Wer als gläubiger Christ und Fußballfan in Neapel aufwächst, der hat sich nicht nur vor Gott zu verantworten, sondern auch vor Diego Maradona.
Nach 16 Jahren endet eine Ära
Genau das tat Lorenzo Insigne, als er 2018 einen Beitrag in dem Magazin The Players Tribune veröffentlichte. Der Grund: Als kleiner Junge hatte er aus dem ärmlichen Viertel Frattamaggiore stammend die Fußballschuhe von Ronaldo haben wollen.
Nicht von Cristiano Ronaldo, sondern dem brasilianischen Ronaldo, oder dem „dicken“ Ronaldo, wie ihn heute so mancher Fußballfan etwas abschätzig nennt. Silber, blau und gelb waren die Schuhe, die Ronaldo bei der Weltmeisterschaft 1998 trug - und die nun ein kleiner Junge aus Neapel unbedingt haben wollte.
Der Vater von Insigne war alles andere als begeistert. Er konnte sich derartige Schuhe nicht leisten und wollte ohnehin, dass sein Sohn schlichte schwarze Schuhe trug. So wie Maradona eben. „Bevor ich mit dieser Geschichte beginne, muss ich mich erst einmal bei Gott entschuldigen. Und mit ‚Gott‘ meine ich ‚D10S‘ - Diego Maradona. Ich möchte mich auch bei meinem Vater entschuldigen“, beginnt Insigne daher seinen Beitrag.
Nun nimmt die Geschichte von Insigne eine entscheidende Wende. Der kleine Junge, der es aus der Armut zu einem Fußballstar geschafft hat, wird Neapel nach 16 Jahren verlassen.
Insigne mit über 400 Pflichtspielen für den SSC Neapel
Der 30-Jährige wird sich am Saisonende dem FC Toronto in der US-amerikanischen MLS anschließen. Kanada statt Italien. Toronto statt Neapel. Und das im eigentlich besten Alter eines Fußballers.
2014 und 2020 hat Insigne mit dem SSC Neapel den italienischen Pokal gewonnen. Im vergangenen Sommer ist er mit Italien Europameister geworden und hat zwei Tore auf dem Weg zum Titel beigesteuert. Der größte Erfolg seiner Karriere.
Über 400 Pflichtspiele hat er für Napoli absolviert, dabei über 100 Tore geschossen. Längst ist er Kapitän. Teilweise verwandelte er Freistöße traumhaft, aus der Distanz traf der häufig. Der technisch brillante Schlenzer war eines seines Markenzeichen.
Gefühlt seit zehn Jahren wird er mit Top-Klubs aus England und Spanien in Verbindung gebracht, mehr als einmal soll er auf dem Zettel des FC Bayern gestanden haben - doch er ist seinem Heimatklub immer treu geblieben. Vielleicht auch, weil er Maradona nicht noch einmal enttäuschen wollte.
Insigne galt schon immer als begnadeter Techniker. Als einer, der in manchen Situationen tatsächlich einen Hauch Maradona zurück nach Neapel bringen konnte. Der Offensivspieler hatte aber auch irgendwie immer ein Problem: seine Körpergröße. Insigne misst 1,63 Meter.
„Wir mögen ihn, aber er ist zu klein“
„Mein Traum war es immer, im Trikot von Napoli im San Paolo zu spielen. Für mich gab es keinen anderen Traum. Ich habe keinen anderen Sport getrieben. Ich habe an nichts anderes gedacht als an Fußball. Aber als ich heranwuchs und bei verschiedenen Jugendmannschaften - Inter, Torino, sogar Napoli - Probetrainings absolvierte, sagten mir die Scouts immer das Gleiche: Wir mögen ihn, aber er ist zu klein“, verriet Insigne.
Doch das Talent von Insigne war offensichtlich und so konnte er den einen oder anderen Scout doch noch überzeugen. Mit 18 Jahren feierte er sein Debüt in der Serie A, musste in der Folge dann aber noch einen Umweg gehen. Napoli lieh den kleinen Tempodribbler an Delfino Pescara in die zweite italienische Liga aus. Als er im Sommer 2012 zurückkehrte, setzte er sich endgültig bei seinem Herzensklub durch.
