Ablösefrei wechselte Leon Goretzka (23) im Sommer von Schalke 04 zum FC Bayern.
Goretzka will ein Leader sein
Immer mehr wird deutlich, warum Vorstands-Boss Karl-Heinz Rummenigge die Verpflichtung des Nationalspieler als "Coup" beschreibt. Der gebürtige Bochumer ist dabei, sich im Mittelfeld der Münchner zur Stammkraft zu entwickeln und eine neue Ära beim Rekordmeister einzuläuten.
Im Gespräch mit SPORT1, vor dem Spiel gegen den 1. FC Nürnberg, reflektiert der Fußballer Goretzka seinen aktuellen Status bei den Bayern, der Mensch Goretzka lässt erkennen, welchen Typen sich die Münchner da geholt haben (FC Bayern München - 1. FC Nürnberg am 14. Bundesliga-Spieltag: Samstag ab 15.30 Uhr im LIVETICKER).
SPORT1: Herr Goretzka, Krise, Wende, Umbruch. In welchem Status befindet sich der FC Bayern derzeit?
Goretzka: Tabellarisch sind wir aktuell noch nicht da, wo wir uns gerne sehen würden. Wir sind aber dabei, uns zu steigern und in die richtige Richtung zu marschieren. Nach der Phase, die wir hatten, geht das aber auch nicht in ein oder zwei Spielen. Es sind kleine Etappen.
SPORT1: Die nächste Etappe ist das Heimspiel gegen Nürnberg. Siegpflicht?
Goretzka: Wir wollen gewinnen, keine Frage. Wir sind auch in einer Situation, wo wir gewinnen sollten und auch müssen.
Leon Goretzka: "Würde mich freuen wenn Schalke das Derby gewinnt"
SPORT1: Nicht ganz uninteressant wird das zeitgleich zu ihrem Spiel stattfindende Revierderby Schalke gegen Dortmund.
Goretzka: Persönlich finde ich es schade, dass es nicht das Topspiel wurde, denn ich hätte es mir sehr gerne um 18.30 Uhr angeschaut. Ich würde mich freuen, wenn Schalke das Derby gewinnt. Gerade in der aktuellen Tabellensituation würde uns das natürlich doppelt helfen.
SPORT1: Ein gutes Stichwort, denn bei den Bayern bilden Sie aktuell mit Joshua Kimmich die Doppelsechs.
Goretzka: Es hat auch bislang sehr gut funktioniert. Ich habe mit Jo (Joshua Kimmich, d. Red.) ja auch schon in der U21 im Mittelfeld gespielt. Auch da haben wir uns schon sehr gut ergänzt. Er ist dann in der Nationalmannschaft und bei den Bayern aber ein Stück nach rechts gerutscht und hat diese Position Weltklasse ausgeübt. Jetzt ist er wieder in die Mitte gekommen und macht es da auch sehr gut.
SPORT1: Nehmen Sie es auch so wahr, dass sie beide jetzt das Herzstück bilden?
Goretzka: Es ist natürlich eine wichtige Position. Der Trainer hat uns mitgegeben, dort für Ordnung zu sorgen und wieder in die defensive Kompaktheit zu kommen. Natürlich leidet bei mir dann das Offensivspiel ein bisschen darunter, aber das Wichtigste ist, dass die Mannschaft erfolgreich ist. Funktioniert das am besten, wenn ich auf der Sechs spiele, dann mache ich "dat" sehr gerne.
Leon Goretzka muss schmunzeln, denn er verfällt kurz in den Ruhrpott-Dialekt seiner Heimat.
"Im Ruhrgebiet wird man vor München gewarnt"
SPORT1: Wo Sie gerade "dat" sagen: Wie läuft Ihre Umstellung vom Leben im Pott zu dem in München?
Goretzka: Im Ruhrgebiet wird man ja vor München gewarnt, dass hier alle die Nase etwas weiter hochtragen sollen, aber das kann ich nicht bestätigen. Als ich hierher kam, habe ich auch keinen großen Kulturschock bekommen. Das liegt vielleicht auch an dem Viertel, in das ich gezogen bin. Dort gibt es keinen großen Unterschied zum Ruhrgebiet.
SPORT1: Durch Ihren Wechsel verließen Sie ihr Elternhaus, ließen erstmals Familie und Freunde zurück. Wie fühlt sich das Alleinsein an?
