Der Fall Mesut Özil hat Deutschland aufgewühlt, heftiger womöglich, als je ein anderes Thema aus dem Fußball es getan hat.
Das teure Versäumnis vieler Bundesliga-Klubs
Auf Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft und seine Rassismus-Vorwürfe gegen die DFB-Spitze folgte eine vielschichtige gesellschaftliche Debatte über das Selbstverständnis einer von Zuwanderern und ihren Kindern geprägten Nation.
Die Diskussion über Identität und Integration geht einerseits weit über den Sport hinaus. Andererseits findet Thomas Groll, Professor an der Technischen Hochschule Regensburg, dass auch die Bundesliga-Klubs gute Gründe haben, ihren Umgang mit Profis zu überdenken, die durch andere Kulturkreise (mit-)geprägt worden sind.
Groll - Fachbereich: Strategisches und Internationales Management - findet, dass ein Großteil der Vereine in dieser Hinsicht nicht genug tut. Prominente Transfer-Flops wie Ciro Immobile bei Borussia Dortmund, Breno oder Renato Sanches beim FC Bayern seien Beispiele dafür, wie sich auch die Topklubs bei dem Thema oft schwer tun und damit auch wirtschaftlich ins eigene Fleisch schneiden.
Im SPORT1-Interview erklärt er, woran es liegt und was die Bundesliga besser machen sollte.
SPORT1: Herr Groll, was läuft aus Ihrer Sicht schief beim Umgang der Bundesliga-Klubs mit ausländischen Profis?
Groll: Viele Klubs haben zwar einen Alltagsbetreuer - einen sogenannten Intergrationsmanager -, der die Sprache spricht und die Spieler aus anderen Kulturen "an die Hand nimmt". Andere, besser ausgerüstete Klubs, haben noch spezielle Schulungszentren für Sprachkurse, Geldanlagen und ähnliche Dinge. Das klingt alles erstmal gut, aber es reicht nicht.
SPORT1: Warum nicht?
Groll: Ein festangestellter Integrationsberater, der mehrere Sprachen spricht und einzelnen Profis durch den Alltag hilft, kann kein Kulturexperte für die ganze Welt sein. Es müsste eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem Thema interkulturelle Kommunikation geben, spezielle Trainings mit Experten für die jeweiligen Länder - wie wir sie an unserem Institut anbieten. Wenn in der Wirtschaft ein Manager einen Job im Ausland übernimmt, ist so etwas selbstverständlich. Im Fußball findet es dagegen fast nicht statt.
SPORT1: Was bekommen diese Manager denn beigebracht, was Fußballer nicht beigebracht bekommen?
Thomas Groll: Das Wichtigste ist, dass die Manager befähigt werden, sich selbstständig im Gastland zu bewegen und mit der anderen Kultur aktiv umzugehen. Sie lernen, dass Dinge wie das Hierarchiegefüge, Konfliktverständnis, die Stellung der Frau oder Verständnis für Zeit- und Tagesabläufe je nach Kultur anders sein können. Wenn man das verinnerlicht hat, erleichtert das die soziale Umgangsform bereits deutlich – unabhängig von der Sprachebene. Ein Beispiel: In Deutschland ist es zum Beispiel kein Problem, dass Vertreter eines verantwortlichen Managers auch Entscheidungen treffen können. In Italien oder Südamerika ist das aber nicht so. Da muss immer der Chef selbst das letzte Wort sprechen.
SPORT1: Mit solchen Details aus der anderen Kultur sollte sich doch aber nicht nur der in ein anderes Land wechselnde Spieler beschäftigen, sondern auch das Team, das ihn aufnimmt, oder?
Groll: Absolut, es macht immer für beide Seiten Sinn. Es profitiert auch die Familie des Sportlers, der in ein neues Land kommt. Die großen Klubs versuchen da zwar Hilfestellung zu geben, aber selten systematisch. Sie geben den Neuzugängen gerne ein großes Netzwerk von Freunden oder Menschen, die aus der gleichen Nation kommen, an die Hand und hoffen dann, dass das schon irgendwie passen wird. Tut es aber oft nicht.
