Lotto King Karl ist ein echtes Hamburger Urgestein. Von 2005 bis 2019 war er einer der Stadionsprecher des Hamburger SV. In dieser Zeit sang er vor jedem Heimspiel der ersten Mannschaft der Rothosen die Hymne „Hamburg, meine Perle“ in der speziellen Fußball-Version „Hamburg, meine Fußballperle“ - von einem Kran aus vor der Nordtribüne.
HSV-Kenner deckt große Probleme auf
Heute ist er weiterhin als Musiker erfolgreich und moderiert jeden 1. Freitag im Monat seine eigene Radiosendung bei Rock Antenne Hamburg. Im Exklusiv-Interview bei SPORT1 spricht der 57-Jährige über den HSV, die Entlassung von Steffen Baumgart und mögliche Nachfolger.
SPORT1: Lotto, der HSV hat Trainer Steffen Baumgart entlassen. Was nun?
Lotto King Karl: Es geht ja um das große Thema Identität und darum, wofür ein Verein steht. Das war früher immer klar, auch in den 1970er-Jahren, als es darum ging, ob man den HSV oder St. Pauli cool findet. St. Pauli hat seinen Acker bearbeitet, und der HSV hat seinen Acker bearbeitet. Das waren zwei völlig unterschiedliche Dinge. Es war damals keine große Sache, dass zwei Vereine in der Bundesliga spielen. München hatte mal drei Klubs. Aber wofür steht der HSV heute? Wofür stehen die Leute, die in den letzten 25 Jahren gekommen und gegangen sind? Stell‘ sie in eine Reihe und sag mir, wo da der rote Faden ist.
SPORT1: Den gibt es nicht?
Lotto: Natürlich nicht. Das sind im Großen und Ganzen dieselben Leute, die die anderen vorgeschlagen haben. Das sind die, die Heribert Bruchhagen wollten oder jetzt Steffen Baumgart. Zwei Typen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Gib ihnen ein Mikrofon, lass sie eine Stunde über Fußball reden - das ist entweder total interessant oder nach zwei Minuten vorbei. Dennoch sollten beide etwas beim HSV bewirken, und jetzt werden wieder viele neue Namen genannt.
SPORT1: Ruud van Nistelrooy wird heiß gehandelt.
Lotto: Sicher ein spannender Name, aber warum sollte er sich den HSV antun? Ich habe gehört, dass er ein Angebot aus der Premier League (gilt als priorisierte Option bei Leicester City, d. Red.) haben soll. Und wenn er eine Doku „Das war mein Leben“ drehen würde, dann würde er sagen, dass der Klub, der ihm am meisten am Herzen liegt, Manchester United ist. Das ist eine sehr rührende Geschichte: Sir Alex Ferguson hielt damals immer Kontakt zu van Nistelrooy, als der schwer verletzt war. Und jetzt soll er nach Hamburg kommen, weil er bei ManUnited entsorgt wurde, weil er ein zu starker Co-Trainer ist? Das können auch die in England nicht so recht verstehen.
„Ein Trainer, der mitleidet und mitgeht“
SPORT1: Wie bewerten Sie den Rauswurf von Baumgart?
Lotto: Ich muss etwas ausholen. Es ist wie eine Unwucht in einem Rad. Ich habe damals gesagt, dass man Tim Walter niemals hätte holen dürfen. Von seiner Art her passte er einfach nicht nach Hamburg. Wenn man Walter aber schon verpflichtet, dann muss man es auch durchziehen und nicht umfallen, weil Baumgart auf dem Markt ist, der sich immer mal wieder zum HSV positioniert hat. Ich hätte Walter nicht ausgetauscht, obwohl ich kein Fan von ihm bin. Und Baumgart kam dann in ein Umfeld, das ihm zu großen Teilen schon nicht gesonnen war, als ich noch da war.
SPORT1: Können Sie das erläutern?
Lotto: Für mich war er immer authentisch und sympathisch. Ein Trainer, der mitleidet und mitgeht - mit dem Spiel und nicht mit sich selbst. Das fand ich großartig. Im Winter im T-Shirt draußen rumlaufen - darüber kann man streiten. Ich war Zeitsoldat, ich kenne diese Mentalität. (lacht) Ich fand Baumgart nie schlecht. Es war nicht seine Schuld, dass der Aufstieg nicht gelang, ebenso wenig wie Walters Schuld. Walter war sogar der erfolgreichste HSV-Trainer in der Zweiten Liga. Aber was ist das System des Vereins dahinter? Man muss sich nur Heidenheim anschauen…
SPORT1: Wieso Heidenheim?
