daumen, dass er eine tolle Zukunft haben wird.
Schalke hofft auf Rückkehrer Fährmann
SPORT1: Sie müssen trotzdem auf der Torwart-Position planen. Haben Sie sich schon entschieden, ob Sie einen neuen Torwart hinzuholen?
Schneider: Wir bekommen ja einen neuen Torwart, nämlich Ralf Fährmann. Wir freuen uns, er freut sich. Ralf ist ein großartiger Torwart. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ihn viele bei der WM in Russland als dritten Torwart dabeihaben wollten. Im Laufe der Saison 18/19 hat ihn Alex Nübel dann überholt. Er hat sich dann leider dazu entschieden, zu Norwich City zu wechseln, wo die Geschichte bis jetzt noch nicht so aufging, wie er sich das gewünscht hat, wie wir uns das gewünscht haben. Aber jetzt kommt er zurück und er ist nach wie vor ein großartiger Torwart, der Schalke 04 verkörpert wie kein Zweiter. Deshalb freuen wir uns, dass er zurückkommt. Auch Markus Schubert hat das in den vier Spielen gut gemacht. Beim Spiel gegen Bayern München ist er wie die gesamte Mannschaft unter die Räder gekommen, das müssen wir akzeptieren. Aber ansonsten hat er seinen Mann gestanden und seine Leistung gebracht. Er ist U21-Nationaltorwart und wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu Olympia fahren. Daran kann man schon erkennen, was für eine Kategorie von Torwart er ist. Und mit den beiden fühlen wir uns gut aufgestellt.
SPORT1: Also kommt kein weiterer Torwart?
Schneider: Nein.
SPORT1: Und Ralf Fährmann bekommt dann auch die Chance, sich wieder zu beweisen?
Schneider: Es ist Hochleistungssport, hier gilt das Leistungsprinzip - und der Bessere wird sich durchsetzen.
SPORT1: Abseits vom Sportlichen hatte der Verein zuletzt mit Rassismus im Stadion zu kämpfen. Wie weit sind Sie da mit der Aufarbeitung?
Schneider: Das dauert noch, den Täter zu finden. Das, was passiert ist, war schlimm. Dafür haben wir uns auch bei Hertha BSC und Jordan (Torunarigha, Anm. d. Red.) entschuldigt haben. Das ist nicht zu tolerieren und es ist traurig, dass sowas jetzt wieder aufkommt. Wir hatten diese schlimmen Dinge eigentlich über Jahre hinweg aus unserem Stadion und auch der Gesellschaft verbannt. Dagegen müssen alle aufstehen, wie es jetzt am vergangenen Wochenende in Münster passiert ist. Das ist die Reaktion, die in so einer Situation erfolgen muss, wo das Gros der Fans aufsteht und sagt: "Raus hier, du hast in unserem Stadion nichts verloren!" Das hat uns total überrascht hier, weil Schalke 04 für Vorfälle dieser Art nicht bekannt ist. Es war mit Sicherheit ein Einzeltäter und das ist einfach nur traurig.
Schneider: Tönnies ein "Menschenumarmer"
SPORT1: Jetzt stellen natürlich einige einen Zusammenhang zur Causa Tönnies her. Muss Schalke jetzt anders reagieren, nachdem man im vergangenen Jahr schon einmal über dieses Thema sprechen musste?
Schneider: Man muss auf jeden Fall mit aller Härte und Konsequenz reagieren. Der Vorfall im Sommer ist ja ein ganz anderer: Clemens Tönnies war, ist und bleibt ein "Menschenumarmer", der Menschen, egal welcher Hautfarbe und Konfession, gerne hat. Das Thema ist aufgearbeitet und erledigt - und da jetzt einen kausalen Zusammenhang herzustellen, das halte ich für hanebüchen.
SPORT1: Letztes Thema: Das Parkstadion wird wieder geöffnet, wo es die Verlautbarung gibt, dass man die Eröffnung mit einem Freundschaftsspiel gegen Zenit St. Petersburg feiert. Das stößt auf Kritik in Fankreisen. Haben Sie das mitbekommen, wahrgenommen und können Sie das nachvollziehen, dass man sich da einen anderen, befreundeten Gegner wie den 1. FC Nürnberg gewünscht hat?
Schneider: Ja, wir werden gegen Nürnberg an einer anderen Stelle spielen. Wir hatten im Sommer ein Freundschaftsspiel gegen Twente, was ganz großartig war. Wenn wir darüber sprechen, dass Fußball Brücken bilden kann, dann sollten wir diese auch nutzen. Und wenn wir jetzt gegen Zenit spielen, dann sollten wir das als Chance wahrnehmen. Ich kann in jeder Suppe ein Haar finden, wenn ich will - ich kann aber auch mal das Positive sehen. Jetzt laden wir russische Freunde ein, und dann finde ich, dass der Fußball eine ganz wunderbare Brücke bilden kann. Dann sollte man auch mal das Positive betrachten und nicht immer das Negative sehen. Es ist leicht, immer das Negative zu sehen, wenn ich das möchte, wenn ich so veranlagt bin. Wenn ich aber generell so veranlagt bin, dann finde ich es blöd, dass ich so durchs Leben laufe.