„In Italien sind die Leute sehr ehrlich“, blickte Insigne in seinem Beitrag bei The Players Tribune zurück: „Sie haben mich alle wegen meiner Größe aussortiert. Nachdem mir das mit 14 Jahren von Torino gesagt wurde, wollte ich einfach nicht mehr spielen. Ich habe meiner Familie gesagt, dass es sinnlos ist. Ich war zu klein. Technik, Kraft, Schnelligkeit - man kann einfach härter arbeiten und sich verbessern. Aber deine Körpergröße? Was kann man da machen? Ich bin jeden Morgen aufgewacht und habe gehofft, dass ich über Nacht gewachsen bin. Aber nichts. Also sagte ich zu meinem Vater: ‚Das ist unmöglich, ich bin fertig.‘“
Insigne: „Vielleicht bin ich verrückt“
Es war sein Vater, der die entscheidende Frage stellte: „Okay, was willst du dann machen, wenn nicht Fußball?“
Insigne hatte keine Antwort parat. Immerhin war Fußball von klein auf sein Leben gewesen, wie er selbst sagt: „Vielleicht bin ich verrückt, ich weiß es nicht. Aber ich war schon immer so, sagt meine Familie. Meine Mutter erzählt, dass sie mich in der Vorschule abholte und alle Kinder mit Lego-Bausteinen spielten - Häuser und Burgen bauten und was Kinder eben so machen - und ich in der Ecke des Raumes stand und mit den Füßen strampelte und herumlief. Sie verstand nicht, was ich da tat, und als sie näher kam, sah sie, dass ich mir einen Fußball aus Papier gebastelt hatte und allein spielte.“
Insigne biss sich durch und ließ sich bei seinem Traum von den Emotionen leiten. „Dieses Gefühl, im Stadion zu sein und diese Energie als Neapolitaner zu spüren - ich kann es nicht in Worte fassen. Ich dachte: Verdammt, wenn ich nur ein einziges Spiel hier im Trikot von Napoli spielen kann, kann ich glücklich sterben“, schrieb er.
Es sollten über 200 Heimspiele werden - und noch ist nicht Schluss. Einen ganz großen Wunsch hätte Insigne noch: Die italienische Meisterschaft mit Neapel gewinnen. Möglich ist das in dieser Spielzeit, einfach wird es aber nicht. Derzeit trennen Napoli sechs Punkte von Tabellenführer Inter Mailand. (Service: Tabelle der Serie A)
Insigne huldigt Maradona
In seinen Jahren beim SSC Neapel hat Insigne auch seine kindischen Vorlieben abgelegt. „Bei allem Respekt vor Ronaldo, jetzt, wo ich älter bin und meine Geschichte kenne, muss ich bereuen und sagen, dass Maradona der größte Spieler ist, der je gelebt hat. Herr Ronaldo, Sie hatten tolle Schuhe. Sie waren ein Genie. Sie waren meine Inspiration. Aber ich bin ein Neapolitaner, und deshalb muss ich sagen, dass es nur einen König gibt, und sein Name ist Diego“, schrieb Insigne.
Am 30. Oktober 2021, als der 2020 verstorbene Maradona 60 Jahre alt geworden wäre, schickte Insigne via Instagram einen Gruß gen Himmel: „Du warst, bist und bleibst unerreichbar... normalerweise sagt man, dass du eine große Lücke hinterlässt, aber für uns war das nicht so ... du bist immer bei uns allen, in den Geschichten der Menschen, in den Filmen, in den Wandbildern, in den Gedanken von uns allen. Wir alle, die NAPOLETANI!!! Du eingeschlossen...“
Insigne selbst ist in seiner Karriere nie an die fußballerische Brillanz eines Diego Maradona herangekommen. Er ist nie ansatzweise derart verehrt worden. Doch für viele Neapolitaner bedeutete er wohl ähnlich viel. Denn er war ein Junge aus ihrer Stadt, der aus schwierigen Verhältnissen ausbrach und seinen Traum lebte.
Insigne wird fehlen, doch noch ist er da. Und wer weiß, ob es sich nicht nur um einen kurzen Ausflug nach Kanada handelt. Immerhin ist er noch nie länger als ein halbes Jahr von Neapel weg gewesen.