Galatasaray steht in der türkischen Süper Lig unmittelbar vor dem Titelgewinn. Im Heimspiel gegen Verfolger Fenerbahce kann Gala, das aktuell sechs Punkte vor dem Stadtrivalen liegt, den letzten Schritt machen.
Irres Türkei-Finale - „Wahnsinn“
Der frühere Sportjournalist Fatih Demireli arbeitet seit Oktober 2022 als Direktor Entwicklung für Galatasaray. Im SPORT1-Interview spricht der 40-Jährige über das brisante Derby, das Image des türkischen Fußballs und die „deutsche Clique“ bei Gala.
Demireli: „Brisanz ist natürlich da“
SPORT1: Herr Demireli, am Sonntag kann Galatasaray im Derby gegen Fenerbahce den Meistertitel perfekt machen. Wie ist die Stimmung vorab?
Fatih Demireli: Ich habe mich früher als Journalist darüber aufgeregt, wenn man immer sagt, man denkt von Spiel zu Spiel - aber wenn man mittendrin ist, denkt man tatsächlich so. Wir haben vor drei Wochen noch nicht an Fener gedacht. Aber jetzt steht das Spiel vor der Tür, wir spielen zuhause und können mit einem Punkt Meister werden. Natürlich haben wir einen starken Gegner, Fenerbahce hat 93 Punkte gesammelt, wir haben 99 - das ist eigentlich der Wahnsinn und eine unfassbare Leistung von beiden Mannschaften. In der Derbyatmosphäre wachsen gerne auch mal Spieler oder Teams über sich hinaus. Daher ist es wichtig, dass wir mit voller Konzentration an die Sache herangehen.
SPORT1: Gibt die mögliche Meisterentscheidung dem Derby noch eine besondere Brisanz?
Demireli: 2012 hat Gala bei Fenerbahce den Titel klargemacht. Jetzt haben wir die Chance, zum ersten Mal zuhause gegen Fener Meister zu werden. Das ist natürlich etwas Besonderes für den Verein, die Fans und die Mannschaft. Das ganze Tohuwabohu außerhalb kann die Mannschaft aber ganz gut ausblenden. Das ist gar nicht so einfach hier in der Türkei, weil du ständig damit konfrontiert wirst. Es sind alle fußballverrückt. Egal, ob du zum Bäcker gehst oder nur dein Auto parkst, wirst du immer von den Menschen angesprochen. Das auszublenden und den Druck nicht an dich ranzulassen, ist eine Kunst. Aber die Brisanz ist natürlich da. Gala und Fener könnten auch um eine Radkappe oder um Gänseblümchen spielen, da würde es trotzdem brennen. Aber das macht es auch aus. Jetzt kommt noch die sportliche Relevanz dazu. Ich freue mich auf die Stimmung am Sonntag.
„Die Leute hatten Tränen in den Augen“
SPORT1: Tohuwabohu ist ein gutes Stichwort. Im April endete das Supercupfinale zwischen Galatasaray und Fenerbahce in einer Farce, als Fener nur mit Jugendspielern angetreten war. Es war die Eskalation eines schwelenden Konflikts zwischen Fener und dem türkischen Verband. Wie haben Sie das als Finalteilnehmer erlebt?
Demireli: Das ist eigentlich eine Sache zwischen Fenerbahce und Verband, wir als Klub haben versucht, uns da rauszuhalten. Das Spiel war in Sanliurfa (im Süden der Türkei rund 40 Kilometer entfernt von der Grenze zu Syrien, Anm.d.Red.), in einer Region, in der es seit Jahren keinen Erstligafußball gibt. Wir waren vor Ort und haben diese Liebe und diese Sehnsucht gespürt, die Leute hatten Tränen in den Augen. Unsere Abfahrt vom Flughafen Richtung Hotel hat sich um eine halbe Stunde verzögert, weil alles voller Menschen war. Die haben die ganze Nacht durchgesungen und unser Hotel belagert. Es war der Wahnsinn, was in der Stadt los war.
