Schon bevor er sprach, war die Bestürzung in Domenico Tedescos Augen zu lesen. Vielleicht wählte er seine Worte deshalb so offen, so freiheraus über Dinge, die eigentlich hinter verschlossenen Türen passieren.
Tedesco vs. Courtois - wer gewinnt?
Der belgische Nationaltorhüter Thibaut Courtois wolle „nach Hause, weil er enttäuscht sei und sich beleidigt fühle“, sagte Tedesco am Montag leise ins Mikrofon, wie es seine Art ist, aber diesmal hatte sein Tonfall noch etwas anderes, eine Note, der er denn auch Ausdruck gab.
„Ich bin überrascht und schockiert“, erklärte der 37-Jährige – und löste damit eine Welle der Gegenreaktionen aus.
Courtois widerspricht Tedesco
„Der Nationalcoach macht sich lächerlich“, wird Belgiens langjähriger Torwarttrainer Erwin Lemmens in der Tageszeitung Het Nieuwsblad zitiert.
Schon am Montagabend hatte sich Courtois, der inzwischen auch Rückendeckung von seiner Verlobten bekam, über Social Media gemeldet, seine tiefe Enttäuschung über Tedescos Weg an die Öffentlichkeit gezeigt – doch nicht nur das.
„Ich möchte klarstellen, dass die Einschätzungen des Trainers nicht der Realität entsprechen“, schrieb der 31-Jährige bei Instagram und bezichtigte Tedesco damit indirekt der Lüge – oder zumindest der unbewussten Verdrehung.
Belgien-Zoff mit unabsehbaren Folgen
Die Frage ist, ob Tedesco ahnte, mit wem er sich anlegte, als er am Montagabend so freimütig zu einer Handvoll Journalisten sprach und dabei Courtois wegen einer nicht vergebenen Kapitänsbinde zur beleidigten Leberwurst erklärte.
„Was besprochen wurde, sollte intern bleiben. Jetzt werden andere Spieler Angst haben, etwas anderes mit ihm zu besprechen, und damit ist er ein großes Risiko eingegangen“, sagte Lemmens weiter.
Er glaube nicht, „dass es nur um das Kapitänsamt geht. Das ist die Geschichte, die Tedesco geschaffen hat“.
Was Lemmens damit andeutet: Zwischen Courtois und Tedesco hat es geknallt, vielleicht wegen einer ganz anderen Sache, mit unabsehbaren Folgen. Denn: „Es wird nicht einfach sein, das zu kitten“, meinte der frühere Nationalkeeper.
Tedesco vs. Courtois: Wer gewinnt den Machtkampf?
In einem offen ausgetragenen Machtkampf, der sich in vollem Gange befindet, stellt sich bekanntlich selten die Frage nach dem Recht als vielmehr nach der Deutungshoheit. Wer ist überzeugender, wem gelingt es glaubhafter, seine Version der Geschichte als wahr in die Welt zu tragen?
Nicht zuletzt die Reaktionen in der Presse zeigen, dass Courtois – seines Zeichens Star bei Real Madrid und WM-Dritter von 2018 – das höhere Ansehen unter den Belgiern genießt.
„Der Vertrauenskonflikt zwischen Domenico Tedesco und Thibaut Courtois scheint endgültig zu sein. Der Nationaltrainer weigerte sich, die Verletzung des unverstandenen Thibaut Courtois als Grund für seine Absage zu nennen“, schrieb denn auch die belgische Tageszeitung Het Nieuwsblad – und malte zugleich das Untergangsszenario: „Ist dies das Ende von Courtois bei den Roten Teufeln?“
Der ehemalige Atlético-Star hatte in seinem Statement angegeben, dass – neben seiner Sorge, dem allgemeinen Mannschaftswohl werde durch die Kapitänsentscheidung „geschadet“ – vor allem ein Problem an seinem Knie der Grund für seine Abreise gewesen sei.
Tedesco widerspricht Courtois-Version
Bereits sein Vater hatte diese Version der Geschichte in die Welt gesetzt – wurde aber von Tedesco abgewatscht.
„In dem Gespräch, das ich mit Thibaut hatte, wurde das nie diskutiert. Es ging um die Frage der Kapitänsbinde. Glauben Sie mir, für mich wäre es viel einfacher zu sagen, dass er verletzt ist. Aber das ist nicht wahr“, erklärte er am Montag.
Der frühere Bundesliga-Coach (Schalke 04 und RB Leipzig) ist seit Anfang Februar Trainer der belgischen Nationalmannschaft. Seitdem holte er ein Remis sowie zwei Siege, darunter Ende März gegen Deutschland (3:2).
Wie lange sein Weg noch geht – und ob bis zur EM kommendes Jahr, für die Tedesco extra verpflichtet wurde – könnte nun vom Ausgang des Machtkampfs abhängig sein.
Denn eines scheint vor dem Spiel in der EM-Qualifikation der Belgier in Estland klar: Mindestens einer der beiden wird nicht unversehrt aus der Sache herauskommen.