Wenn am Freitag der Hamburger SV auf den 1. FC Kaiserslautern trifft (ab 18:30 Uhr im LIVETICKER), wäre es falsch, von einem normalen Zweitliga-Duell zu sprechen. Hier begegnen sich zwei Vereine, die Bundesliga-Geschichte geschrieben haben. Der Zweite empfängt den Dritten.
„Es macht mich echt fassungslos“
Sollten die Roten Teufel im Volksparkstadion gewinnen, würden sie am HSV vorbeiziehen und zumindest vorübergehend die Tabellenführung übernehmen. HSV-Boss Stefan Kuntz hat eine lange Vergangenheit beim FCK. Sechs Jahre spielte er am Betzenberg, anschließend war er acht Jahre lang Vorstandsvorsitzender.

Im exklusiven SPORT1-Interview spricht der 62-Jährige über seinen aktuellen Klub, Trainer Merlin Polzin, Topstürmer Davie Selke - und natürlich den FCK.
SPORT1: Herr Kuntz, wie blicken Sie auf Ihre ersten Monate beim HSV zurück? Sie haben einiges verändert.
Stefan Kuntz: Durch den Trainerwechsel musste und wollte ich beim HSV etwas tiefer eintauchen, um herauszufinden, welchen Impuls der Verein braucht. Der Aufsichtsrat hatte eine Idee, als man mich geholt hat. Man wollte eine größere Durchlässigkeit für junge Spieler schaffen. Das haben wir anfangs auch mit Steffen Baumgart gut hinbekommen. Fabio Baldé sorgte mit seinen ersten Einsätzen für Schlagzeilen und Otto Stange war der nächste Spieler. Nach der Trennung von Steffen habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich diesen Weg weiterverfolgen kann, damit diese Philosophie erhalten bleibt.
SPORT1: Sie haben mit Merlin Polzin als Trainer eine mutige Entscheidung getroffen.
Kuntz: Mit Merlin und seinem Trainerteam haben wir drei junge Hamburger. Darum geht es primär aber nicht, wichtiger ist: Sie kennen das Team in- und auswendig und haben gezeigt, dass sie mit dem Druck gut umgehen können. Sie haben bisher hervorragende Arbeit geleistet.
„Es geht nicht um mich beim HSV“
SPORT1: Wofür steht der „Kuntz’sche“ HSV?
Kuntz: Es geht nicht um mich beim HSV. Im Winter haben wir sehr junge Talente geholt. Wir haben gezielt in den Wert der Mannschaft investiert, weil wir perspektivisch Ablösesummen generieren wollen. Aktuell hält uns im Grunde genommen alles abseits der Lizenzspielermannschaft auf einer schwarzen Null. Es gibt eine tolle Stadionauslastung – sowohl bei den Tickets als auch bei Dritt-Veranstaltungen. Zudem haben wir unglaubliche Merchandising-Erlöse. Es sind also nicht primär die Ablösesummen – und leider in der Zweiten Liga auch nicht die TV-Gelder –, die den Verein tragen können.
SPORT1: Geht es auch darum, den HSV für junge Spieler wieder attraktiver zu machen?
Kuntz: Schon. Generell soll man erkennen: „Wenn ich zum HSV gehe, kann das der nächste richtige Step sein, um dann zu den aktuell ganz Großen zu wechseln.“ Wenn du es als junger Spieler hier schaffst, dann hast du, was das Medieninteresse und das Zuschaueraufkommen angeht, schon bewiesen, dass du dem Druck standhalten kannst – und bist bereit für die nächsten Schritte.
SPORT1: Hat die Trennung von Baumgart sehr wehgetan? Man hatte das Gefühl, dass es zwischen Ihnen beiden gut gepasst hat.
Kuntz: Ich bin im Sommer allein zum HSV gekommen und wollte mir erst einmal alles anschauen, um die Qualität der Mannschaft, des Staffs und der Mitarbeiter zu bewerten. Erst dann konnte ich Entscheidungen treffen. Das galt also nicht nur für Steffen, sondern für alle. Die Trennung von Steffen im November fiel mir sehr schwer. Es stimmt, wir verstehen uns gut. Steffens Selbstreflexion ist ein Teil seines Charakters. Das hat dazu geführt, dass wir uns auf Augenhöhe unterhalten konnten. Er wusste, dass er für das, was auf dem Platz passiert, hauptverantwortlich ist. Dann musst du auch die Konsequenzen ziehen. Das macht es nicht einfacher, aber es macht es gewissenserleichternd.
