Home>Fußball>

Ein Tor machte ihn zur Legende - Ein Nachruf auf DFB-Spieler Karl-Heinz Schnellinger

Fußball>

Ein Tor machte ihn zur Legende - Ein Nachruf auf DFB-Spieler Karl-Heinz Schnellinger

{}
{ "placement": "banner", "placementId": "banner" }
{ "placeholderType": "BANNER" }

„Ausgerechnet Schnellinger“

Kaum ein anderer hat die WM 1970 so geprägt wie Karl-Heinz Schnellinger. Er ist eine Legende des deutschen Fußballs, wenngleich er in Italien ebenso gefeiert war.
Karl-Heinz Schnellinger im Spiel gegen Italien 1970
Karl-Heinz Schnellinger im Spiel gegen Italien 1970
© IMAGO/Sven Simon
Udo Muras
Udo Muras
Kaum ein anderer hat die WM 1970 so geprägt wie Karl-Heinz Schnellinger. Er ist eine Legende des deutschen Fußballs, wenngleich er in Italien ebenso gefeiert war.

Ein Tor hat ihn berühmt gemacht, nicht nur, weil es sein einziges war. Karl-Heinz Schnellinger schuf einen der berühmtesten Momente der WM-Geschichte und provozierte einen der berühmtesten Reportersprüche. Sein Leben enthielt viel mehr als diesen einen Moment, nun ist es beendet – nach 85 Jahren. Ein Nachruf.

{ "placeholderType": "MREC" }

„Haben Sie einen Reisepass?“ Mit dieser Frage aus dem Munde von Bundestrainer Sepp Herberger nahm das Leben eines knapp 19-jährigen Mannes eine rasante Wendung. Karl-Heinz Schnellinger hatte Herberger in einem inoffiziellen Test zwischen Deutschland und der Schweiz im März 1958 in Basel derart beeindruckt, dass er ihn zum Länderspiel nach Prag mitnehmen wollte. Der Kicker schrieb damals: „Dieser Läufer, Schnellinger, fiel von Beginn an auf. Zunächst durch seine stramme Statur und seinen leuchtenden Blondschopf, alsdann durch seine überaus solide Spielweise, später – passend zu seinem Namen – durch schnelles Laufen und schnelles Handeln.“ Das Erste von vielen Lobliedern auf einen kommenden Weltklassespieler im DFB-Dress klang ebenso vielversprechend wie Herbergers zurückhaltendes Lob: „Vielleicht wird noch was aus Ihnen!“ Das hoffte er schon länger, seit er mit 16 vor 110.000 im Bernabéu-Stadion zu Madrid sein Land in der Schülernationalmannschaft vertreten durfte.

DFB-Debütant mit 19 Jahren

Am Reisepass scheiterte der Plan also nicht. Nur zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag ließ Herberger den Verteidiger der zweitklassigen (!) SG Düren 99 am 2. April 1958 im Mittelfeld als „linker Läufer“ auflaufen und war trotz der 2:3-Niederlage voll des Lobes über seinen Debütanten: „Er hat sich in unseren starken Abwehrblock hineingespielt und erinnert mich in manchen Szenen an den sprunggewaltigen jungen Posipal.“ Die Presse hatte ihre Sensation: „Ein Oberschüler für Deutschland!“

Das mit der Oberschule hat sich dann schnell erledigt. Die Interessen von Schule und Fußball stritten fast täglich um die kostbare Zeit des Heranwachsenden. Der Vater, der mit Fußball nichts am Hut hatte, drängte auf das Abitur, doch der Fußball forderte einen immer höheren Tribut in Form von Reisen, Lehrgängen und Training. Trotz seiner Jugend- und Amateurländerspiele und der zahlreichen Auswahlspiele genoss Schnellinger keinerlei Privilegien am Naturwissenschaftlichen Gymnasium seiner Geburtsstadt Düren. Noch 2005 erinnerte sich Schnellinger mit kaum unterdrückten Groll an die Hindernisse der Pennälerzeit: „Ich wurde nicht unterstützt, geschweige denn gefördert. Mein armer Vater wurde einige Male beim Direktor, meinem Mathematiklehrer, vorstellig um zu helfen. Der beschied: ‚Sie können machen, was Sie wollen. Das liegt allein in Ihrer Verantwortung.‘ So hab ich, genau genommen, mit meiner professionellen Berufsauffassung mein Abitur versaut. Woher die Zeit nehmen, um zu lernen?“

