Wenige Stunden vor seinem 33. Geburtstag am Freitag nimmt sich Jérôme Boateng viel Zeit, um über Fußball zu sprechen. Über seinen überraschenden Wechsel nach Frankreich zu Olympique Lyon, der so schnell über die Bühne ging, dass er seinen Ehrentag in all der Wechsel-Hektik fast vergisst.
Boateng: Darum kam Hertha-Rückkehr nicht in Frage
Erstmals spricht der Weltmeister von 2014 auch über seine Trennung vom FC Bayern. Die Münchner verließ der Innenverteidiger nach zehn Jahren, 362 Pflichtspielen und 24 Titeln als einer der erfolgreichsten Fußballer der Vereinsgeschichte.
Jetzt will er in Lyon nochmal angreifen. Das exklusive SPORT1-Interview mit Boateng!
Darum entschied sich Boateng für Lyon
SPORT1: Herr Boateng, am Dienstag haben Sie bei Olympique Lyon unterschrieben. Rechtzeitig zur Meldefrist für die Europa League. Spüren Sie Erleichterung?
Jérôme Boateng: Erleichtert ist die falsche Wortwahl, ich bin eher aufgeregt. Ich habe nicht darum gebangt, einen neuen Verein zu finden. Vielmehr habe ich mich gefragt: Für was entscheide ich mich? Ich habe mir immer gesagt, dass ich so lange warte, bis ich das richtige Bauchgefühl habe. Bei Lyon war das der Fall. Der Verein, das Projekt und die Ziele des Trainers Peter Bosz haben mir gefallen.
SPORT1: Sie kennen sich aus der Bundesliga.
Boateng: Ja, deshalb hat sich Peter Bosz sehr um mich bemüht, wir hatten richtig gute Gespräche. Lyon hat zwar die Champions League verpasst, trotzdem hat dieser Klub Ziele, mit denen ich mich identifizieren kann. Die Stadt gefällt mir, es ist ein Traditionsverein mit großartigen Fans, einem geilen Stadion und vielen jungen Spielern, denen ich bei ihrem Sprung auf die nächste Ebene helfen kann. (DATEN: Spielplan und Ergebnisse der Ligue 1)
SPORT1: Der Verein plant Sie als Führungsspieler ein. Nehmen Sie diese Rolle an?
Boateng: Nach all den Jahren nehme ich diese Rolle absolut an. Ich möchte aber nicht in die Kabine kommen und sagen: ‚Hey Leute, hier ist der Boss. So läuft es, das habe ich erlebt und deswegen kann ich mir dieses oder jenes rausnehmen.‘ Mit mir kann man immer reden. Ich sehe mich als Bindeglied zwischen Trainer und Mannschaft. Ich will hier meine Erfahrung einbringen. Ich sehe meine Rolle so, dass ich mit Leistung vorangehen und überzeugen will. Ich möchte den jungen Spielern mit ihrer großen Qualität dabei helfen, dass sie ihren Weg gehen und wir als Mannschaft erfolgreich sind. Mir geht es darum, dass die Mannschaft das Beste aus sich herausholt. Ich will diese unbedingte Siegermentalität, die ich mir in meiner Karriere und bei meinen bisherigen Stationen angeeignet habe, an die Mannschaft weitergeben.
So beurteilt Boateng seinen Abschied beim FC Bayern
SPORT1: Wann stehen Sie in der Startelf?
Boateng: Ich habe im Sommer sehr viele individuelle Einheiten absolviert. Es ist für mich jetzt sehr wichtig, auf dem Platz zu stehen, mit der Mannschaft zu trainieren und ein Gefühl für meine Mitspieler zu bekommen. Wann ich zum ersten Mal für Lyon spielen werde, ob es direkt nach der Länderspielpause oder in zwei Wochen ist, wird man sehen. Für mich ist es wichtig, dass ich auf 100 Prozent komme, damit ich mit einem guten Gefühl auf den Platz gehe. Ich gebe aber alles dafür, dass es so schnell wie möglich losgeht.
SPORT1: Sind Sie traurig, dass Sie beim FC Bayern gehen mussten?
Boateng: Nein, ich verspüre Vorfreude auf Olympique Lyon, auf eine neue Herausforderung. Meine Zeit beim FC Bayern war ein für einen Fußballer in der heutigen Zeit ein sehr langes und schönes Kapitel. Ich habe aber oft betont, dass ich noch einmal eine Veränderung möchte. Was ich gesagt habe ist, dass ich es mir hätte vorstellen können, nochmal zu verlängern, wenn man zusammenfindet. Das war nicht der Fall, also war es für mich schnell erledigt. Die letzten beiden Jahre mit Hansi Flick waren noch einmal überragend und wir haben es nochmal geschafft, die Champions League zu gewinnen. Ich bin glücklich, dass ich diese Chance bekommen habe und wir so erfolgreich waren. So eine Geschichte schreibt nur der Fußball.
