Eine ganze Stadt fiebert mit, eine ganze Stadt hat Bock, endlich wieder Profifußball zu sehen. Dass bei so manchem Fan sogar schon die Getränke kaltgestellt werden, ist mittlerweile niemandem mehr zu verübeln. Lag Alemannia Aachen jahrelang sportlich und finanziell am Boden, steht der Klub im jetzt elften Jahr der Viertklassigkeit unmittelbar vor der Rückkehr in die 3. Liga. Die Euphorie nach all den beschwerlichen Jahren im Amateurbereich? Natürlich grenzenlos.
Ein schlafender Riese erwacht
Am Ostersamstag gab es den besten Beweis dafür: Da jubelte eine gigantische Kulisse von knapp 29.500 Zuschauern ausgelassen, als der Traditionsverein seine Träume des Aufstiegs abermals untermauerte und Fortuna Köln (1:0) schlug. „Die Fans sind sensationell, es läuft hervorragend“, sagte Willi Landgraf, der von 1999 bis 2006 bei insgesamt 208 Partien das Trikot der Schwarz-Gelben trug, im SPORT1-Interview. Seit nunmehr 17 Pflichtspielen haben die Aachener nicht mehr verloren und liegen in der Tabelle der Regionalliga West komfortable elf Zähler vor der punktgleichen Konkurrenz aus Wuppertal und Bocholt.
„Mit dem Vorsprung sieht es sehr danach aus, dass sie aufsteigen. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, aber eigentlich sollte da nichts mehr anbrennen“, betonte Landgraf deswegen. Der 55-Jährige ist dem Klub noch immer verbunden und spürt die Aufbruchstimmung in der Stadt, was vor allem auf den Tribünen zu sehen sei. Denn bei Spielen im neuen Tivoli werden regelmäßig Zahlen vermeldet, von denen selbst einige Bundesligisten nur träumen können - allein in dieser Saison wurde die 20.000er-Marke fünfmal geknackt.
Zwei Aachener Pokal-Sensationen gegen die Bayern
Unweigerlich sind es diese Momente wie der vergangene Samstag, wenn das Tivoli fast voll ist, die an die alten glorreichen Zeiten des Klubs denken lassen: Ältere Fans erinnern sich noch dunkel, dass die Alemannia - mit dem späteren Bayern-Star Jupp Kapellmann - 1969 Bundesliga-Vizemeister hinter den Münchenern war. Etwas jüngere an die Pokal-Saison 2004, an der Landgraf beteiligt war und die sich besonders tief ins Gedächtnis vieler eingebrannt haben dürfte.
Damals schaltete die Alemannia - seinerzeit gecoacht von der verstorbenen Trainer-Legende Jörg Berger - den großen FC Bayern um Oliver Kahn und Michael Ballack sensationell mit 2:1 im Viertelfinale aus, durch Tore von Stefan Blank und dem heute als TV-Experten wohlbekannten Erik Meijer. Nur drei Jahre später warf Aachen Bayern erneut im Pokal raus, diesmal von Michael Frontzeck trainiert, diesmal mit 4:2 im Achtelfinale (Torschützen: Laurentiu Reghecampf (2), Marius Ebbers, Jan Schlaudraff).
Gerade aber der Sieg 2004 stellte den Startpunkt einer wundersamen Geschichte dar: Aachen marschierte danach bis ins Endspiel und qualifizierte sich als Zweitligist für den UEFA-Cup - das wohl bis heute größte Highlight der Vereinsgeschichte. Werder Bremen, der damalige Gegner im Berliner Olympiastadion, kürte sich zwar zum Pokalsieger, war aber auch Meister geworden. Dadurch rutschte die Alemannia ins internationale Geschäft und spielte gegen Lille, Zenit St. Petersburg, in Athen und beim FC Sevilla.