{ "placeholderType": "MREC" }

Er ging also ohne Abitur von der Schule und machte seine Fußball-Lehre beim westdeutschen Oberligisten 1. FC Köln, der ihn nach der WM 1958 aus Düren weglockte. In Schweden war Schnellinger dank seines geglückten Debüts von Prag als Zweitligaspieler (!) dabei und kam zweimal zum Einsatz. Wieder gegen die Tschechen (2:2) und im Spiel um Platz 3 gegen Frankreich (3:6). Zweimal schrieb er Geschichte: mit dem ersten Einsatz avancierte er zum jüngsten deutschen WM-Spieler aller Zeiten, ehe ihn Youssoufa Moukoko 2022 ablöste, und beim zweiten „habe ich Just Fontaine dabei geholfen, WM-Torschützenkönig zu werden.“ Sein Gegenspieler schoss drei Tore.

Man sah es „Kalli“ nach. Fritz Walter sagte noch 1962 „in aller Bescheidenheit“, er habe schon nach dem Debüt in Prag „unserem Karl-Heinz Schnellinger eine große Karriere prophezeit“.

1962: Fußballer des Jahres

So kam es. Viermal in Folge wurde er mit Köln Westdeutscher Meister und 1962 stand er in der ersten Kölner Meisterelf, die im Finale den 1. FC Nürnberg 4:0 besiegte. 1962 war sein großes Jahr. Bei der ansonsten enttäuschenden WM in Chile gehörte er zu den großen Gewinnern. Er wurde nach dem Turnier in nahezu jede fiktive Weltauswahl der internationalen Presse gewählt, 1963 lief er auch in einer reellen auf. Am 27. Oktober 1962 wählten ihn die deutschen Sportjournalisten zum Fußballer des Jahres mit 149 Stimmen, gefolgt von seinem Kölner Kapitän Hans Schäfer. Und Italien rief nach ihm, die AS Rom am lautesten.

Seine Vielseitigkeit war sein größtes Plus. Am meisten stellten sie ihn auf als linken Verteidiger, aber rechts wäre auch kein Problem, denn er schoss beidfüßig.

{ "placeholderType": "MREC" }

Fußballer ein Beruf? „In Deutschland wenig Verständnis“

Profi war er zu seiner Glanzzeit zunächst nicht. Das erlaubten die DFB-Statuten nicht, so war er von Beruf offiziell Vertreter für Geschenkartikel im Unternehmen von Kölns Präsident Franz Kremer. Schnellinger hat das nie verstanden: „Wir Kicker bewegten uns irgendwo auf der Ebene der Kneipen- und Tankstellenbesitzer. Und das war es ja auch, was man bestenfalls mit diesem Sport erreichen konnte. Dass Fußball ein Beruf ist, dafür gab es in Deutschland damals wenig Verständnis.“

Nach 220 Spielen für den 1. FC Köln zog es ihn ausgerechnet unmittelbar vor Gründung der Bundesliga 1963 deshalb ins damals gelobte Fußballland Italien. „Wenn die Bundesliga etwas früher gekommen wäre, wäre ich vielleicht sogar geblieben“, sagte er vor fünf Jahren im Kicker. FC-Präsident Kremer kämpfte damals nicht lange und sagte: „Du musst das machen.“ Köln strich die damalige Rekordsumme von angeblich 550.000 DM ein, Schnellinger soll 350.000 DM Handgeld bekommen haben. Unvorstellbare Summen für deutsche Ohren in jenen Tagen. Seine Absichten hat er nie verleugnet: „In Italien spiele ich, um möglichst viel Geld zu verdienen“, sagte er 1967.

Wahlheimat Italien

Und so wurde aus „Kalli“ der „Carlo“. Den Zuschlag erhielt die AS Rom. Weil sich der Transfer so lange hinzog, hatten sie aber schon zwei Ausländer verpflichtet – und mehr durften damals nicht spielen. So wurde „Carlo“ zunächst mal an den AC Mantua verliehen. Auch erste Liga, aber zweite Reihe. Seine Länderspielkarriere wurde jäh unterbrochen, weil der DFB auch keine „Legionäre“ haben wollte in seiner Auswahl. Carlo machte so seine ersten unangenehmen Erfahrungen im zuweilen seelenlosen Profigeschäft. Vom Klub verramscht, von der Heimat aussortiert. Auf der Bank aber saß er auch in Italien nie und 1964/65 spielte er doch noch für die Roma – nur für ein Jahr, in dem er italienischer Pokalsieger wurde. Dann kam das Angebot, das sein weiteres Leben bestimmen würde: Der AC Mailand lockte und dort spielte er von 1965 bis 1974. Hier wurde er auch heimisch, im Einzugsbereich der Stadt. Der Ort heißt Segrate.

