Jens Keller erscheint gut gelaunt zum Termin mit SPORT1.
„Werde ich van Gaal niemals vergessen“
Der 51-Jährige, der seit etwas mehr als einem Jahr ohne Trainer-Job ist, hat viel Zeit mitgebracht. Doch langsam kribbelt es bei Keller wieder, der seine erfolgreichste Station als Trainer bei Schalke 04 hatte.
Mit den Königsblauen schaffte er zweimal die Qualifikation für die Champions League. Anschließend war er bei Union Berlin, FC Ingolstadt und dem 1. FC Nürnberg tätig.
Im SPORT1-Interview spricht Keller über seine aktuelle Situation, einen besonderen Moment mit Louis van Gaal und seine Zeit bei S04. Dazu kritisiert er die deutsche Nachwuchsarbeit.
SPORT1: Herr Keller, etwas mehr als ein Jahr sind Sie raus aus dem Geschäft. Wie sehr nervt das?
Jens Keller: Es ist jetzt kein schönes Gefühl, denn ich arbeite schon sehr gerne als Trainer. Andererseits tut die Zeit auch mal gut durchzupusten, vor allem, weil durch Corona gerade sowieso alles schwierig ist. Ich kann nun privat viel machen, wozu ich sonst nicht kommen würde. Aber ich müsste lügen, wenn ich sage, es ist okay gerade. Ich liebe den Trainerjob.
SPORT1: Hängen Ihnen die letzten beiden Stationen beim FC Ingolstadt und beim 1. FC Nürnberg noch nach? Beide Engagements waren auf gut Deutsch gesagt ein Griff ins Klo.
Keller: Das klingt sehr hart. Aber natürlich ist es bei beiden Vereinen nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe. Doch es gibt immer Gründe, warum so etwas nicht funktioniert. In Ingolstadt waren vor mir in kürzester Zeit schon drei Trainer tätig und die Mannschaft war total verunsichert. Ich glaube aber, dass ich es hinbekommen hätte, wenn ich länger geblieben wäre. Mit beiden Klubs haben wir größtenteils guten Fußball gespielt, aber unterm Strich zählen nur Ergebnisse. Und die haben wir nicht geliefert.
Keller selbstkritisch: „Nicht ganz zufrieden“
SPORT1: Fühlen Sie sich deshalb verbrannt?
Keller: Nein. Ich fühle mich auf keinen Fall verbrannt. Ich war selbst nicht ganz zufrieden mit der Art und Weise, wie das ablief. Aber ich weiß, was ich kann. Auf Schalke und bei Union Berlin habe ich sehr erfolgreiche Arbeit abgeliefert.
SPORT1: Sie haben Ihre Trainerkarriere bei der U19 des VfB Stuttgart begonnen. Später auch beim FC Schalke 04 die U17 trainiert. Beide Klubs hatten immer eine gute Jugendarbeit. Wie sehen Sie es?
Keller: Die beiden Vereine sind auf einem guten Weg. Mit Norbert Elgert haben die Schalker seit vielen Jahren einen Wahnsinns-Trainer im Nachwuchsbereich und die Stuttgarter hatten früher Hansi Kleitsch, der lange die U19 betreute. Erfahrung ist wichtig. Die Tendenz im deutschen Jugendbereich ist in manchen Klubs eine andere. Es gibt sehr viele junge Trainer, was nicht negativ ist, aber die Jungs wollen meistens schnell nach oben. Sie schauen also in erster Linie, dass die Ergebnisse passen. Dadurch bleibt die individuelle Entwicklung und Förderung der einzelnen Spieler manchmal auf der Strecke.
SPORT1: Schielen die jungen Trainer also zu sehr auf ihr eigenes Weiterkommen?
Keller: Viele schon. Und das kann eine Gefahr für den deutschen Fußball werden. Es ist klar, dass die jungen Trainer sehr ehrgeizig sind. Wenn du ins Trainergeschäft einsteigst, hast du oft das Ziel, irgendwann Bundesligatrainer zu werden. Das ging mir ja auch so. Doch es kann nicht das Ziel sein, dass nur der Trainer für sich den Erfolg haben will.
SPORT1: Wird den jungen Spielern in den Nachwuchsleistungszentren heutzutage zu viel abgenommen?
Keller: Ich sehe es etwas anders. Was die jungen Kerle leisten müssen, ist unglaublich. Das habe ich immer gesagt, als ich im Nachwuchsbereich Trainer war. Die Jungs trainieren viermal mit der Mannschaft, dreimal gibt es Individualtraining, dann haben sie am Wochenende ein Spiel und müssen noch in die Schule und haben noch die Auswahlmannschaft. Die jungen Spieler stehen enorm unter Druck und einer extremen Belastung. Ich finde nicht, dass ihnen viel abgenommen wird.
SPORT1: Wie war das zu Ihrer Zeit?
