Im Jahr 2012 wurde in Paris eine Statue enthüllt, die einen legendären Moment der Fußball-Geschichte zusammenfasst: Sie zeigt einen Mann, der zum Kopfstoß ansetzt - vor einem anderen Mann, der nach hinten fällt und aus dessen offenem Mund sich ein Schrei zu bahnen scheint.
Diese Szene hängt Zidane nach
Der algerische Künstler Abdel Abdessemed hatte ein besonderes Denkmal geschaffen, da es sich nicht mit einem großen Erfolg beschäftigt. Er hat stattdessen einen Moment festgehalten, der noch heute fast jedem Fußball-Fan ein Begriff ist. Ein Moment im WM-Finale 2006 in Berlin, Frankreich gegen Italien, in der 110. Spielminute.
Das Endspiel sollte der triumphale Abschluss einer der größten Karrieren aller Zeiten werden. Die des großartigen Zinédine Zidane, oft mehr Künstler als Fußballspieler, nach dem eigene Tricks benannt sind. Bereits vor dem Abend war er Welt- und Europameister und Champions-League-Sieger.
Ein weiterer großer Titel kam in seinem letzten Spiel nicht mehr hinzu - was zu großen Teilen an eben jener Situation lag, die Abdessemed nachstellte.
Das Geheimnis: Was sagte Materazzi zu Zidane?
Es war das unrühmliche Ende einer glorreichen Laufbahn, als Zidane zum Kopfstoß gegen Marco Materazzi ansetzte und den Italiener schließlich niederstreckte. Der Franzose flog mit einer glatten Roten Karte vom Platz und Frankreich verlor das anschließende Elfmeterschießen.
Zuvor war es Zidane gewesen, der die Équipe Tricolore mit einem kunstvollen Elfmeter - verursacht von Materazzi - früh in Führung gebracht hatte. Doch ausgerechnet Materazzi konterte mit seinem Treffer zum 1:1 - und provozierte dann Zidanes Abgang.
Zidane erklärte nach dem Spiel, dass ihn Materazzi übel beleidigt habe. Doch lange Zeit waren die genauen Worte, die der Italiener "Zizou" entgegengeschleudert hat, ein gut behütetes Geheimnis geblieben, eines der größten der Fußball-Welt.
Spekulationen gab es viele. Eine Lippenleserin wollte etwas in die Richtung "Sohn einer Terroristen-Hu**" erkannt haben. Die französische Zeitung Paris Match befragte ebenfalls Lippenleser und soll herausgefunden haben, dass Materazzi sagte: "Lass mich, du Schw******. Du, mit deiner Nutten-Schwester. Scheiße."
Rund ein Jahr nach dem WM-Finale brach Materazzi sein Schweigen und verriet der Gazzetta dello Sport, wie der Dialog wirklich abgelaufen sein soll: "Ich habe an seinem Trikot gezogen. Da hat er gesagt, wenn ich sein Trikot unbedingt haben wolle, könne ich es ja nach dem Abpfiff haben. Ich habe darauf geantwortet, dass mir seine Schwester lieber wäre." Bestätigt hat Zidane diesen genauen Wortlaut nie.
Sagnol und Co. lange sauer auf Zidane
Zidanes Kopfstoß erhielt in der Folge Einzug in die Pop-Kultur. Der Song "Coup de Boule" beschäftigt sich auf humoristische Weise mit ihm und erreichte in den französischen und belgischen Charts die Spitze - in der Schweiz kletterte er immerhin auf Rang zwei. In dem Videospiel Flash-Games kann außerdem der Charakter "Zizou" gewählt werden, der Gegner per Kopfstoß niederstreckt.
Durch Photoshop und Video-Editoring wurden unzählige humorvolle Kollagen, Bilder und Videos gebastelt. Materazzi selbst stellte bei sich zu Hause einen Schrein auf. Mit dabei: Zidane und sein Kopfstoß in Richtung eines Materazzi, der den WM-Pokal in die Höhe streckt. Auch wenn Zidane nach seiner Welt-Karriere auch als Trainer beeindruckte, diese eine Szene hängt ihm bis heute nach.
Zidanes damalige Teamkollegen und sein Trainer fanden den Vorfall weniger lustig. "Der Platzverweis für Zidane hat das Spiel gedreht. Es war eine total sinnlose Aktion, es war der Schlüsselmoment des Spiels", hatte Raymond Domenech in Berlin gesagt. Auch unter den Spielern - bei denen die Enttäuschung natürlich groß war - verlor Zidane einiges von seinem Glanz.
"Nach dem Finale gab es natürlich Stress. Alle Spieler hatten damals nach dem Endspiel etwas gegen Zizou, weil sich das, was er auf dem Platz gemacht hat, nicht gehört", verriet sein damaliger Teamkollege Willy Sagnol erst 2020 im Gespräch mit SPORT1: "Unser Kontakt war nicht mehr so stark und eng wie früher. Wir haben nach dieser Aktion lange nicht mehr miteinander geredet."
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Zidane würde "lieber sterben" als sich zu entschuldigen
Rund zwei Jahre soll die Funkstille zwischen Zidane und dem ehemaligen Bayern-Star Sagnol angehalten haben. Letztlich brachte Sagnols Hochzeit zwei Jahre nach dem WM-Finale Versöhnung, da seine Frau Zidane zur Feier einlud. "Seitdem ist es wieder wie früher", verriet Sagnol SPORT1.
Eine wirkliche Versöhnung zwischen Zidane und Materazzi gab es hingegen nie. Zwar trafen sich beide einmal zu einem Gespräch - das immerhin per Handschlag und nicht per Kopfstoß endete. Eine Entschuldigung gab es allerdings von keiner der Seiten. Im Gegenteil. Im März 2021 sagte Zidane der spanischen El Pais: "Ich bitte den Fußball, seine Fans und die Mannschaft um Verzeihung, aber niemals Materazzi. Das würde mich entehren. Lieber würde ich sterben!"
Zidane hatte nach dem Kopfstoß drei Tage freiwillig bei Kinderprojekten geholfen, weil die Sperre von drei Spielen ihm durch das Karriereende herzlich wenig interessierten. Materazzi musste wegen seiner Provokationen in zwei Länderspielen aussetzen. Beinahe hätte es diese Bestrafungen aber gar nicht gegeben.
Schiedsrichter sah den Kopfstoß nicht
Schiedsrichter Horacio Elizondo sah die Szenerie nämlich erst, als sich Materazzi bereits auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions wälzte. Er fragte daraufhin seine beiden Assistenten, ob sie etwas gesehen hatten. Das war aber nicht der Fall.
Letztlich sprang dem Argentinier der vierte Offizielle zur Seite. Luis Medina Cantalejo aus Spanien sagte Elizondo: "Furchtbar, Zidanes Kopfnuss gegen Materazzi war fürchterlich! Zidane verpasste Materazzi einen Kopfstoß. Wenn du das Video siehst, wirst du mir nicht glauben." Das verriet der Referee zwölf Jahre nach dem Spiel im TED Talk.
"Als ich zu den beiden hinging, hatte ich bereits diese Information und wusste, dass ich Zidane Rot zeigen würde", erklärte Elizondo. Wer weiß, wie die Geschichte heute aussehen würde, wenn Cantalejo nicht gewesen wäre und Zidane mit seinem Kopfstoß davongekommen wäre.
Nur eines ist sicher: Dann hätte es nicht das legendäre Bild gegeben, wie Zidane an dem WM-Pokal vorbei in die Kabine geht.
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