In Italien lief ihm der Erfolg nach, Milan erlebt eine goldene Epoche, mit Stars wie Gianni Rivera, Knut Hamrin und Giovanni Trapattoni. Und mit „Carlo“, der als erster Deutscher zweimal Europapokalsieger wurde: 1968 Cup der Pokalsieger (2:0 gegen den HSV), 1969 Cup der Landesmeister. Zur Krönung folgte der Weltpokal (1969). Den dritten Europacup-Triumph vermasselte ihm der 1. FC Magdeburg im Pokalsiegerfinale 1974.

Meister wurde „Carlo“ nur einmal (1968), Pokalsieger dreimal (1967, 1972, 1973). In seiner Italien-Zeit bestritt er binnen acht Jahren noch 26 Länderspiele, obwohl ihm oft die Freigabe verweigert wurde.

Die internationalen Terminpläne waren noch nicht aufeinander abgestimmt, um Freigaben musste immer gekämpft werden, doch die Vereine hatten das letzte Wort.

{ "placeholderType": "MREC" }

Ein Tor machte ihn unsterblich

Aber bei den vielen großen, mythenumrankten Spielen der WM-Geschichte war er dabei. Er sah 1966 Lothar Emmerichs Traumtor in Sheffield gegen Spanien und das legendäre Wembley-Tor im Finale – und er war in Mexiko bei beiden Jahrhundertspielen dabei. Beim 3:2 gegen England schlug er die Flanke auf Uwe Seelers Hinterkopf und was am 17. Juni 1970 in Mexiko City geschah, das weiß jeder Fußballfan. Es war die Sommernacht, als „ausgerechnet Schnellinger“ zu Berühmtheit gelangte. Gegen Italien, sein Gastland, drückte der Verteidiger in letzter Minute den Ball zum 1:1 über die Linie. Es war sein einziges Tor in 47 Länderspielen und es fiel im denkbar wichtigsten Moment, denn es schenkte der Welt die bis heute torreichste Verlängerung eines WM-Spiels. Und dem Torschützen so etwas wie Unsterblichkeit. „Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen“, heißt der vollständige Satz von ARD-Reporter Ernst Huberty. Während sich Fußballdeutschland in jener heißen Nacht in den Armen lag, diskutierten zwei Italiener auf der Tribüne des Aztekenstadions, was nun werden sollte. Milan-Präsident Franco Carraro und Trainer Nereo Rocco waren im Zweifel, ob sie Schnellinger nun entlassen müssten oder nicht. Da Italien das verrückte Spiel noch 4:3 gewann, wurde Carlo begnadigt. Später sagte Schnellinger noch oft: „Das war ein Geschenk von oben. Ohne dieses Tor hätte man mich vergessen.“

Es klang immer ein bisschen Bitterkeit aus den Worten des Auswanderers und Vater dreier Töchter, der die „angemessene Anerkennung“ der Heimat für seine Leistungen in Italien stets vermisst hat. Seine Meinung kann man teilen oder auch nicht. 2005 fand er jedenfalls: „Wir haben viel getan für Deutschland – wir, die wir damals ins Ausland gegangen sind. Unser Land wurde mit Krieg identifiziert, mit Hitler, nicht mit Offenheit und gutem Fußball. Aber daran hat keine Sau gedacht. Man hat uns das Geld vorgerechnet und man hat von Verrat gesprochen. Ich bin mir sicher, dass wir Spieler mehr für Deutschland getan haben als alle Konsuln, Botschafter und Politiker zusammengenommen.“ Sein Lohn seien 200 Mark Rente von Deutschland gewesen.

Fakt ist, dass nur wenige Fußballer an vier Weltmeisterschaften teilgenommen haben. Und wer kann schon sagen, mit drei Ehrenspielführern WM-Spiele bestritten zu haben? Er war 1958 dabei, als Fritz Walter ging und Uwe Seeler kam und 1966 spielte er auch an der Seite von Franz Beckenbauer.

{ "placeholderType": "MREC" }

Wahrlich eine große Karriere, der das ruhmlose Ende keinen Abbruch tut. 1974 ging er mit 35 noch in die Bundesliga, beendete das Abenteuer bei Tennis Borussia Berlin aber vorzeitig und schlug eine Kaufmannslaufbahn (u.a. als Generalvertreter für Einbauküchen) ein. In Italien, wo aus „Kalli“ „Carlo“ wurde und von wo er nie mehr weg wollte. „Ich mag das Land und die Menschen. Sie lachen gerne und sind fröhlich. Ein bisschen erinnern sie mich an die Rheinländer“, sagte er 2011. Nun ist er in seiner zweiten Heimat verstorben.