Keller: Ich habe beim VfB auch im Nachwuchs gespielt, da haben wir viermal in der Woche abends trainiert. Tagsüber konnte ich mich auf die Schule konzentrieren. Heutzutage haben die Spieler auch schon vormittags Training. Den Spielern wird sehr viel zugemutet. Nationalspieler sind auch noch auf Reisen, so dass sie sie auch noch viele Fehltage nicht in der Schule haben.
SPORT1: Serge Gnabry hat damals beim VfB in der Jugend gespielt. Sie konnten ihn aus nächster Nähe beobachten, oder?
Keller: Richtig. Serge war in der U15 und ich habe die U17/U19 trainiert. Er hat damals schon das Vormittags- und Talenttraining mitgemacht. Da konnte man sehen, was für eine brutale Qualität der Junge hat. Ich habe auch das eine oder andere Mal mit seinem Vater gesprochen, als der Wechsel zu Arsenal anstand. Ich hätte gerne an der Weiterentwicklung von Serge mitgearbeitet. Aber er war nicht zu halten.
Keller: „Ohne Abi wäre das nicht möglich gewesen“
SPORT1: Wir sprachen eben über den Druck für junge Spieler. Sie haben sich damals gegen das Profidasein und für das Abitur entschieden. Wie war das?
Keller: Wir hatten damals beim VfB zwei andere Spieler, die sich auch entscheiden mussten. Sie wurden schließlich Stammspieler. Aber ich wollte unbedingt mein Abi machen. Das würde ich heute auch jedem Spieler raten. Wenn es mit der Profikarriere nicht geklappt hätte, hätte ich gerne studiert. Und ohne Abi wäre das nicht möglich gewesen. Ich wollte mir damals die Chance auf ein Studium nicht kaputt machen.
SPORT1: Christoph Daum war damals Ihr Trainer und nicht sehr erfreut, oder?
Keller: Es war sportlich eine schwierige Zeit, als er kam. Bei Willi Entenmann war ich kurz vor dem Sprung in die Stammmannschaft, er hatte meinen Abi-Wunsch akzeptiert. Aber Christoph Daum wollte in dieser Phase nur mit Spielern arbeiten, die in jedem Training dabei sein konnten. Ich bin jedoch das Risiko eingegangen, dass ich deshalb keine Chance habe.
Keller: „Hatte nichts mit Christoph Daum zu tun“
SPORT1: Das war schon mutig von Ihnen ...
Keller: Stimmt. Das hatte aber nichts mit Christoph Daum zu tun. Ich wollte ihn damals nicht verärgern. Ich musste auf meinen Weg schauen. Und im Nachhinein war alles richtig, ich bin trotzdem Bundesligaspieler geworden.
SPORT1: Als Trainer hatten Sie Ihren ersten großen Erfolg auf Schalke. Mit den Königsblauen schaffte Sie zweimal die Qualifikation für die Champions League. Doch Sie hatten es nicht leicht.
Keller: Die Zeit bei Schalke war unglaublich für mich. Ich war noch ein junger Trainer, kam von der Jugend hoch und stand von Anfang an im Fokus. Aber das hat mich geprägt. Jetzt gibt es nicht mehr viele Dinge, die mich erschüttern können. Schalke hat mich härter werden lassen. Es war teilweise eine schwere, aber auch eine schöne und vor allem total erfolgreiche Zeit.
SPORT1: Hat diese Zeit auch physisch an Ihnen genagt?
Keller: Es war schon herausfordernd, da es einen großen medialen Druck gab. Fast jeden Tag wurde medial geschossen, wie mir meine Familie oder Freunde damals erzählten. Ich selbst habe nicht viel in die Zeitungen geschaut, weil ich das alles nicht an mich ranlassen wollte. Ich habe es unter schwierigen Bedingungen geschafft, dass wir erfolgreich waren und wurde dennoch oft kritisiert.
SPORT1: Wie sehen Sie Schalke aktuell?
Keller: Es tut weh, wenn ich Schalke als Zweitligist sehe. Aber man ist jetzt den richtigen Weg gegangen. Und dass es zu Beginn der Runde nicht funktioniert hat, war völlig klar. Es gab einen riesigen Umbruch, doch die Verantwortlichen haben einen sehr guten Job gemacht. Der Kader ist top. Und jetzt kommt Schalke ins Rollen. Ich bin überzeugt davon, dass sie aufsteigen werden.
Treffen mit Louis van Gaal: „Großartig!“
SPORT1: Sie hatten ein Treffen mit Louis von Gaal. Was hatte es damit auf sich?
Keller: Christian Nerlinger war damals mein Berater und machte es möglich, dass ich nach Manchester (Van Gaal war damals Trainer von Manchester United, d. Red.) reisen konnte. Er kannte van Gaal natürlich durch die gemeinsame Zeit beim FC Bayern. Das war eine unglaubliche Woche mit van Gaal. Es war alles top vorbereitet, als ich kam. Und Louis van Gaal war sehr respektvoll. Er hatte seinen Trainern vorher genau gesagt, wann ich wo eingesetzt werde. Es war großartig. Und ich erinnere mich noch gerne an eine Situation.
