Kevin-Prince Boateng (33) sitzt zuhause in Mailand. Er kommt gerade vom Joggen.
Boateng exklusiv: Ich musste weg
"War anstrengend", sagt er und nimmt einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche. Ehefrau Melissa Satta (34) richtet ihm auf dem iPad noch schnell alles ein. Dann kann das Video-Interview mit SPORT1 losgehen. Der Prinz, der zurzeit bei Besiktas Istanbul spielt, nimmt sich fast eine Stunde Zeit.
SPORT1: Herr Boateng, wer Sie kennt, der weiß, dass Sie ein ungeduldiger Mensch sind. Wie kommen Sie durch diese Tage?
Kevin-Prince Boateng: Das stimmt. Wir sind jetzt mehr als 40 Tage aufeinander und probieren einfach, positiv zu denken und das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Jeder hat mal Tage, an denen er keinen Bock mehr hat. Aber unser Kleiner zieht uns hoch. Er sagt immer: "Wenn der Coronavirus vorbei ist, dann gehe ich endlich wieder in die Schule." Ich habe ihm schon gesagt: Du kommst nicht nach mir, mein Freund (lacht).
SPORT1: Um gegen die Langweile während Corona anzukämpfen, wurden Sie kreativ und haben mit Ihrer Ehefrau Melissa und Sohn Maddox Prince von Zuhause aus eine Fake-Pressekonferenz gemacht oder einen Klubbesuch nachgespielt. Die Champions League lief auch schon im Hause Boateng-Satta.
Boateng: Wir versuchen, die 24 Stunden so gut es geht rumzukriegen. Wir haben uns als Familie dann was Lustiges einfallen lassen. Wir wollen den Leuten ein Lächeln ins Gesicht zaubern, auch wenn es nur für eine Minute ist. Wir haben uns dabei richtig amüsiert und gelacht. Mein Sohn will gar nicht mehr aufhören. Er fragt immer: "Papa, wann machen wir das nächste Video?"
SPORT1: Sie spielen zurzeit bei Besiktas Istanbul. Wie nehmen Sie die heißblütigen Fans in der Türkei wahr?
Boateng: Die Fans sind positiv krank und fanatisch. Auf die Straße kannst du nicht einfach so gehen, die drehen dann durch. Die Türkei ist eines der wenigen Länder, in der du wie ein König behandelt wirst. Da kommt der Koch extra aus der Küche, um dich zu begrüßen, weil er stolz ist, dass du sein Essen isst. In der Türkei bist du als Fußballer ein König.
SPORT1: Wieso haben Sie den Schritt gemacht?
Boateng: Ich bin in Berlin mit vielen Türken aufgewachsen, kenne die Mentalität und die Kultur sehr gut. Deshalb hatte ich immer den Wunsch, mal da zu spielen. Als die Anfrage kam, habe ich sofort ja gesagt. Meine türkischen Freunde, die fast alle Hardcore-Besiktas-Fans sind, haben gesagt: "Du kommst endlich nach Hause." Es ist der blanke Wahnsinn, was da im Stadion abgeht. Da läufst du als Gladiator ins Stadion ein. Es ist so laut im Stadion. Du schreist deinen Nebenmann einen Meter weiter an und er hört dich nicht. Das ist schon extrem.
SPORT1: Die Bundesliga will demnächst ohne Fans starten. Können Sie sich das vorstellen?
Boateng: Das ist kein Fußball. Nimm uns den Fußball, schwierig, nimm uns die Fans – noch schwieriger. Aber es ist leider das Beste, was wir momentan tun können. Wir müssen an die Menschen denken, die nicht gesund sind. Wir wollen, wenn es losgeht, die Menschen vor dem TV wenigstens ein bisschen glücklich machen.
SPORT1: Wird Corona den Fußball verändern?
Boateng: Fußball wird, denke ich, anders sein nach Corona. Ablösesummen und Gehälter werden anders. Man wird anders mit Geld umgehen. Und das fände ich positiv. Nur weil ein Spieler mal eine Saison gut spielt, heißt es nicht, dass er nächste Saison gleich acht Millionen netto verdienen muss. Das ist einfach übertrieben. Als ich 18 war hat Niko Kovac zu mir gesagt: "Wenn du einen Ferrari fährst, musst du auch wie einer spielen." Heutzutage fahren viele Ferrari und spielen aber nicht mal im Ansatz wie einer.
SPORT1: Blicken Sie eigentlich zufrieden auf Ihre Karriere zurück?
Boateng: Es gibt nur zwei Fußballer, die nach der Karriere in den Spiegel gucken und sagen: Ich habe alles erreicht. Das sind Cristiano Ronaldo und Messi. Der Rest muss sagen: Da und da hätte ich mehr machen können. Ich sicher auch. Ich hätte mehr erreichen können – 100 Prozent. Das weiß ich. Ich hatte mit 18 aber nicht die Selbstkontrolle. Ob ich mehr Pokale geholt hätte? Das weiß ich nicht. Aber mit Pokalen kann man sich auch nichts kaufen. Aber: Ich hatte und habe eine überragende Karriere. Ich habe in vielen Ländern gespielt, Sprachen gelernt und bin in andere Kulturen eingetaucht. Ich bin zu 100 Prozent zufrieden, wie alles gelaufen ist.