SPORT1: Sie haben diese Defizite schon in früheren Interviews angesprochen, aber anscheinend nicht überall Gehör gefunden. Woran liegt das?
Groll: Das Hauptproblem ist, dass die Vereine interkulturelle Trainings gleichsetzen mit ihrem Integrationsbeauftragten. Und dann denken sie eben, so etwas brauchen wir nicht, das haben wir ja schon. In unseren Gesprächen mit den Klubs war es oft so, dass der Integrationsbeauftragte daneben stand und meinte: "Das Wichtigste für meine Spieler ist, dass sie wissen, wo es das Mittagessen gibt." Aber genau darum geht es eben nicht. Je freier sich jemand in einer anderen Kultur bewegen kann, desto selbstbewusster wird er. Das spiegelt sich dann auch in der Leistung wider. Ein anderer Punkt, der vielleicht dazu beiträgt, das Problem zu unterschätzen: Das fehlende kulturelle Verständnis schlägt oft auch nicht im ersten Moment durch. Am Anfang ist immer diese "Honeymoon-Phase", in der aus Sicht des Spielers erstmal alles toll ist am neuen Land. Aber nach drei, vier Monaten fehlt dann vielleicht doch die Familie oder das Verständnis vom Gegenüber.
SPORT1: Bei welchen Klubs sind Sie mit Ihren Ideen besser durchgedrungen, bei welchen schlechter?
Groll: Tendenziell sind die weniger traditionell gesinnten Vereine offener. Ich möchte hier aber bewusst keine Vereine beim Namen nennen.
SPORT1: Das Thema ist ja auch politisch aufgeladen. Die einen sind offen für Multikulturalismus, die anderen fordern eine Leitkultur.
Groll: Richtig. Wir versuchen zu vermitteln, dass keine Kultur der anderen überlegen ist und alles seine Vor- und Nachteile hat. In der deutschen Kultur ist es üblich, immer alles Schritt für Schritt zu machen. In Italien beispielsweise dagegen ist es gängiger, mehrere Dinge parallel zu erledigen. Für Deutsche kommt das oftmals konzeptlos und schludrig herüber, aber es ist eben einfach eine andere Denk- und Herangehensweise und fördert auch die Kreativität.
SPORT1: Was im Fußball ja nichts Schlechtes ist.
Groll: Eben. Es ist nicht zufällig so, dass ein Mittelfeldspieler aus Brasilien vielleicht einen Tick kreativer spielt und der Deutsche von seiner Art her eher der Typ Verteidiger. Wir schaffen dafür mit diesen Trainings ein Bewusstsein. Oder auch dafür, worauf man als Trainer achten sollte: Wenn du Kritik an einem Südamerikaner äußerst, machst du das eher unter vier Augen statt vor der gesamten Mannschaft - Stichwort "Verlust des Gesichts". Klar ist der Trainer der Chef und muss auch mal Ansagen vor der Mannschaft machen. Aber in solchen Fällen sollte er diese Themen besser erstmal im Einzelgespräch ansprechen.
SPORT1: Verlassen sich zu viele Klubs darauf, dass sich solche Dinge mit dem gesunden Menschenverstand lösen lassen statt mit speziellen Trainings?
Groll: Ja, definitiv. Und ich kann das auch verstehen. In Unternehmen ist es manchmal auch noch so – obwohl, wie gesagt, interkulturelle Trainings dort viel weiter verbreitet sind. Es gibt auch da hin und wieder noch die Denkweise: "Der verdient so viel, der muss das einfach hinbekommen." Das ist aber einfach Quatsch. Die Investition in interkulturelles Training lohnt sich, es ist ein Beitrag zur Risikoabsicherung.
SPORT1: Hätte ein interkulturelles Training im Fall Mesut Özil vielleicht auch geholfen, die unterschiedlichen Befindlichkeiten beider Seiten besser zu verstehen?
Groll: Natürlich ist auf beiden Seiten etwas schief gelaufen, soweit ich das beurteilen kann. Aber das ist ein politisches Thema. Wenn es um den Umgang mit einer Person wie Erdogan geht, berührt das ein größeres Feld als fehlendes kulturelles Verständnis.