SPORT1: Erzählen Sie ...
Keller: Van Gaal hat mich nach einem Spiel in seine Loge eingeladen und da haben wir einen Wein getrunken. Er meinte dann zu mir: ‚Ich fahre Sie nach Hause.‘ Am nächsten Tag auf dem Trainingsplatz passierte etwas Außergewöhnliches. Van Gaal stand neben mir und sagte plötzlich: ‚Wollen sie das Training anschauen oder wollen sie mit mir im Büro über Fußball reden?‘ Ich wollte natürlich mit ihm sprechen. Daraufhin gab er seinen Assistenztrainern die Anweisungen und schwänzte wegen mir das Training. Daraufhin redeten wir zwei Stunden über Fußball. Das empfand ich als eine sehr schöne Geste.
SPORT1: Und wie war das Gespräch?
Keller: Es war schon außergewöhnlich. Es waren zwar nur die Reservisten beim Regenerationstraining, aber ich fand das einfach beeindruckend von ihm. Es war für mich total interessant, wie dieser Mann tickt. Auch toll war, dass er anordnete, dass jeder seiner Trainer sich viel Zeit für mich nehmen sollte. Ich durfte sogar bei einer Video-Analyse dabei sein. Wenn man Louis van Gaal von außen immer sieht, denkt man nicht, dass er so nett und nahbar ist. Er ist ein echter Gentleman, ein toller Mensch. Das werde ich van Gaal niemals vergessen.
SPORT1: Ein anderer großer Trainer ist Ralf Rangnick und trainiert jetzt Manchester United. Sie sagten mal, dass Sie von ihm am meisten gelernt hätten. Was sagen Sie dazu, dass er jetzt in der Premier League arbeitet?
Keller: Er war mein Trainer beim VfB und Ralf war damals schon Vorreiter, was die Viererkette und das Pressing anging. Ich habe unheimlich viel gelernt bei ihm. Fachlich kann das absolut klappen zwischen Ralf und ManUnited. Fraglich ist, wie er mit den Begebenheiten drum herum umgehen wird. Es ist so ein großer Verein und alle Aufgaben sind verteilt. Aber Ralf ist einer, der vieles gerne selbst in den Händen hält. Und Cristiano Ronaldo ist natürlich ein großer Name, der polarisiert. Mich freut es für Ralf. Er kann mit 63 noch mal seinen Traum leben.
Keller: „Bosse werden immer mehr zu Trainerkillern“
SPORT1: Was vermissen Sie in der Trainerbranche?
Keller: Ganz klar, dass ein Klub zum Trainer steht. Heutzutage werden die Bosse immer mehr zu Trainerkillern. Wenn man sich vorher gut informiert hat, weiß man, was der Trainer kann. Dann darf ich ihn nicht schon nach sechs Wochen wieder entlassen. Wenn ich von einem Trainer überzeugt bin, dann muss ich einem Trainer auch die nötige Zeit geben. Im Fußball geht es fast nur noch um Ergebnisse. Einem Trainer muss trotzdem auch mal eine Negativphase zugestanden werden. Aber die Arbeit zählt kaum noch. Diese kurzfristige Herangehensweise tut dem Fußball nicht gut.
SPORT1: Nicht gut war sicher auch die Impfpass-Affäre um Markus Anfang. Haben Sie Mitleid mit ihm?
Keller: Nein. Das war sicherlich unglücklich, aber ich will nicht auch noch den Finger in die Wunde drücken. Jeder ist für seinen Weg verantwortlich und Mitleid ist im Fußball fehl am Platz. Er ist immer noch ein relativ junger Trainer. Auch erfahrene Kollegen bekamen eine zweite Chance. Man kann es ihm nur wünschen. Dass die Aktion nicht gut war, weiß er selbst.
SPORT1: Was war Ihr größter Fehler als Trainer?
Keller: Ich war auf Schalke nicht offen genug für die Medien. Da habe ich mich schon sehr zurückgezogen. Das war ein Fehler. Jeder Mensch macht Erfahrungen, aus denen er lernt.
SPORT1: Würden Sie noch mal in der Jugend arbeiten wollen oder kommt für Sie nur 1. und 2. Liga in Frage?
Keller: In erster Linie macht mir der Job als Trainer Spaß. Egal, ob im Nachwuchsbereich oder im Profibereich. Im Nachwuchsbereich wird professionell gearbeitet und deshalb lege ich mich nicht nur auf die ersten beiden Ligen fest. Es muss für mich passen, so dass ich voll und ganz hinter der Aufgabe stehen kann.
SPORT1: Was wünschen Sie sich für 2022?
Keller: Ich wünsche mir für uns alle ein Ende der Pandemie. Jeder soll wieder Spaß am Leben haben. Wir Trainer und die Spieler wollen wieder die Stimmung in den Stadien aufsaugen. Alles soll wieder normal werden - nicht nur im Fußball.