SPORT1: Ist Fußball der schönste Beruf für Sie?
Boateng: Neee, ich wäre gerne Sänger geworden. Das ist noch eine Stufe höher als Fußballer. Du alleine auf der Bühne und 80.000 schauen auf dich. Das ist geil. Aber ich will nicht meckern, ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht.
SPORT1: Sie alleine auf der Bühne und 80.000 schauen zu. Woher kommt es, dass Sie die Aufmerksamkeit so sehr genießen?
Boateng: Das war schon immer so. Auch als kleiner Junge. Je mehr Leute da waren, umso besser war es für mich. Sich beweisen. Ich habe immer gesagt: Das Wichtigste im Leben ist Respekt und Anerkennung. Das war immer mein Ansporn. Es gibt Millionen von Fußballern, die vielleicht mehr erreicht haben als ich, die mehr Pokale gewonnen und in größeren Vereinen gespielt haben. Aber wenn wir nebeneinander auf der Straße laufen, erkennen die Leute nur mich. Weil ich nicht nur Fußball spiele, sondern mich auch für Dinge abseits des Platzes einsetze wie zum Beispiel mit dem Kampf gegen Rassismus. Ich möchte mit meinen Botschaften auch 60- oder 70-jährige Frauen erreichen.
SPORT1: In 11Freunde haben Sie gesagt: "Ich möchte, dass meine Kinder mich googeln und stolz auf mich sein können."
Boateng: Den Gedanken hatte ich nicht immer. Das hat sich mit dem Alter entwickelt, man muss man mehr Verantwortung übernehmen. Fußball, Fans, Tore schießen – das ist schön, ich liebe das. Aber ich will etwas hinterlassen, bei dem meine Kinder sagen: "Guck mal, das hat mein Papa gemacht. Papa wurde mit Frankfurt Pokalsieger, womit niemand gerechnet hat. Nicht, weil er der beste Spieler ist, weil er die beste Mannschaft hatte, sondern weil er und die Mitspieler Herz hatten". Du kannst immer über dich hinauswachsen. Ich möchte, dass meine Kinder solche positiven Dinge über mich lesen.
SPORT1: Sie wurden mit Barca und Milan Meister, mit Tottenham Pokalsieger. Als größten Erfolg haben Sie aber den Pokalsieg 2018 mit Eintracht Frankfurt bezeichnet.
Boateng: Das steht ganz oben bei mir auf der Liste. Die Jungs standen im Jahr zuvor schon im Endspiel und haben von der Stimmung dort geschwärmt. Ich habe die ganze Saison über gesagt: Männer, wir gewinnen den Pokal. Wir hatten eine sehr starke und disziplinierte Mannschaft. Niko (Kovac) hat zudem einen überragenden Job gemacht. Nach dem Halbfinale habe ich die Jungs in den Arm genommen und gesagt: Wir gewinnen das Ding, egal ob wir gegen die Bayern spielen. Da können Real Madrid und Barcelona zusammenkommen. Im Endeffekt haben wir das Unmögliche möglich gemacht. Wir haben das Ding gewonnen. Dieser Titel war so speziell für mich, weil ich ihn zu Hause im Olympiastadion, in meinem Wohnzimmer, geholt habe. Alle Personen, die wichtig sind in meinem Leben, haben das miterlebt. Nach meiner ganzen Geschichte mit Deutschland, dem Ballack-Foul, der Hassliebe, dem Image des Bad Boy, habe ich die rote Schleife zugemacht und gesagt: Ich verlasse Deutschland als Chef! Ich habe auf dem Spielfeld so geweint, weil für mich klar war, dass ich die Eintracht und Deutschland verlasse. Ich musste weg.
SPORT1: Erklären Sie uns das.
Boateng: Ich polarisiere, das weiß ich. Wenn eine Mannschaft nicht gut spielt, werde ich rausgepickt. Das ist okay. Damit kann ich umgehen. Ich durfte den Menschen keine weitere Angriffsfläche mehr geben. Ich habe Fredi (Bobic) zwei Wochen später angerufen und ihm meine Entscheidung mitgeteilt. So war es gut.
SPORT1: Sie deuteten im Spiegel eine mögliche Rückkehr nach Deutschland zu Hertha BSC an. Im Winter hatten Sie da so eine Idee. Klären Sie uns auf.
Boateng: Hertha ist ein Riese, der aufgeweckt werden muss. Berlin ist mein Zuhause, meine Heimat. Wenn ich da noch mal ein, zwei Jahre kicken könnte, wäre das eine Mission, für die ich noch mal nach Deutschland kommen würde. Meine Idee war, mit ein paar Rappern eine neue Hymne zu erstellen. Berlin ist cool. Wir hätten Hertha ein modernes Image gegeben. Dazu hätte ich meinen Status nutzen können und vielleicht zwei, drei große Spieler dazugeholt. Ich habe da ein bisschen rumgesponnen. Das hat aber leider nicht geklappt. Aber man weiß ja nie, was passiert. Ich kann es mir immer noch vorstellen.
Lesen Sie morgen im zweiten Teil des Exklusiv-Interviews mit Kevin-Prince Boateng auf SPORT1: Was er seinem Bruder Jérôme raten würde, seine besondere Beziehung zu Niko Kovac und die Top-3-Fußballer, mit denen er jemals zusammengespielt hat - mit einer großen Überraschung.