Er war kein Geistlicher, aber sie nannten ihn dennoch „Pater Braun“. Nach einer englischen Romanfigur, deren Abenteuer mehrmals verfilmt wurde, einmal mit dem beliebten Schauspieler Heinz Rühmann in der Hauptrolle.
Egidius Braun - der besondere Präsident
Es war also ein liebevoller Vergleich, den sich der in der vergangenen Nacht verstorbene ehemalige DFB-Präsident Egidius Braun da gefallen lassen musste. Er war sicher einer der beliebtesten DFB-Präsidenten und einer, selten genug mit Blick auf die Neuzeit, dessen Weste weiß geblieben war. Im gesegneten Alter von 97 Jahren schied er jetzt aus dem Leben.
Als er seinen runden Geburtstag am 27. Februar 2020 feierte, sammelten die Mitarbeiter der nach ihm benannten Stiftung Glückwünsche ein, die im „Jahresbericht 2019″ publiziert wurden.
Natürlich schickte es sich nicht, Unfreundliches zu sagen, doch die Danksagungen sind in ihrer Stoßrichtung so auffallend deckungsgleich, dass für den Leser ein Bild von einem Menschen entsteht, der vor allem für andere da war. Die ihn kannten, wussten das längst. Der damalige DFB-Präsident Fritz Keller ließ ausrichten: „Die Werte, die Sie im DFB verankert haben, sind heute wichtiger und wertvoller als jemals zuvor.“
Großes Lob von Völler, Vogts und Co.
Ex-Nationaltorwart Toni Schumacher berichtete: „Sein soziales Engagement zeigte sich unter anderem in der Mexiko-Hilfe, die auf einem Besuch eines Kinderheims in Queretaro während der WM 1986 basierte. Egidius Braun sensibilisierte uns damals dafür, ‚nicht nur etwas mitzunehmen, sondern auch etwas dazulassen‘“.
Rudi Völler hob hervor, Braun habe „den DFB durch sein soziales Engagement extrem geprägt. Er hat trotz der Belastung immer die Zeit gefunden, sich karitativ zu engagieren. Außerdem beherrschte er das Piano perfekt. Manchmal hat das beruhigt.“
Hans Peter-Briegel, Europameister von 1980, lobte dass er „uns Spielern immer auf Augenhöhe begegnet ist – nie abgehoben oder herablassend.“ In die selbe Kerbe schlug Berti Vogts, in der Ära Braun Bundestrainer („Jeder konnte mit seinen Problemen zu ihm kommen“), befand freilich: „Allerdings waren Prämienverhandlungen mit ihm schwierig.“
Natürlich, Braun war auch ein Kaufmann, der es mit eigener Hände Arbeit zu etwas im Leben gebracht hatte.
Ein Streifzug durch sein Leben
Im Alter von 13 Jahren begann die Fußball-Karriere des Egidius Braun, der in einem Stadtteil von Stolberg bei Aachen aufwuchs, als Spieler beim SV Breinig. Nach dem Abitur 1943 traf ihn das Los, das eine Generation junger Männer traf: er wurde Soldat und zog in den Krieg. Viele kamen nicht zurück, er schon.
Zu seinem Glück geriet er in Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde. Nach seiner Rückkehr war wieder Zeit für den Fußball in seinem SV Breinig. Fußball konnte aber nur Nebensache sein für einen jungen Mann in einem zerstörten Land.
Geld ließ sich damit nicht verdienen, weder in Breinig noch anderswo, nicht so kurz nach dem Krieg. Aber er war ja ein heller Kopf, studierte Jura und Philosophie und fand zugleich Zeit, sich mit seinem Unternehmen „Kartoffel-Braun“ selbstständig zu machen. Wer so etwas kann, eignet sich für diverse Führungsaufgaben.
Als die Deutschen ihr Wunder von Bern feierten, saß er als 2. Vorsitzender schon im Vorstand seines SV. 1956 übernahm er dann im Alter von 31 Jahren den Vorsitz – bis zum 20. Februar 1959.
Die Spielerkarriere war nun zu Ende, die Fußball-Liebe nicht. Der kann man auf mancherlei Art nachgehen, Braun griff nach der Schiedsrichterpfeife und machte den undankbaren Job, ohne den kein Spiel stattfinden könnte, acht Jahre lang.
1992 wird Braun DFB-Präsident
Nicht jedes Spiel ist mit Abpfiff zu Ende, manches geht vor Gericht. Da war der Jurist Braun natürlich eine Idealbesetzung. Zunächst als Beisitzer, dann als Vorsitzender der Spruchkammer des Fußballkreises 7-Aachen, diente er seinem Sport in einer weiteren Form, die nicht nur Vergnügen bereitet. Dafür muss man geboren sein. Egidius Braun war es.
Er wurde das was man einen Funktionär nennt. Es ging immer weiter nach oben: Am 4. August 1973 wurde er zum Präsidenten des Kreises Mittelrhein und zum Mitglied des DFB-Beirates gewählt. Drei Wochen später durfte er sich schon Vizepräsident des Westdeutschen Fußball-Verbandes nennen.
Auf dem DFB-Bundestag wurde Braun am 28. Oktober 1977 zum Schatzmeister gewählt und war quasi die rechte Hand von Präsident Hermann Neuberger. Ab 1981 war seine Kompetenz auch in internationalen Gremien gefragt: Braun wurde ins UEFA-OK gewählt, zwecks Organisation von EM-Endrunden (1984; 1988 im eigenen Land, 1992).