SPORT1: Mit Ihnen und Lyon ging es Ruckzuck. Wie schnell kann man sich in diesem Fall auf den neuen Arbeitgeber einlassen?
Boateng: Stimmt! Es ging alles so schnell in den letzten Tagen. Wie schwer es für mich wird von den Bayern auf Lyon umzusteigen, das kann ich nach so kurzer Zeit noch nicht sagen. Ich muss jetzt erstmal mit der Mannschaft trainieren und schauen, wie ihr Level ist. Ich habe zudem noch nie in Frankreich gespielt.
Alaba-Aktion bei Real daneben?
SPORT1: David Alaba hat bei seinem Amtsantritt das Wappen von Real Madrid geküsst, was ihm Kritik einbrachte. Sie verzichteten darauf.
Boateng: Jeder weiß doch, welche Bedeutung der FC Bayern für David hat. Dass er das gemacht hat, war bestimmt aus der Situation heraus oder vielleicht hat ihn ein Fotograf darum gebeten. Das weiß man nicht. Hundertprozentig hatte er dabei keinerlei böse Absichten im Kopf. Da muss man nicht so ein Theater draus machen. Für mich ist Lyon jetzt mein neuer Verein und ich werde nie vergessen, dass ich die letzten zehn Jahre beim FC Bayern war. Für mich geht es jetzt von Neuem los, man muss es aber nicht übertreiben. Ich hoffe, dass sich hier für mich etwas entwickelt und ich mit dem Verein erfolgreich sein werde. Es wird wichtig sein, dass ich mich mit dem Klub identifiziere.
SPORT1: Hat sich Franck Ribéry bei Ihnen gemeldet?
Boateng: Ja, er hat mir eine Nachricht geschrieben und mir gesagt, dass Lyon ein super Verein in Frankreich ist. Er freut sich für mich! (DATEN: Tabelle der Ligue 1)
SPORT1: Hat Sie Xherdan Shaqiri im Vorfeld gelockt?
Boateng: Wir haben erst nach meiner Vertragsunterschrift geschrieben. Es ging alles sehr schnell, mein Berater Tolga Dirican und sein Team haben wirklich tolle Arbeit geleistet. Ich habe Shaq jetzt lange nicht mehr gesehen und freue mich auf ihn. Er ist super, verrückt, einfach ein top Mensch.
Boateng: Er hat für mich mit OL verhandelt
SPORT1: Also haben Sie es nicht wie Joshua Kimmich gemacht und allein verhandelt…
Boateng: Nein, das war bei mir ein bisschen schwieriger. Joshua hatte eine einfachere Situation (lacht). Das hat mit Tolga ein langjähriger Freund für mich gemacht, der sich in dem Geschäft auskennt. Das war mir wichtig.
SPORT1: Nochmal zu Hansi Flick. Sie und er, das war ein Erfolgsgeschichte.
Boateng: Das sehe ich auch so. In den letzten zwei Jahren war ich wieder sehr stabil, nachdem die anderthalb Jahre zuvor für mich sehr schwierig waren – mit all den Folge-Verletzungen, die vor allem mit meiner großen Verletzung an meiner Schulter zu tun hatten. Sich aus so einem Loch herauszukämpfen, das war nicht so einfach für mich. Ich habe dann von Hansi eine faire Chance bekommen. Eine, bei der es um Leistung geht. Das war alles, worum ich beim FC Bayern die ganze Zeit gebeten habe. Ich glaube, dass ich meine Chance genutzt habe.
SPORT1: Gab es zwischen Ihnen und Hansi Flick zuletzt Gespräche?
Boateng: Ja, wir haben telefoniert. Ich habe ihn nach seiner Meinung und seinem Rat gefragt. Das mache ich aber immer, weil ich zu Hansi schon immer ein gutes Verhältnis habe. Wir haben viele Titel miteinander gewonnen. Bei der Nationalmannschaft und beim FC Bayern. Er hat einen großen Anteil an meiner Karriere, weil er mich kennt und meinen Weg seit meiner Jugend begleitet.
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So riet Flick Boateng zu Lyon-Wechsel
SPORT1: Haben Sie mit ihm über Lyon gesprochen?
Boateng: Absolut!
SPORT1: Was hat er gesagt?
Boateng: Dass es ein guter Verein ist, der international spielt und er sich für mich freuen würde, wenn mein Wechsel zu Lyon klappt. Er hat mir gesagt, dass ich die Entscheidung allein treffen muss und am Ende auf mein Bauchgefühl und mein Herz hören soll.
SPORT1: Glauben Sie an Ihr Comeback in der Nationalmannschaft?