„Merlin ist der richtige Trainer“
SPORT1: Gewissenserleichternd?
Kuntz: Es ist immer schwierig, wenn es zwei unterschiedliche Meinungen gibt. Wenn der eine sagt: „Es ist Zeit, dass du gehst“ - und der andere meint: „Ich weiß gar nicht, was du willst. Eigentlich bin ich doch kurz vor dem Ziel.“ Steffen und ich waren ständig in Kontakt, hier war die Lage eine andere und er war wirklich sehr selbstreflektiert. Am Ende war es eine gemeinsame Entscheidung – mit sehr viel gegenseitigem Verständnis.
SPORT1: Das war bei Bruno Labbadia nicht so. Sie wollten ihn, der Aufsichtsrat nicht – oder?
Kuntz: Das stimmt so nicht. Es ist falsch, dass der Aufsichtsrat Bruno nicht wollte. Und es stimmt auch nicht, dass ich gesagt habe: „Das ist der Trainer, den ich hier installieren möchte“ - und mir das dann jemand verboten hat. Ich bin auf Bruno zugegangen und habe ihn gefragt, wie er sich das vorstellen würde, wenn er hier die Verantwortung übernehmen würde. Er hat sich hier nicht angebiedert. Das habe ich übrigens mit sieben, acht Trainerkandidaten gemacht. Gleichzeitig war es die Absicht, zu beobachten, wie sich Merlin mit seinem Team entwickelt. Diese Bandbreite an Erfahrungen, das Austesten und die Gespräche haben am Ende dazu geführt, dass ich überzeugt war: Merlin ist der richtige Trainer. Genau das meinte ich zu Beginn des Gesprächs, als ich sagte: Durch den Trainerwechsel musste ich beim HSV tiefer eintauchen, um herauszufinden, welchen Impuls der Verein braucht.
SPORT1: Hat Ihre Freundschaft zu Labbadia darunter gelitten?
Kuntz: Ich konnte Brunos Enttäuschung nachvollziehen, aber das ändert nichts an unserer Freundschaft.
SPORT1: Es ist so ruhig wie lange nicht mehr beim HSV. Das hat natürlich auch mit Ihnen zu tun. Wie sehen Sie das?
Kuntz: Das ist eine Kombination aus vielem. Ich habe ein sehr gutes Team, tolle Direktoren und Mitarbeiter. Vieles läuft so gut, dass es nicht ständig überprüft werden muss. Die Leute können mir auf hohem Niveau zuarbeiten. Es hat aber auch viel mit dem Team zu tun, das bereits beim HSV da war. Zudem tut es uns gut, dass der Vorstand – Eric Huwer und ich – absolut vertrauensvoll zusammenarbeitet. Zwischen uns passt kein Blatt, obwohl wir sehr unterschiedliche Personen sind. Wenn die Vereinsführung Einigkeit demonstriert, ist das extrem wichtig. Auch wenn die Ergebnisse in der Vorbereitung und unter Steffen manchmal nicht gestimmt haben – jetzt stimmen sie. Aber die Saison ist noch lange nicht vorbei. Es wird sicher auch mal vorkommen, dass uns jemand Sand ins Getriebe streuen will.
Kommt der HSV endlich zurück in die Bundesliga?
SPORT1: Das große Ziel ist der Aufstieg. Wie zuversichtlich sind Sie, dass es unter Ihrer Ägide endlich klappt?
Kuntz: Das ist nicht meine Ägide. (lacht) Man kann sich von außen gar nicht vorstellen, wie viele kleine Puzzleteile am Ende zusammenkommen müssen, damit es funktioniert. Wenn der Aufstieg gelingt, dann als Ergebnis vieler kleiner Dinge. Manchmal ist es vielleicht nur eine nette Geste oder eine Umarmung von jemandem, von dem man es nicht erwartet, die Selbstbewusstsein oder Vertrauen schenkt. Wichtig ist, dass wir ständig weiter puzzeln und immer ein weiteres Teil an die richtige Stelle setzen. Ich denke aber gar nicht so weit voraus – für mich zählt jetzt das Spiel gegen den FCK. Danach bewerten wir die Situation neu, vielleicht brauchen wir dann eine andere Herangehensweise. Je mehr Abläufe automatisiert sind, desto besser kann man die zweite Saisonhälfte bestreiten – bis es am Ende wirklich um die Wurst geht.
SPORT1: Aber so gut wie in dieser Saison sah es schon lange nicht mehr aus. Oder?