Nochmal überaus positive Schlagzeilen schrieb der Klub im Jahr 2006 mit dem Aufstieg in die Bundesliga. Die Freude über die imposanten Erfolge währte allerdings nie lang. Im Jahr nach der Vizemeisterschaft 1969 stieg Aachen ab, auch der Rückkehr in die Bundesliga folgte ein rapider Sturz mit drei Abstiegen in kurzer Zeit. Sicherlich der negative Höhepunkt: Die Saison 2012/13, als Aachen auf unwürdige Art und Weise inklusive Insolvenz direkt von der 2. Bundesliga in die Regionalliga durchgereicht wurde. Ein tragischer Fall der einstigen Europapokal-Sensation in eine düstere Epoche.
„Diese Euphorie ist enorm wichtig“
Es dauerte, ehe sich der Klub nach den sportlichen und monetären Tiefschlägen wieder stabilisieren konnte. Auch der 2009 begonnene Bau des neuen Tivoli sorgte immer wieder für Ärger. Mit dem Aufstiegsrennen hatte die Alemannia dagegen lange nichts zu tun, war nur in der Saison 2015 als Zweiter nahe dran. Ansonsten reichte es nie zu mehr als Rang sechs. Bis sich in diesem Jahr alles änderte.
Für den Verein sei „diese Euphorie enorm wichtig“, sagte Landgraf. „Nicht nur an den Spieltagen im Stadion, auch finanziell. Je mehr Zuschauer kommen, desto mehr Geld fließt in die Kassen.“ Die Spieler stellen „einen Kostenfaktor“ dar, schließlich war Aachen im vergangenen Sommer mit den Transfers „All-in gegangen“. Der Alemannia-Kader wurde deutlich verstärkt, weshalb das Team schon vorher als Favorit auf den Aufstieg galt. Mit Anton Heinz kam obendrein ein absoluter Unterschiedsspieler dazu.
Sein spektakulärer linker Fuß ist zweifelsohne eine der Hauptattraktionen in Aachen und der gesamten Liga. Vor einigen Monaten schoss Heinz beim spektakulären 4:3-Sieg der Schwarz-Gelben in Wuppertal drei direkte Freistoßtore in einem Spiel - der vorläufige Höhepunkt dieser verrückten Saison. Längst dürfte der 26-Jährige auf dem Radar vieler höherklassiger Vereine zu finden sein, denn mit 15 Treffer führt er auch die Torschützenlisten in der Regionalliga West an.
Backhaus? „Ein Verrückter, der den Fußball liebt und lebt“
Glückseligkeit, wohin das Auge reicht? Derzeit ist das in Aachen so. Was jedoch einigermaßen erstaunlich ist, schaut man sich den verpatzten Saisonstart an. Zwei Pleiten und nur Rang 15 nach vier Spieltagen und resultierten in einer schnellen Korrektur: Trainer Helge Hohl wurde beurlaubt, Heiner Backhaus dafür nicht ohne Nebengeräusche vom BFC Dynamo geholt. Sein Ex-Klub attestierte ihm „vereinsschädigendes Verhalten“, was den Aachenern aber mittlerweile gänzlich egal sein wird - war Backhaus doch der gewünschte Glücksgriff.
„Er ist ein Verrückter, der den Fußball liebt und lebt und diese absolute Siegermentalität mit vielen Emotionen verkörpert. Als er die Mannschaft übernommen hat, war sie aus meiner Sicht nicht ganz gefestigt“, schilderte Landgraf und fügte hinzu: „Der Druck auf die Alemannia ist riesig gewesen. Sie sind immer der Favorit - da muss man mehr geben als die anderen, das ist einfach so. Mit ihm kam aber die Wende, weil er eine enorme Power reingelegt, viele Sachen verändert und mit Leben gefüllt hat.“
Im traditionell so nervösen Aachener Umfeld schaffte es Backhaus offenbar, die nötige Ruhe einkehren zu lassen. Inzwischen ist der Glaube an die Truppe riesig. „Und die Art und Weise, wie Aachen die Spiele gewinnt, längst kein Zufall mehr, sondern einfach nur stark und fast schon ein Selbstläufer“, erklärte Landgraf. An der lang ersehnten Rückkehr in das Profigeschäft zweifelt sieben Spiele vor dem Saisonende fast niemand mehr.