Ich vermisse Mino Raiola
Mit seiner eigenen Propeller-Maschine wollte er hoch über den Wolken durch die Luft fliegen. Dafür büffelte er nahezu täglich. Die dicken Wälzer für den Pilotenschein stapelten sich auf seinem Schreibtisch in Monaco.
Seinen Traum konnte Raiola nicht mehr leben. Vor genau einem Jahr, am 30. April 2022, verstarb der wohl einflussreichste Spielerberater der Welt im Alter von nur 54 Jahren nach schwerer Krankheit im Mailänder Krankenhaus St. Raffaele.
„Ich rede nicht mit Journalisten, die ich nicht kenne!“
2018 trat ich erstmals mit dem Exzentriker in Kontakt. Es ging um seinen Spieler Derrick Luckassen, einer der größten Fehleinkäufe in der Geschichte von Hertha BSC.
„Ich kenne Sie nicht und ich rede nicht mit Journalisten, die ich nicht kenne!“, plärrte Raiola durch das Telefon und schob hinterher: „Nerven Sie mich bitte nicht!“
Ich fand Gefallen an dieser klaren, direkten und ehrlichen Art. Ich blieb am Ball. Unser Verhältnis wurde mit jedem Telefonat, mit jeder SMS besser. Über zwei Jahre hinweg kommunizierten wir auf Englisch. Irgendwann meinte Mino zu mir: „Junge, du kannst auch Deutsch mit mir sprechen.“
Das Arbeitstier Raiola
Mir fiel die Kinnlade runter. Was ich bis dahin nicht wusste: Neben Deutsch und Englisch konnte er außerdem fließend Italienisch, Niederländisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch.
Im Dezember 2021 lud er mich mit meinem Kollegen Niclas Löwendorf zu sich ins Büro nach Monte Carlo ein. Wir gehörten zu den letzten Reportern, die ihn vor seinem Tod besuchen durften.
Damals war er noch quicklebendig, von einer Erkrankung keine Spur. Vier Stunden lang waren wir bei ihm und tranken im Anschluss Espresso doppio.
Was mich zutiefst beeindruckt hat: Mino wusste alles über mich. Er hatte meinen ausgedruckten Lebenslauf vor sich liegen und fragte, wie es mir damals im Studium in Hamburg, seiner deutschen Lieblingsstadt, ergangen ist.
Auch das war Mino: Sich vorbereiten auf sein Gegenüber, ihm immer einen Tick voraus sein. Er liebte es, Argumente zu haben und am Verhandlungstisch damit zu überzeugen.
„Scheißkerl!“ Was Ferguson und Co. im Spielerberater Raiola sahen
Damit trieb er so manchen Vereinsboss zur Weißglut. Sir Alex Ferguson nannte ihn einen „Scheißkerl“, Pep Guardiola und Michael Zorc zofften sich mit ihm. „Er muss mich wirklich gehasst haben“, sagte Raiola über den ehemaligen BVB-Sportdirektor.
Einmal hat Raiola sogar bei einer Verhandlungsrunde wegen Henrikh Mkhitaryan einen Stuhl durch das Büro von Hans-Joachim Watzke getreten.
Er bereute es später: „Ich habe viele Fehler gemacht in meinem Leben. Ich bin wirklich weit davon entfernt, perfekt zu sein.“ Er konnte eben „sehr laut werden, wenn es gegen meine Jungs geht“.
Raiola kämpfte wie ein Löwe um Haaland und Co.
Auch deshalb war Raiola so erfolgreich. Der Strippenzieher, der als Sohn italienischer Gastarbeiter in Haarlem vor den Toren Amsterdam aufwuchs, kämpfte wie ein Löwe um seine Top-Spieler wie Erling Haaland, Zlatan Ibrahimović oder Paul Pogba. Für sie war er bereit, an Grenzen zu gehen. Und manchmal sogar darüber hinaus.
„Ich habe immer das Credo verfolgt: Wie würde ich handeln, wenn der Spieler mein Sohn wäre? Für meine Söhne will ich schließlich nur das Beste.“ Der Hass der Menschen da draußen war sein ganzer Stolz. „Wenn die Leute mich hassen, dann bin ich froh. Dann weiß ich, dass ich gute Arbeit gemacht habe.“
Raiola stand allerdings auch wie kein anderer für die Entwicklung des modernen und oft verschrienen Fußballs. Immer höher, immer weiter. Die Profitgier der Branche, das zwielichtige Beraterwesen. Auch er trug zu diesem verruchten Hinterzimmer-Image bei.
Schlabber-Pullli und James Bond! Raiolas verrückter Charakter
In Mino Raiola ist 2022 eine der verrücktesten Persönlichkeiten der Fußball-Branche von uns gegangen.
Im Schlabber-Pulli oder im T-Shirt erschien der James-Bond-Fan und Kunst-Liebhaber zu Verhandlungen, selten im Hemd, nie mit Krawatte. Die Leute unterschätzten den raffinierten Zyniker lange und verspotteten ihn als „Pizzabäcker“ („il pizzaiolo“).
Die Pizzeria seiner Eltern, in der er als kleiner Junge schon gejobbt hat, bezeichnete er als „die Schule meines Lebens“. Dort lernte er zu kommunizieren, mit Menschen in Kontakt zu treten. Er schaffte es im wahrsten Sinne des Wortes vom Tellerwäscher zum Millionär.
Mino Raiola hatte große Träume. „Wenn du nicht träumst, bist du tot“, sagte er mir im Dezember 2021 noch. An Weihnachten verschickte er stets eine Karte an seine Spieler und deren Familien mit dem Satz: „Never stop dreaming … big!“
Kurz vor seinem Tod änderte Mino auf WhatsApp sein Profilbild. Das Foto wurde aus einer Propeller-Maschine heraus gemacht und zeigte einen strahlend blauen Himmel mit der Sonne am Horizont.
Ich vermisse Mino.