Kuntz: Da muss ich der Frage ein bisschen ausweichen. Das können langjährige HSV-Fans oder -Mitarbeiter besser beurteilen, die den HSV schon seit Jahren begleiten. Ich war in der Vergangenheit auch nur Außenstehender. Natürlich habe ich den HSV in der Relegation gesehen, aber ich kann nicht bewerten, ob man damals weiter vom Aufstieg entfernt war oder näher dran.
SPORT1: Gibt es beim HSV die Angst vor dem Frühjahrs-Blues?
Kuntz: Ich beschäftige mich so gut wie gar nicht mit der Vergangenheit. Deshalb ist es mir auch völlig egal, was in den letzten Jahren hier passiert ist. Genau dieses Gefühl wollen Merlin, Claus Costa und ich auch den Spielern vermitteln – je weniger sie darüber nachdenken, desto besser ist es.
SPORT1: Was überzeugt Sie am meisten an Polzin?
Kuntz: Ich habe das Gefühl, dass er die vier Jahre, die er schon hier ist, nicht einfach nur abgesessen hat, sondern genutzt hat, um sich selbstkritisch zu hinterfragen. Diese Zeit hat er extrem gut genutzt – vor allem aus einer beobachtenden Position heraus. Es ist ja nichts Neues, dass ein Co-Trainer die Spieler manchmal besser kennt als der Cheftrainer, weil sie sich ihm gegenüber eher öffnen. Im Gegensatz zu einem neuen Trainer kannte Merlin mit seinem Staff alle Spieler – mehr oder weniger in- und auswendig, inklusive unserer ganzen Talente. Das wirkt sich natürlich auch auf das NLZ aus, wenn plötzlich drei Trainer Cheftrainer-Erfahrung sammeln. Die Verzahnung wird besser, es entsteht mehr Euphorie und die Jungs glauben stärker an sich. Das ist ein gutes Zeichen – auch nach außen.
SPORT1: War das von Anfang an Ihr Plan?
Kuntz: Ganz genau. Mein Plan ist, dass Merlin und sein Trainerteam, weil sie HSVer und Hamburger sind, gemeinsam mit dem Staff, nicht überrascht werden, wenn sich gegen Ende der Saison hier alles zuspitzt. Sie kennen das schon. Sie sind junge Trainer mit einer unglaublichen Energie – und genau diese Energie muss auf die Mannschaft immer wieder übertragen werden.
„Stolz, wenn wir aufgestiegen sind“
SPORT1: Polzin ist weiterhin ungeschlagen als Cheftrainer des HSV. Wie sehr bestätigt auch die Statistik Ihre Entscheidung, ihm weiterhin das Vertrauen zu schenken? Wie stolz sind Sie?
Kuntz: (schmunzelt) Ich bin erst dann stolz, wenn wir aufgestiegen sind.
SPORT1: Sein Engagement ist bis Sommer kommuniziert. Was müsste passieren, damit es darüber hinaus weitergeht?
Kuntz: Jetzt spielen wir erst mal die Saison zu Ende. Ich vertraue Merlin, er wird das schaffen. Die aktuelle Zusammenarbeit ist vielversprechend. Es gibt keine Störfeuer, weil wir alle das Gefühl haben, dass wir noch nicht fertig sind.
SPORT1: Muss Polzin den Aufstieg schaffen, damit es für ihn weitergeht?
Kuntz: Wenn man von der Qualität eines Trainers überzeugt ist, dann muss man sich nicht unbedingt trennen, nur weil das Ziel nicht erreicht wurde. Aber das ist noch einen Tick zu weit weg. Und noch mal: Ich vertraue Merlin und seinem Trainerteam.
SPORT1: Polzin könnte sich beim HSV unsterblich machen. Es wäre ein prall gefüllter Rucksack mit schönen Momenten …
Kuntz: Aber diesen Rucksack trägt er nicht allein. Im Klub trägt jeder seinen Teil dazu bei, und wenn es klappt, dafür müssen wir weiter fokussiert arbeiten. Es ist knapp 15 Jahre her, dass ein HSV-Spiel – damals gegen Fulham – für riesige Euphorie gesorgt hat. Seitdem gab es nicht viele Anlässe, bei denen die HSV-Fans Schneeengel vor Freude gemacht haben.
Die Personalien beim HSV
SPORT1: Davie Selke ist der Ragnar Ache des HSV. Er wurde oft kritisch gesehen – zu Unrecht?
