Als er selbst noch auf dem Fußballplatz stand, war er ein Spieler für Genießer.
Der Verlust einer Jahrhundertfigur
Den „Strauß von Zeljo“ nannten sie den Spielmacher, der 1,89 Meter groß war, aber virtuos mit dem Ball zu tänzeln wusste - „Zeljo“ war der Spitzname des FK Zeljeznicar Sarajevo, bei dem Ivica Osim einen Großteil seiner Karriere verbrachte.
Im Jahr 1968 war Osim der Spielmacher der jugoslawischen Nationalmannschaft, die bei der EM sensationell Weltmeister England mit Bobby Moore und Geoff Hurst ausschaltet und damit ins Finale einzieht. Weil Osim sich dabei verletzt, muss er zusehen, wie sein Team die historische Chance verpasst und Italien unterliegt.
Obwohl Osim an diesem Tag die Chance auf die Krönung seiner aktiven Karriere verwehrt bleibt, wird er als Legende in Erinnerung bleiben. Als international anerkannter Top-Coach, der in seiner späteren Wahlheimat Österreich gar den Rang als „Jahrhundert-Trainer“ genießt. Aber auch als beeindruckende Persönlichkeit, deren berühmtester Moment auch Jahrzehnte später als eindrucksvolles Statement der Menschlichkeit in Erinnerung ist.
Der Krieg zerstörte Ivica Osims Heimat
Osim wird 1986 nach einer erfolgreichen Zeit als Vereinstrainer von „Zeljo“ zum Nationaltrainer Jugoslawiens berufen. Er führt das hochkarätig besetzte Vielvölker-Ensemble zur WM 1990 in Italien, trotz einer 1:4-Auftaktschlappe gegen den späteren Weltmeister Deutschland - zwei Tore des sich in Weltfußballerform steigernden Lothar Matthäus - läuft das Turnier erfolgreich.
Das Team um Osims herausragendem Spielmacher-Erben Dragan Stojkovic dringt bis ins Viertelfinale vor und zwingt den Finalisten Argentinien nach 120 Minuten ins Elfmeterschießen. Obwohl die Ikone Diego Maradona vom Punkt vergibt, rettet der argentinische „Elfer-Killer“ Sergio Goycochea mit zwei Paraden das Weiterkommen.
Auch für die EM 1992 gelingt Osims Team die sportliche Qualifikation - doch kurz vor Turnierbeginn muss die Legende hilflos miterleben, wie seine Heimat an dem beginnenden Krieg zwischen serbischen und kroatischen Nationalisten zerbricht. Osims Heimat, die ethnisch und von unvereinbaren politischen Interessen zerrissene Teilrepublik Bosnien, wird ab April 1992 zum Zentrum der militärischen Eskalation.
Der Krieg führt zum EM-Ausschluss Jugoslawiens (Ersatzteilnehmer Dänemark gewinnt sensationell den Titel), der von den Ereignissen schockierte und erschütterte Osim setzt schon Tage vorher ein Zeichen. Unter Tränen verkündet er am 22. Mai 1992 bei einer Pressekonferenz seinen Rücktritt.
„Es ist eine private Geste und meine persönliche Entscheidung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand“, erklärt er wenige Wochen nach Beginn der gewaltsamen Belagerung seiner Geburtsstadt Sarajevo durch die Armee der bosnischen Serben: „Mein Rücktritt ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich daran erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen, was dort passiert.“
Legendäre Ära in Graz
Der Krieg um Sarajevo wird für Osim auch zu einem tief persönlichen Drama: Osim lebt über zwei Jahre abgeschnitten von seiner Frau Asima und Tochter Irma, die in Sarajevo täglich um ihr Leben bangen.
Im Jahr 1994 entschließt sich Osim, ein neues Leben außerhalb der Heimat zu beginnen: Heinz Schilcher, ehemaliger Teamkollege bei Racing Straßburg (wie auch der zeitlebens mit Osim befreundete Arséne Wenger), engagiert ihn als Trainer von Sturm Graz.
Der studierte Mathematiker Osim formt in seiner neuen steirischen Wahlheimat ein nationales Spitzenteam, mit dem kroatischstämmigen Torjäger Ivo Vastic und den deutschen Legionären Franco Foda und Markus Schupp gewinnt Graz 1998 seinen ersten Meistertitel, erringt zwei Pokalsiege, qualifiziert sich dreimal hintereinander für die Champions League.
Im damaligen Arnold-Schwarzenegger-Stadion bejubeln die Grazer Fans 2001 sogar Platz 1 in der Gruppenphase der Königsklasse, trotz zweier 0:5-Niederlagen in einer turbulenten Vorrunde.
Geschätzt wie Christian Streich
Die erfolgreiche Ära in Graz macht Osim auch in Österreich zu einer Legende, die auch durch seine persönliche Aura genährt wird: Osims Pressekonferenzen werden ähnlich wahrgenommen wie später in Deutschland die PK-Termine mit Christian Streich. Auch Osim verbindet erzählfreudige Fußball-Philosophie mit ausschweifenden Gedanken über große gesellschaftliche Fragen („Geld ist Glück und Unglück. Zu viel ist gefährlich, für zu wenig will keiner arbeiten“).
Nach den acht Jahren in Graz geht Osim zu JEF United Ichibara Chiba nach Japan, wo er sich ebenfalls hohes Ansehen erwirbt. Weniger erfolgreich ist seine Zeit als japanischer Nationaltrainer, die von öffentlichen Konflikten mit Verband und Medien überlagert ist.
2007 endet das Engagement und Osims Trainerkarriere auf dramatische Weise, als er in seiner Tokioter Wohnung einen Schlaganfall erleidet und für zwei Wochen ins Koma fällt.
Nachdem Osim sich erholt hat, verlagern er und Frau Asima ihren Lebensmittelpunkt zurück nach Graz, wo ihn Ex-Klub Sturm 2009 zum Jahrhundert-Trainer kürt.
Am 1. Mai 2022 stirbt der große Ivica Osim kurz vor seinem 81. Geburtstag und genau am Jubiläumstag der Grazer Vereinsgründung, die sich heute zum 115. Mal jährt. An Osims Todestag wurden die Feierlichkeiten umgehend abgebrochen. Im vergangenen Sommer gab die Stadt Graz bekannt, dass im Eingangsbereich der Arena ein Denkmal für Osim errichtet wird.