Dass es die eine oder andere Überraschung gibt, wenn ein neuer Nationaltrainer zum ersten Mal an einem Kader bastelt, ist grundsätzlich nicht verwunderlich.
Tuchels überraschender Schachzug
Und doch schauten die Fans der „Three Lions“ am Freitagmorgen um neun Uhr, als der englische Fußballverband FA das Team für die anstehenden Länderspiele bekannt gab, etwas verdutzt auf einen Namen unter den Nominierten: Jordan Henderson.

Tuchel: „Jordan verkörpert alles, was wir wollen“
Von einer „Schock-Rückholaktion“ schrieb die Daily Mail, Henderson sei die wohl am meisten diskutierte Entscheidung von Tuchel. Schließlich schien der mittlerweile 34 Jahre alte Mittelfeldspieler seine „internationale Karriere schon beendet zu haben“, als er im Sommer 2023 aus Liverpool nach Saudi-Arabien zu Al-Ettifaq wechselte. So ließen die Reaktionen in den sozialen Medien naturgemäß nicht lange auf sich warten. „Tuchel raus“, schrieb ein User scherzhaft. Ein anderer fragte ironisch: „Ist Southgate zurück?“
Tuchel, der am 1. Januar seinen Job als Englands Nationaltrainer übernahm und auf Gareth Southgate folgt, verteidigte seine Entscheidung aber umgehend.
„Wir versuchen, ein Team aufzubauen, auf das unsere Fans stolz sind, mit dem sie sich identifizieren können. Jordan verkörpert alles, was wir wollen“, so der frühere Bundesliga-Coach. Eine gewisse Verwunderung jedoch blieb - denn Henderson spielte nach seinem Abschied von der Insel sportlich keine große Rolle mehr und fiel abseits des Platzes immer wieder negativ auf. Doch der Reihe nach.
Henderson kassierte medialen Shitstorm
Von 2011 bis 2023 trug Henderson das Trikot des ruhmreichen FC Liverpool, führte den Klub als Kapitän zum vielumjubelten Sieg in der Champions League und ein Jahr später zum Gewinn der Premier League, der ersten Meisterschaft seit 1990. Unvergessliche Erfolge. Insgesamt absolvierte er stolze 492 Pflichtspiele für die Reds und galt über die Jahre nicht umsonst als rechte Hand von Jürgen Klopp. Aber seine Einsatzzeiten wurden nach und nach weniger.
Die Unzufriedenheit des 81-maligen englischen Nationalspielers wuchs so im gleichen Maße und schließlich entschloss sich Henderson zu einem radikalen Schritt: Saudi-Arabien sollte seine neue Heimat werden. Vor allem in England kam das nicht gut an, medial brach die Hölle über ihn herein. Grund war sein jahrelanges Engagement für die LGBTQ+-Community - und dann wechselte ausgerechnet er zu Al-Ettifaq, in einen autoritären Staat, in dem Homosexualität mit dem Tod bestraft werden kann.
Hinzu kam: In den 17 Spielen für seinen neuen Klub holte ihn die Realität schnell ein. Im Schnitt besuchten nur 7.854 Fans die Heimspiele im Prince Mohamed bin Fahd Stadium. Auswärts bei Al-Riyad waren es sogar nur 696 Zuschauer, die Partie bei Al-Fayha wollten lediglich 610 Anhänger sehen. Eine extreme Umstellung für jemanden, der sich an den Mythos Anfield gewöhnt hatte: Die einzigartige Fankultur, die legendäre Tribüne „The Kop“, 57.000 jubelnde Fans bei jedem Spiel.
Wirbel um Henderson in Amsterdam
Auch auf dem Rasen lief es nicht rund, das letzte seiner 81 Länderspiele bestritt Henderson im November 2023. Nach einer Weile, so berichtete The Athletic, habe er sich gegenüber Freunden über das schlechte sportliche Niveau in der Saudi Pro League beschwert. Die hohen Temperaturen seien dazu ein Problem gewesen, und seine Familie habe sich nie richtig eingelebt. Die Folge: Nach einigen Monaten bei seinem Verein Al-Ettifaq beendete er sein Abenteuer schon wieder und wechselte im Januar 2024 zu Ajax Amsterdam.
Zurück in Europa blühte der Engländer tatsächlich wieder auf. Der Mann aus Sunderland führte den Traditionsklub aus einer tiefen Krise und ist in der aktuellen Saison Stammspieler beim Tabellenzweiten der Eredivisie.
Doch Henderson wollte mehr, Amsterdam schon wieder verlassen und in Monaco nach Höherem streben: Dort winkten Champions-League-Fußball, Sonne und bessere finanzielle Möglichkeiten. Ajax sei wiederum „schockiert“ gewesen über diese Anfrage, schrieb der Mirror. Und auch im Rest der Niederlande stieß das Verhalten des Engländers auf heftige Kritik.
Henderson? „Ist ein Seriensieger“
Aber Ende Januar meldete De Telegraaf plötzlich, der zentrale Mittelfeldspieler habe eine Kehrtwende vollzogen und den Vereinsbossen signalisiert, doch bei Ajax bleiben zu wollen. Die Mannschaft führte er allerdings nicht mehr als Kapitän an, was er in der laufenden Saison eigentlich war - und nur wenige Tage später krachte es erneut.
Henderson dementierte das Gerücht, er wolle den Verein verlassen und erklärte, die Presse habe „vieles aus dem Zusammenhang gerissen“ und „Unwahrheiten“ über seine Person verbreitet.
Erst danach wurde es kurzzeitig ruhig um Henderson - bis Tuchels Kader in die weite Welt ging. „Jordan ist ein einfacher Fall, er ist ein Seriensieger“, führte Tuchel die Gedanken hinter seiner überraschenden Entscheidung aus: „Was er in jedes Team einbringt, ist Führungsstärke, Charakter, Persönlichkeit und Energie.“ Wie er diese Eigenschaften einbringen wird, dürfte sich bereits am Freitag zeigen. Dann trifft England zum Auftakt der WM-Qualifikation auf Albanien.