Kuntz: Das kann ich schwer beurteilen. Ich habe ihn bei anderen Clubs ja nie so eng begleitet wie jetzt aktuell. Steffen Baumgart kannte Davie aus Köln, ich aus der Zeit bei der U21. Ich habe beim HSV ein gewisses Vakuum an Führungsspielern analysiert – und Davie hat in diesem halben Jahr viele Leute auf seine Seite bekommen und sie überzeugt. Hut ab! Für uns ist es aber keine große Überraschung – wir hatten bei Davie nie Zweifel.
SPORT1: Bleibt Davie Selke beim HSV?
Kuntz: Wir sind alle daran interessiert, diesen Deal fortzuführen. Die Geschichte mit Davie ist noch nicht fertig. Es herrscht eine sehr gute Atmosphäre, wir arbeiten daran.
SPORT1: Das Urteil gegen Mario Vuskovic wurde in letzter Instanz bestätigt. Wie geht man beim HSV damit um?
Kuntz: Die Loyalität wird weiter bestehen. Wir stehen zu ihm und haben eine vertragliche Lösung gefunden, wenn er wiederkommt. Diese Loyalität gegenüber Jatta (Bakery; d. Red.) oder Vuskovic ist etwas, was die Fans und den Klub extrem auszeichnen. Es macht mich echt fassungslos, wenn ich dann eine Sperre für Sinner in einer anderen Sportart sehe. Und auf der anderen Seite nimmst du Mario vier Jahre seiner Karriere weg, ohne genau zu wissen, ob er wirklich gedopt hat.
SPORT1: Emir Sahiti muss wegen seiner obszönen Geste 8.000 Euro zahlen. Musste er bei Ihnen zum Rapport antreten?
Kuntz: Es kommt immer darauf an, wie einsichtig ein Spieler ist. Das haben Claus Costa und Merlin schnell und klar geregelt. Da gab es gar keine Diskussion. Es war falsch und vereinsschädigend, das hat der Junge verstanden. Seine Reue und Entschuldigung waren vorbildlich – in einem nicht vorbildlichen Fall.
„Die 2. Liga gefällt uns gar nicht“
SPORT1: Gegen den FCK wird es ein gefühltes Bundesliga-Duell vor 57.000 Zuschauern. Die Betze-Buben können tatsächlich aufsteigen. Macht das etwas mit Ihnen?
Kuntz: Schwieriger war für mich das Hinspiel in Kaiserslautern. Da habe ich sechs Jahre gespielt, war acht Jahre Vorstandsvorsitzender. Ich habe beim FCK eine Ära geprägt. Der Betze ist mein Wohnzimmer, ich kenne da jede Fliese an den Wänden (lacht). Am Freitagabend sind wir freundliche Gastgeber – bis auf das Ergebnis, hoffe ich. Natürlich kommen mehr Freunde und ehemalige Mitarbeiter her und wir haben daheim mehr Gästebetten aufgebaut.
SPORT1: Hätten Sie gedacht, dass der FCK so eine Saison spielt?
Kuntz: Wenn es jetzt einer denken darf, dann ja wohl ich (lacht). Einmal sind wir fast abgestiegen und haben 1990 den Pokal gewonnen. Im Jahr danach sind wir Meister geworden. Also, wenn jemand etwas Außergewöhnliches hinbekommt, dann der FCK – gerade mit dieser Energie der Fans. Je geringer die Erwartungshaltung, desto größer ist am Ende der Erfolg in Lautern. Der FCK hatte im Winter nur drei Punkte Rückstand auf die Aufstiegsränge und hat sich nochmal massiv mit erfahrenen Spielern verstärkt. Die Absicht des FCK ist dieselbe wie bei uns: der Aufstieg!
SPORT1: Wie groß wäre die Enttäuschung, wenn der Aufstieg nicht gelingt?
Kuntz: Wir freuen uns auf das Spiel am Freitag, das Stadion ist wieder ausverkauft. Aber es ist 2. Liga – das nervt mich. Natürlich wurmt uns das. Wenn dieses Spiel in der Bundesliga stattfinden würde, wären wir alle zufrieden. Die 2. Liga gefällt uns gar nicht, wir wollen hoch. Aber wir brauchen ein gesundes Maß an Geduld.
SPORT1: Bitte vervollständigen Sie diesen Satz: Der HSV steigt auf, weil …
Kuntz: … wir aktuell in den entscheidenden Positionen auf und neben dem Platz sehr gut besetzt sind.