Die vollständige Aufzählung all seiner Ämter und Auszeichnungen würde den üblichen Rahmen eines Artikels sprengen. Dass er seine verantwortungsvollen Aufgaben gewissenhaft meisterte, bewies das ganz spezielle Geschenk zu seinem 60. Geburtstag, dem 27. Februar 1985: Da wurde Braun das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Vor der „Beförderung“, dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern (1997), stieg er auch innerhalb des DFB auf.
Nach 15 Jahren als Schatzmeister löste Braun am 24. Oktober 1992 den verstorbenen Hermann Neuberger ab, nun schon als Präsident eines gesamtdeutschen Verbandes. Das Präsidentenamt hatte er bis zum 28. April 2001 inne, nach seinem Ausscheiden wurde im Juli 2001 die nach ihm benannte Stiftung gegründet. Zu deren Aktivitäten und Projekte im sozialen Bereich gehören Initiativen wie „1:0 für helfende Hände“, die Kinderträume verwirklicht, oder die Flüchtlingshilfe „2:0 für ein Willkommen“.
Mit Leidenschaft unterstütze er seine Stiftung
Als es Anfang der Neunziger zu vermehrten rassistischen Anschlägen kam, gründete der DFB die Initiative „Mein Freund ist Ausländer“, der Förderverein besteht bis heute. Ohne Braun hätte es ihn nie gegeben.
Mit der Nationalmannschaft erlebte er viele bewegende und manche schweren Stunden. Während der WM 1986 in Mexiko besuchte Braun mit einigen Spielern ein mexikanisches Waisenhaus und gründete unter dem Eindruck des Elends spontan die Mexiko-Hilfe, die Kernstück seiner nach ihm benannten Stiftung wurde.
Für sie wurde das meiste Geld gesammelt und gespendet (120,883 Millionen), damit auch die Ärmsten der Armen zur Schule gehen können. Zehn Standorte fördert Brauns Stiftung in Mexiko. Viele trugen dazu bei, doch der Spiritus Rector war Egidius Braun. Er tat es, um zu helfen und nicht etwa um das Ansehen des Verbands zu mehren.
Dass dies in seiner Amtszeit dennoch geschah, ist ein unbestrittenes Verdienst des auch bei den Spielern sehr beliebten „Pater Braun“. Nach dem WM-Halbfinal-Sieg gegen die Franzosen setzte er sich 1986 ans Klavier und machte die Musik auf der rauschenden Spontan-Party.
Weltmeister wurden die Deutschen unter dem Präsidenten Braun nicht mehr, die beiden Turniere unter seiner Ägide endeten mit dem Aus im Viertelfinale. Sündenbock der Öffentlichkeit dafür war natürlich Bundestrainer Berti Vogts, den Braun trotz medialer Angriffe die Treue hielt.
Stinkefinger-Affäre: Braun schickt Effenberg nach Hause
Er hielt die Anfeindungen nach der WM 1994 in den USA, von der er Stefan Effenberg nach seiner „Stinkefinger-Affäre“ heim schicken musste, aus und sah sich bestätigt, als die DFB-Auswahl 1996 unter Vogts die Europameisterschaft gewann.
Die schwersten Stunden durchlitt er 1998 in Frankreich, als deutsche Hooligans am Rande des Spiels gegen Jugoslawien den Polizisten Daniel Nivel bewusstlos schlugen. In jener Nacht von Lens sah Braun nur den Menschen, der da um sein Leben kämpfte und nicht die sportlichen Ziele. Er wollte die Mannschaft von dem Turnier zurückziehen, erst nach einem emotionalen Telefonat mit Vogts gab er seinen Plan auf. Bis heute kümmert sich der DFB um die Familie Nivel, auch das gehört zu Brauns Vermächtnis.
Auf dem 36. DFB-Bundestag am 24. Oktober 1998 ging er in seine dritte Amts-Periode, nun wieder voller Tatendrang rief er die Parole aus: „Auf geht‘s, DFB, über die Jahrtausendschwelle – ich bin bereit!“ Für weitere drei Jahre.
Sie gingen über die Schwelle, sportlich allerdings in eine Talsohle. Turbulenzen auf der Trainerposition und das Vorrunden-Aus bei der EM 2000 beschwerten seine letzten Amtstage. Auf dem 37. Bundestag in Magdeburg gab er dann seinen Rücktritt bekannt, er war schon 74.
Mit einem feierlichen Festakt im Beisein von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Fifa-Präsident Joseph Blatter und UEFA-Präsident Lennart Johansson wurde der Mann, dessen Vorname im Altgriechischen „Schildträger“ bedeutete, verabschiedet. Der DFB brachte eigens eine Broschüre „Die Ära Egidius Braun“ heraus und ernannte seinen achten Präsidenten zum ersten Ehrenpräsidenten.
So viel der Ehre, aber gewiss nicht zu viel. Und das Glück eines langen und erfüllten Lebens. Egidius Braun war fast 70 Jahre verheiratet mit seiner im Mai 2020 verstorbenen Marianne und hatte zwei Söhne – und zwei Fußballvereine. Einen Großen und einen Kleinen.
Für die Aachener Alemannia schlug – neben dem SV Breinig – sein Fußballherz. Am alten Tivoli hatten sie ihm immer ein Klappstühlchen am Spielfeldrand reserviert. Das Titelbild des Jahresberichts seiner Stiftung zeigt ihn 2020 auch im hohen Alter dort noch sitzend, nun in einem leeren Stadion. Es wurde gemacht, als kein Spiel lief und als keiner wusste, dass dem Fußball wegen der Pandemie eine solche Atmosphäre schon bald bevorstand. Vielleicht tröstlich, dass er das nun nicht mehr länger miterleben muss, auch wenn Licht am Horizont ist.
Aber der etwas andere VIP-Platz passte gut zu dem etwas anderen, ganz besonderen Präsidenten, den niemand jemals eitel schalt.