SPORT1: Als Beteiligter ist man dabei in einer schwierigen Situation …
Demireli: … weil du letztlich mit der Konzentration, ein Spiel zu spielen, anreist. Der Spielplan war eh schon sehr eng, durch die Neuansetzung wurde alles noch mal um eine Woche nach hinten verschoben. Für die Gala-Fans in Urfa war es trotzdem schön, weil sich die Mannschaft am Hotel gezeigt hat. Im Stadion haben wir dann noch elf gegen elf gespielt und den Fans damit noch ein bisschen Fußball geboten.
Image des türkischen Fußballs? „Dabei sollte jeder Verein Verantwortung übernehmen“
SPORT1: Wie sehr hat das Image des türkischen Fußballs dadurch Schaden genommen?
Demireli: Lange Zeit ist gar nichts passiert. Als Journalist habe ich auch recht kritisch über den türkischen Fußball berichtet, aber es wurde viel unternommen, damit sich das Image verbessert. Strukturell hat sich einiges verändert. Es gibt eine neue Generation von Fußball-Verantwortlichen, -Konsumenten und -Journalisten, die das öffentliche Bild formen. Man erwartet, dass der türkische Fußball sich internationaler aufstellt und dass man den Anschluss nicht verliert. Es ist auch nicht so schwierig, wieder den richtigen Weg einzuschlagen. Dabei sollte jeder Verein für sich Verantwortung übernehmen und seinen Teil dazu beitragen. Wir haben international viele Punkte gesammelt, sind wieder in den Top 10 der Fünf-Jahres-Wertung. Das bekommst du zurück, wenn du dich auf Fußball konzentrierst. Daher muss das der Weg sein.
SPORT1: Gerade mit den Auftritten in der Champions League konnte Galatasaray in der Gruppe mit Bayern München Pluspunkte sammeln. Fällt die internationale Bilanz trotz des frühen Ausscheidens in den Europa-League-Playoffs gegen Sparta Prag positiv aus?
Demireli: Absolut. Vor zwei Jahren waren wir 13. und Gala hatte sehr große Nöte in Liga. Dann wurden wir Meister und haben wieder in der Champions League gespielt. Es war keine einfache Gruppe. Gerade in den beiden Spielen gegen Bayern (1:3, 1:2) und gegen United (3:2, 3:3) haben wir schon Zeichen gesetzt. In den Gesprächen mit den Bayern-Spielern und -Verantwortlichen gab es hinterher sehr, sehr großen Respekt für uns. Das hat gutgetan. Bei den Spielen der Bayern gegen Arsenal und Real hatte ich richtig Wehmut. Hätten wir noch mehr Luft gehabt, hätten wir vielleicht was Zählbares mitnehmen können. Es war auf jeden Fall gut für unser Selbstvertrauen, wir haben schließlich auch United hinter uns gelassen. Wir hatten gegen Sparta Prag leider großes Verletzungspech. Wir wollen in der neuen Saison daran anknüpfen und den Weg weiter gehen. Die Meisterschaft ist sehr wichtig. Aber das große Ziel des Klubs ist es, international wieder für Furore zu sorgen.
SPORT1: Sie sind seit Oktober 2022 „Direktor Entwicklung“ bei Galatasaray – wie sieht Ihr Job konkret aus?
Demireli: Die Grundidee war, dass der deutsche Fußball schon immer eine große Bedeutung in der Türkei hatte. Große Namen wie Jupp Derwall, Kalli Feldkamp oder Christoph Daum haben hier strukturell viel bewegt. Ihr Stellenwert ist extrem hoch, teilweise höher als in Deutschland. Von daher guckt man immer nach Deutschland, wenn es um Entwicklung geht. Als bei Gala der neue Vorstand gewählt wurde, hat mich Vize-Präsident Erden Timur angerufen und gesagt, man wolle sich strukturell neu aufstellen und nachhaltiger arbeiten. Er fragte: Wie machen das die deutschen Klubs, erzähl doch mal. Und aus den ganzen Erzählungen ist irgendwann mein Job entstanden. Sowohl beim Nachwuchs als auch bei den Profis hat man vieles vorangebracht. Dazu zählen auch die Kaderplanung und die Transfers. Die Nachwuchsarbeit ist sehr wichtig bei der großen Fußballbegeisterung. Wenn man nicht die richtigen Strukturen hat, wird es schwierig. Da haben wir vieles geschafft, um nachhaltig zu arbeiten und für den Profibereich die Weichen zu stellen.