Goretzka: Ich hatte früher wirklich eine Wohlfühloase zu Hause. Meine ganzen Freunde waren immer da, ich habe jeden Tag etwas mit denen unternommen. Das war auch ein super Ausgleich zum Profigeschäft. Ich habe mich aber bewusst auch privat aus meinem vertrauten Umfeld gelöst. Ich denke schon, dass das auch neben dem Platz zu einer Entwicklung führt.
SPORT1: Letzteres deckt sich mit dem, was Ihr ehemaliger Trainer Horst Hrubesch im SPORT1-Interview schwärmend über Sie gesagt hat. Er meinte, dass Ihre Entwicklung ein "Selbstgänger" sei und Sie jetzt nur noch erwachsen werden müssen. Wie meint er das?
Goretzka: Es war mir eine absolute Ehre und ein riesen Privileg, unter ihm zu trainieren und zu spielen. Er ist ein unheimlich guter Mensch und diese werden in dem Geschäft immer weniger. Er hat ein ganz, ganz großes Herz und mit dem geht er auch an die Sache heran. Wenn man sich nur fünf Minuten mit ihm unterhält dann merkt man, dass er ein ganz ehrlicher Mensch ist und ich genieße jede Sekunde, die ich mit ihm sprechen kann.
"Das ist auch nicht mein Anspruch"
SPORT1: Bliebe noch die Sache mit dem Erwachsenwerden.
Goretzka: Klar, irgendwann wäre "dat" nicht schlecht, wenn man sich in seiner Entwicklung nochmal ein bisschen fortbewegt. Ich glaube aber, dass ich für mein Alter nicht unbedingt hinterherhinke.
SPORT1: Man merkte Ihnen bereits bei Ihrer Vorstellung in München an, dass Sie sehr selbstbewusst sind. Sie sprachen davon, bei den Bayern Verantwortung übernehmen zu wollen.
Goretzka: Mich bei meiner Vorstellung hinzusetzen und zu sagen, dass ich mal schaue wie es läuft, wäre ein Fehler gewesen. Das ist auch nicht mein Anspruch, denn ich bin schon mit anderen Gedanken hierhergekommen. Bis jetzt hat auch alles sehr gut funktioniert. Mir ist aber wichtig, dazu noch etwas zu sagen.
SPORT1: Nur zu.
Goretzka: Ich bin kein Freund davon, mich nur hinzustellen und zu sagen: "Ich bin derjenige, der hier Verantwortung übernimmt." Das geht nur über meine Leistung auf dem Platz. Will man ein Führungsspieler sein, ist es erstmal ganz wichtig, dass die Leistung auf dem Platz unumstritten und konstant gut ist. Erst dann kann man in gewisse Prozesse eingreifen, um hier und da zu helfen. Auf diesem Weg befinde ich mich aber aktuell.
SPORT1: Wenn die Bayern im kommenden Sommer den großen Umbruch vollziehen, haben Sie sich schon ein Jahr akklimatisiert. Ein Vorteil?
Goretzka: Ich habe mir für den Wechsel ja sehr viel Zeit genommen, weil ich mir sehr viele Gedanken gemacht habe. Dafür wurde ich kritisiert, aber ich habe das als absolut notwendig erachtet und empfinde es auch im Nachhinein als sehr gute Methode. Ich habe alles abgewogen und eine Entscheidung getroffen, zu der ich zu 100 Prozent stehe. Es war daher genau der richtige Zeitpunkt.
SPORT1: Sie haben Ihre Zukunft bei den Bayern erst noch vor sich. Arjen Robben hingegen wird im Sommer den Verein definitiv verlassen. Franck Ribéry höchstwahrscheinlich.
Goretzka: Bevor ich zu Bayern ging, habe ich schon immer mit staunendem Auge zugeschaut, was die beiden da in den letzten zehn Jahren auf den Platz gezaubert haben. Das war schon absolute Weltklasse. Sie haben den Erfolg in den letzten zehn Jahren mitgebracht und garantiert. Für den deutschen Fußball ist es schade, Arjen und Franck vielleicht auch, dann nicht mehr auf dem Platz sehen zu können. Aber in erster Linie sollten wir alle Dankbarkeit verspüren und ihm (Robben, d. Red.) als Mannschaft ein schönes letztes Jahr bescheren. Das hat er sich verdient.
SPORT1: Sollten die Bayern-Bosse bei Ihren Transfers auf deutsche Stars und Talente setzen oder auf internationale?
