Ist Jürgen Klinsmann eigentlich wirklich ein Trainer? Es ist die Frage, die den einstigen deutschen Weltmeister-Stürmer begleitet, seit er diesen Beruf vor auch schon wieder bald 20 Jahren ergriffen hat.
Wieso Klinsmann nicht nur Kritiker hat
Er ist keiner, lautet die Überzeugung vieler Kritiker, die vor allem seine desaströs geendeten Stationen beim FC Bayern München und zuletzt bei Hertha BSC im Blick haben.
Er ist wohl einer - und einer, von dem man sich viel versprechen kann. Das ist ganz offensichtlich die Überzeugung der Entscheider im Fußballverband Südkoreas, die den 58-Jährigen nun als Nationalcoach verpflichtet haben.
Haben sie Recht? Oder die Kritiker? Oder womöglich beide?
An Jürgen Klinsmann schieden sich schon immer die Geister
Wer alt genug ist, wird sich erinnern, dass sich an Klinsmann, dem Trainer, schon immer die Geister schieden. Schon bei seiner ersten, erfolgreichsten Station als deutscher Bundestrainer und Chefverantwortlicher für das Sommermärchen 2006. Und eigentlich schon, bevor er diesen Job überhaupt angetreten war.
Als der DFB seinerzeit die legendäre TFK (Trainerfindungskommission) nach dem EM-Vorrundenaus 2004 und dem Rücktritt von Rudi Völler bildete, war Klinsmann eigentlich nicht der Name, der oben auf der Liste stand. Nationale und internationale Granden wie Ottmar Hitzfeld, Otto Rehhagel, Guus Hiddink, Morten Olsen waren damals zuerst kontaktiert worden - und hatten abgesagt.
Als Klinsmann zum selben Zeitpunkt ein später als programmatisch gelesenes Interview mit der Süddeutschen Zeitung gab (“Im Prinzip müsste man den ganzen Laden auseinandernehmen“), schlug das zunächst kaum Wellen. Erst als Ex-Bundestrainer Berti Vogts der TFK mit DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder und Ikone Franz Beckenbauer übermittelte, dass sein alter Schützling Klinsmann den Laden gern selbst auseinandernehmen würde, nahm die Sache Fahrt auf.
Was folgte, war ein wilder Ritt, in dem der als Radikal-Reformer auftretende Klinsmann Verwundungen hinterließ.
Vor Sommermärchen 2006 gab es jede Menge Trubel
Klinsmann und seine Mitstreiter (unter ihnen der damals als Manager installierte Oliver Bierhoff) erregten die Fußballnation immer wieder mit umstrittenen Personalentscheidungen: Der Ausbootung von Legende Sepp Maier aus seiner scheinbar auf Lebenszeit angelegten Position als „BTT“ (Bundestorwarttrainer).
Die Absetzung des scheinbar ebenso unangreifbaren Stammtorhüters Oliver Kahn zu Gunsten von Jens Lehmann, den Klinsmann als moderneren Spielertyp empfand.
Unvergessen sind vor allem die Attacken des damaligen Bayern-Managers Uli Hoeneß, der Wortführer der Klinsmann-Kritiker war und ihm unter anderem auch vorhielt, für das Projekt Heim-WM nicht seinen damaligen Hauptwohnsitz in den USA aufgegeben zu haben: „Der soll hier herkommen und nicht ständig in Kalifornien rumtanzen und uns hier den Scheiß machen lassen.“
Das Ende der Geschichte ist bekannt: Platz 3 und ein alles in allem begeisterndes Turnier, das nach den dunklen Jahren des „Rumpelfußballs“ wieder den Weg in die richtige Richtung wies. Wegen Klinsmann, der nach der WM abtrat, sagten die einen. Trotz Klinsmann, sagten die anderen.
Fiasko beim FC Bayern und bei Hertha BSC
Der weitere Lauf der Geschichte schien die Skeptiker zu bestätigen: Während beim DFB Klinsmanns vorheriger Co-Trainer Joachim Löw übernahm und letztlich zum Gewinn der WM 2014 führte, erlitt Klinsmann auf seiner nächsten Trainerstation Schiffbruch - als ihn ausgerechnet der alte Chefkritiker Hoeneß zum FC Bayern lotste.