„Haben inzwischen eine deutsche Clique bei Gala“
SPORT1: In Kerem Demirbay, Kaan Ayhan, Derrick Köhn oder Eyüp Aydin sind zuletzt einige frühere Bundesliga- und Zweitliga-Profis zu Galatasaray gewechselt …
Demireli: Das liegt ja nahe, dass der Klub die Kontakte, die ich zum deutschen Markt habe, nutzt. Bei Demirbay, Ayhan, Köhn und Aydin war ich mit im Boot. Wir haben ein top Scoutingteam, sobald von dort Grünes Licht kommt und die sportliche Führung in Person des Trainers ihr Okay gibt, kommt mein Part. Dann nehme ich Kontakt auf und versuche im gesteckten Rahmen, den Deal voranzubringen. Es macht Sinn, wenn man mit den deutschen Vereinen auf Deutsch sprechen kann und man weiß bei den Deutsch-Türken besser, welche Fragen sie haben und was ihnen wirklich wichtig ist. Das hat allen bei diesen Transfers sehr geholfen. Natürlich ist es gut, wenn alles, was du erzählt hast, dann auch so kommt (lacht). Nicht, dass du etwas erzählst und es passiert das Gegenteil. Aber im Ernst, die Jungs fühlen sich sehr wohl. Wir haben inzwischen eine deutsche Clique bei Gala. Es wird sehr viel Deutsch gesprochen, sodass andere Spieler schon anfangen Deutsch zu lernen, damit sie verstehen, was wir den ganzen Tag reden.
SPORT1: An welchen Personen lässt sich der sportliche Erfolg in dieser Saison besonders festmachen?
Demireli: Da könnte man über jeden Spieler etwas sagen. Sie sind alle super. Ein Dries Mertens ist mit seinen 37 Jahren unfassbar, auch was er jeden Tag für eine Mentalität im Training an den Tag legt. Aber da muss ich vor allem Trainer Okan Buruk erwähnen. Er ist in seiner zweiten Saison, wenn wir die letzten beiden Spiele auch noch gewinnen, haben wir 105 Punkte - damit wären wohl auf ewig alle Rekorde gebrochen. Er besitzt darüber hinaus in diesem harten Profigeschäft, in dem viele Egoismen herrschen, ein ganz hohes menschliches Niveau, gerade wie er den Spielern begegnet und Krisen managt. Man denkt immer, wenn man Tabellenführer ist, ist alles eitel Sonnenschein, aber so ist es nicht. Man muss in jeder Mannschaft immer irgendwelche Sachen lösen. Die Spieler haben große Sympathien für ihn. Auch für mich ist er eine wichtige Person, er hat mich von Anfang an unterstützt. Als Fußballfan war er für mich früher eine Legende bei Gala. Seine Geschichte vom Wonneproppen in der Jugend zum Spieler bis hin zum Cheftrainer, der jetzt hoffentlich zum zweiten Mal Meister wird, ist etwas Besonderes.
SPORT1: Ist absehbar, was bei einem möglichen Titelgewinn passiert?
Demireli: Es ist absolute Konzentration gefragt, weil wir noch nicht Meister sind. Deswegen müssen wir das Spiel mit aller Ernsthaftigkeit angehen. Das verdient auch der Gegner. Danach werden wir uns ein paar Sachen überlegen, wie wir feiern. Wir haben tatsächlich noch nichts geplant. Eine Party kann man immer planen, aber erstmal muss man die Arbeit machen. Auch die Spieler fragen mich nicht danach, sondern konzentrieren sich darauf, Meister zu werden.