Goretzka: Die einen schließen die anderen ja nicht aus. Wir müssen einfach gute Fußballer auf dem Platz haben, da ist die Nationalität erstmal nebensächlich. Es war schon in der Vergangenheit so und es wird auch zukünftig so sein, dass der FC Bayern mit vielen deutschen Nationalspielern bestückt wird.
SPORT1: Lassen Sie uns über Niko Kovac sprechen. Wie bewerten Sie die zuletzt aufgekommene Kritik an ihm?
Goretzka: Generell wird einem Trainer im Bundesliga-Geschäft oft Unrecht getan. Das ist aber einfach so, weil es ein Tagesgeschäft ist. Das klingt wie eine Floskel und ist auch eine, aber wenn die Ergebnisse stimmen, ist alles gut. Dann findet man Dinge, die der Trainer gut macht und solche, die besser funktionieren als zuvor. Wenn die Ergebnisse schlecht sind, ist es andersherum.
Das beeindruckt Goretzka an Kovac
SPORT1: Sie avancieren unter Kovac derzeit zum Stammspieler, er schätzt Ihre Spielweise. Was imponiert Ihnen an ihm?
Goretzka: Dass er ein sehr souveränes Auftreten hat. Gemessen an seinen bisherigen Stationen ist er auch noch ein junger Trainer, aber dafür schon sehr erfahren.
SPORT1: Souverän ist auch ihr Auftritt in den sozialen Medien. Auffällig ist, dass Sie seit Ihrem Wechsel von Schalke 04 deutlich weniger Privates posten.
Goretzka: Das ist einfach ein Gefühl. Ich mache das auch nicht, um irgendwelche Marketingstrategien zu erfüllen. Auch, wenn mir oft gesagt wird, dass das sinnvoll wäre. Aber klar, ich poste auch mal ein klassisches Bild eines Spiels oder wenn ich zu Hause mal was koche und ich darauf stolz bin wie Oskar, dann möchte ich das auch mal zeigen und lade so ein Bild halt hoch.
SPORT1: Bleiben wir bei Ihnen persönlich. Sie verrieten neulich, dass Sie sich vor Spielen mit "aggressiver Musik" pushen. Was hören Sie denn so?
Goretzka: Das ist unterschiedlich. Letztens habe ich 'Thunderstruck' von AC/DC gehört. Das finde ich super. Ich habe in einem Interview mit Diego Simeone (Trainer von Atlético Madrid, d. Red.) gelesen, dass die das vor dem Spiel in der Kabine hören. Dann habe ich da reingehört und es hat mir gut gefallen. Ich höre auch viel Deutsch-Rap. Samy Deluxe finde ich auch super. Er hat außergewöhnlich gute Texte, aber die sind eher nicht vor einem Spiel angesagt.
SPORT1: Bekannt ist, dass Ihre Freunde meinen, Sie wären ein guter Jurist geworden, weil Sie immer Recht behalten. Sind Sie also ein Schlaumeier?
Goretzka: Es gibt mit Sicherheit Menschen, die das über mich sagen, aber ich habe mittlerweile auch Thomas Müller kennengelernt. Es geht also noch schlimmer… (lacht).
"Im Moment genieße ich es einfach"
SPORT1: Wir sprachen bereits über Verantwortung. Wie gehen Sie persönlich mit Geld um. Schließlich sind Sie und viele Ihrer Mitspieler in jungen Jahren schon Millionäre.
Goretzka: Natürlich sind meine monatlichen Fixkosten höher als beispielsweise die meines Vaters. Wenn ich mir eine Hose anschaue, die etwas teurer ist als früher, bin ich auch nicht der Typ, der sagt: Oh, die kann ich mir nicht holen. Die kostet einen Euro zu viel. Ich bin auch jemand, der sich hier und da mal schöne Sachen kauft - aber alles in einem gesunden Maß. Es gibt aber mit Sicherheit Spieler, die mehr ausgeben als ich.
SPORT1: Und sicherlich auch viele Menschen, die Sie um Ihren Job beneiden. Wie fühlt es sich an, plötzlich bei den Bayern zu spielen?
Goretzka: Darüber will ich gar nicht so lange nachdenken. Es ist wie in einem Fluss, in dem man mitschwimmt. Dass man aber mal so richtig von oben draufschaut, wird wahrscheinlich erst später kommen. Im Moment genieße ich es einfach und will weiter nach oben. Meine größte Angst war immer, ungenutztes Potenzial zu besitzen. Daher werde ich immer nach dem Größten streben, um das Maximale herauszuholen. Da befinde ich mich momentan auf einem guten Weg.