Boateng: Nicht nur ich, auch Spieler wie Thomas Müller haben beim FC Bayern erfahren, dass es Hansi immer um Leistung geht. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich unbedingt zur Nationalmannschaft zurückmuss. Am Ende des Tages geht es um Leistung, die jeder bringen muss, um es sich zu verdienen, bei der Nationalmannschaft zu spielen. Und es gibt noch andere Verteidiger, die auf meiner Position ihre Ansprüche haben und ihre Leistung bringen müssen und gebracht haben. Für mich ist es jetzt wichtig, fit zu werden. Dann will ich eine gute Saison spielen und wie es im Fußball so ist: Wenn es gut läuft, bekommt man vielleicht wieder seine Chance. Das ist aber eine Entscheidung des Bundestrainers. Ich muss mich bei Lyon gut präsentieren. Dann wird man sehen, was passiert.
Gedanke an Karriereende? Das sagt Boateng
SPORT1: Haben Sie im Sommer mal an ein Karriereende gedacht?
Boateng: Nein, nie! Das war nicht in meinem Kopf. Klar, es war die längste Sommerpause meiner Karriere und ich habe viele Gespräche mit Vereinen geführt. Ein Karriereende kam für mich aber überhaupt nicht infrage.
SPORT1: War es für Sie eine Option, nochmal mit ihrem Bruder bei Hertha BSC zu spielen?
Boateng: Nein, das war für mich kein Thema. Ich habe den Menschen um mich herum immer gesagt, dass ich gerne ins Ausland möchte. Es wäre für mich ohnehin schwer gewesen zu einem anderen Verein zu wechseln, weil ich so lange bei den Bayern gespielt habe. Ich wollte schon seit langem eine neue Kultur, eine neue Liga und Sprache kennenlernen.
SPORT1: Europa League statt Champions League. Kritiker meinen, Lyon sei ein Rückschritt.
Boateng: Es ist doch klar, dass jetzt viele sagen: Lyon ist kein Champions-League-Klub. Darauf würde ich antworten: Natürlich ist es das Ziel eines jeden Fußballers, in der Champions League zu spielen, aber in meinem Alter ist das Gesamtpaket wichtiger. Ich hätte bei einem Champions-League-Teilnehmer unterschreiben können. Dann wären ein paar Sachen gewesen, bei denen ich mich nicht wohlgefühlt hätte. Lyon ist übrigens keine Laufkundschaft. Mit dem FC Bayern habe ich vor einem Jahr im Halbfinale der Champions League gegen Lyon gespielt.
„Lyon hat hohe Strahlkraft in Frankreich“
SPORT1: Ihr neues Team hat stark aufgerüstet. Mit Emerson aus Chelsea, Shaqiri aus Liverpool.
Boateng: Genau. Ich setze mir immer hohe Ziele und daher ist es mein Ziel, dass ich mich mit diesem Traditionsverein, der eine hohe Strahlkraft in Frankreich hat, einen Platz in der Königsklasse erringe. Am wichtigsten war es für mich, überhaupt international zu spielen. Die Verantwortlichen hier haben mir wahnsinnig viel Vertrauen entgegengebracht. Das ist mir wichtiger als bloß in der Champions League zu spielen.
SPORT1: Spielen Sie gegen Paris, dann treffen Sie auf Lionel Messi, Kylian Mbappé und Neymar. Ist das die beste Sturmreihe aller Zeiten?
Boateng: Von den Namen her auf jeden Fall. Von der Qualität her brauchen wir nicht drüber sprechen. Ich muss ehrlich sagen: Das ist wie ein Team, gegen das man auf der Playstation spielt. Vor allem in der Offensive sind sie auf jeder Position weltklasse besetzt. Von denen wird keiner Angst vor mir haben, ebenso wenig habe ich Angst vor ihnen, obwohl sie manchmal unmenschliche Dinge tun. Aufgrund meiner Erfahrung weiß ich: Das sind nur Menschen! Man sieht gegen sie nicht immer gut aus, aber für die jungen Spieler von Lyon ist es wichtig, genau dort anzusetzen. Ich will ihnen vermitteln, dass in jedem Spiel alles möglich ist. Selbst gegen vermeintlich übermächtige Gegner. Das ist für mich eine neue Erfahrung, nicht mehr in jedem Spiel der Favorit zu sein.
Boateng: Hoeneß-Aussagen haben mich enttäuscht
SPORT1: Wenn wir über Sie, die Bayern und Lyon sprechen, darf Uli Hoeneß nicht fehlen. Wie sind Sie nach all seinen Spitzen in den vergangenen Jahren auseinandergegangen?
Boateng: Die Aussagen haben mich enttäuscht, zumal man es gewohnt war, als Spieler des FC Bayern von oben gestärkt zu werden. Ich bin davon nie umgekippt, im Gegenteil. Ich weiß, dass ich anders beurteilt werde als andere Spieler, damit muss ich leben. Das ist halt so. Wichtig ist für mich, dass mich diejenigen beurteilen, die genau hinschauen. Ich kann aber versichern, dass da nichts hängen bleibt. Ich wünsche dem FC Bayern weiterhin alles Gute. Dieser Verein wird immer in meinem Herzen bleiben.