Spätestens nach der geräuschvollen Entlassung nach weniger als einem Jahr hatte Klinsmann seinen Ruf weg: Ein Blender sei er. Einer, der große Visionen und englische Buzzwords dahinplappert, während andere die Arbeit machen, als Trainer ungeeignet. Das erneute Fiasko bei Hertha 2019/20, mit dem spektakulären Facebook-Abgang (“HaHoHe, Euer Jürgen“) und dem darauffolgenden Leak seiner vernichtenden Tagebuch-Aufzeichnungen, festigte das Bild.
Haben sie in Südkorea nichts davon mitbekommen?
„Taktik ist nicht der einzige Punkt“
Die Wahrheit ist komplexer, was man allein daran sieht, dass die Entscheidung für Klinsmann jemand getroffen hat, der seinen Weg kennen muss: Michael Müller, viele Jahre lang Ausbildungsleiter beim DFB und nun Technischer Direktor beim Südkorea-Verband KFA.
Müller vertritt eine andere Sicht auf Klinsmann. Eine, die Klinsmanns Stärken in den Fokus rückt. „Taktik ist nicht der einzige Punkt im Fußball“, antwortete Müller jüngst in einer Pressekonferenz auf skeptische Fragen in Bezug auf die Fachkompetenz des neuen Coachs: „Klinsmann glaubt, dass seine Stärke darin besteht, Starspieler durch seine starke Persönlichkeit, Teamwork und Motivation zu führen.“
In dieser Hinsicht sollten Klinsmanns Stärken nicht infrage stehen. Dass er mit seinem Charisma motivieren und einschwören kann, führte er 2006 vor - durch Sönke Wortmanns Filmdoku wurde speziell seine Kabinenansprache vor dem Vorrundenspiel gegen Polen (“Wir knallen sie durch die Wand hindurch!“) zum Teil des deutschen Fußball-Mythenschatzes.
Weggefährte Herzog: Klinsmann besser als sein Ruf
Klinsmann hat dieses Talent auch bei seiner zweiten Station als Nationaltrainer in den USA immer wieder gezeigt, versicherte 2019 sein Weggefährte und damaliger Assistent Andreas Herzog im Doppelpass auf SPORT1.
„In jeder Besprechung vor jedem Spiel - sei es gegen Brasilien, Mexiko oder Italien - bist du am Ende rausgegangen und hast gedacht: Du gewinnst das Spiel“, erinnerte sich der Österreicher, der zu aktiven Zeiten auch Teamkollege Klinsmanns beim FC Bayern gewesen war: „Mit so einer Überzeugung, so einer Leidenschaft, so einer Power macht er die Mannschaft heiß: Das war überragend, wie er das angegangen ist.“
Klinsmann verstehe es „Aufbruchsstimmung“ zu erzeugen, „Leidenschaft und Euphorie“ zu kreieren. Herzog zeigte sich zudem auch angetan von Klinsmanns Philosophie in Sachen Mitarbeiterführung: „Er vertraut jedem, den er einstellt zu 100 Prozent. Und es macht unter ihm Riesenspaß, selbst gestalten zu können, eigene Ideen einzubringen, Verantwortung zu übernehmen.“ Auch bei Themen wie Taktik sei Klinsmanns schlechter Ruf übertrieben, „ich sehe das ganz anders“.
Als Nationaltrainer hat sich Klinsmann bewiesen
Sicher ist: Der Weltmann aus Göppingen hat zumindest als Nationaltrainer bewiesen, dass die Methode Klinsmann funktionieren kann, wenn die Voraussetzungen stimmen. Auch in den USA - wo er 2016 nach fünf Jahren beurlaubt wurde - feierte er Erfolge, gewann 2013 den Gold Cup, schaffte es bei der WM 2014 ins Achtelfinale, weiter waren die US-Amerikaner nur einmal gekommen: 2002 in Japan und Südkorea. Im selben Jahr trieb Klinsmanns späterer Trainerfindungs-Konkurrent Guus Hiddink auch Co-Gastgeber Südkorea mit Platz 4 ans Limit.
Ein Umzug nach Asien war laut Müller diesmal Einstellungsvoraussetzung. Und allem Anschein nach hat Klinsmann ein besonderes Faible für das Land entwickelt, das ihn nun in die Pole-Position gebracht hat, den nach der WM in Katar zurückgetretenen Portugiesen Paolo Bento zu beerben.
„Sein Interesse und seine Liebe zum koreanischen Fußball waren ausgeprägter als bei jedem anderen Kandidaten“, berichtet Müller.
Der frühere DFB-Coach brennt darauf, mit Blick auf die WM 2026 in Amerika, seiner einstigen Wahlheimat, mal wieder ein Märchen statt einer Chaos-Story zu schreiben.