Lotto: Das Spiel der Heidenheimer in Leverkusen - die erste Halbzeit war top. Die haben da richtig etwas gezeigt. Das ist ein Verein, der gewachsen und in sich geschlossen ist. Ein kleines Dorf, mit einem Trainer, der seit 16 Jahren dabei ist - länger, als Klopp in Dortmund und Liverpool zusammen. So hat es auch in Freiburg und Mainz angefangen. Auch in Wolfsburg war das mal so - gut, das will niemand hören. Der HSV dagegen kriegt es seit Jahren nicht hin.
Kuntz? „Das kann doch nicht sein!“
SPORT1: Stefan Kuntz hat ausgeschlossen, Trainer beim HSV zu werden.
Lotto: Er hat in seinem halben Jahr beim HSV gelernt, dass er immer jemanden braucht, der als „Crash Test Dummy“ vor ihm steht. Das war Baumgart. Das Interview von Baumgart nach dem Spiel gegen Schalke hat mich fassungslos gemacht. Er sagte tatsächlich: „Wir haben zwölf Minuten nicht so gut gespielt.“ Ich dachte nur: „Das kann doch nicht sein!“ Ein so sympathischer Mensch, mit einem starken Charakter - und dann so ein Satz. Das hatte etwas von dem Weißbier-Interview von Rudi Völler mit Waldemar Hartmann damals. Nur mit einem Weltmeister-Titel weniger.
SPORT1: Der HSV hat seit Jahren gute Stürmer, dennoch klappt es nicht mit dem Aufstieg.
Lotto: Das mit den Stürmern stimmt. Das ist das Vermächtnis von Jonas Boldt. Aber das Spiel gegen Schalke war einfach nicht gut. Und mich nervt dieses Gerede von der „stärksten Zweiten Liga aller Zeiten“. Es ist die spannendste Zweite Liga, ja. Und natürlich profitiert sie von Vereinen wie Schalke oder dem HSV. Wie stark sie wirklich ist, sieht man an Holstein Kiel und St. Pauli, die in der Bundesliga wenig reißen.
SPORT1: Muss sich auch Stefan Kuntz hinterfragen? Oder hat er noch eine Chance?
Lotto: Wahrscheinlich. Ich habe die Kuntz-Geschichte nie verstanden. Jonas Boldt wirkt vor der Kamera genauso wie abseits davon seltsam angewidert von allem - aber vielleicht ist das mein Problem. Aber er hat gute Arbeit geleistet. Kuntz finde ich unglaublich sympathisch, unkompliziert, freundlich - so habe ich ihn immer wahrgenommen. Ich habe mich nur gefragt: Warum zum HSV? Vielleicht hat man ihm gesagt: „Wir setzen dich jetzt mal auf den Planeten HSV ab, das wird schon klappen.“ Wenn der HSV anruft, denkt man: „Warum eigentlich nicht?“ Bruno Labbadia lebt in Hamburg, die beiden sind befreundet, ihre Frauen auch. Es gibt Schlimmeres. Aber die Entscheidung für Kuntz war nicht auf den Punkt.
SPORT1: Wer wäre Ihr Wunschtrainer?
Lotto: Ein Name wie Ruud van Nistelrooy wäre ein Märchen, ähnlich wie Vincent Kompany vor einem Jahr. Aber realistisch ist das nicht, ebenso wenig wie Kandidaten wie Raphael Wicky oder Paderborns Lukas Kwasniok. Für einen Verein wie den HSV wäre Torsten Lieberknecht eine pragmatische Wahl. Er hat bewiesen, dass er in der Zweiten Liga mit jedem Kader erfolgreich arbeiten kann. Bruno Labbadia könnte ich mir auch vorstellen - zusammen mit Stefan Kuntz wäre das eine spannende Konstellation. Labbadia kennt den HSV und sorgt dafür, dass man nicht absteigt. Ich sehe die pragmatischen Optionen vorne: Lieberknecht oder Labbadia. Lieberknecht ähnelt Baumgart in seiner Art, und ich bin gespannt, wer sich am Ende an den HSV wagt. Die Wahl findet statt zwischen einem Trainer, den das Feuilleton wünscht und dem, den der HSV jetzt braucht.
SPORT1: Was ist zwingend nötig beim HSV?
Lotto: Der HSV braucht eine Identität. Vier Punkte Rückstand auf Platz eins - es gibt Schlimmeres. Und wenn man ein Jahr länger in der Zweiten Liga spielt, ist das halt so. Der HSV muss demütiger werden und aufhören, in die Vergangenheit zu schauen. Der Verein schwankt seit 20 Jahren zwischen „Was ist das für ein Mist?“ und „Schmeißen wir jemanden raus“. Auf Schalke ist es das Gleiche.
SPORT1: Tut Ihnen Baumgart leid?
Lotto: Natürlich. Wie fast jeder Trainer. Dieser sympathische, gehetzte Typ war am Ende nur noch im Verteidigungsmodus. Es muss aufhören, dass Trainer beim HSV durch den Fleischwolf gedreht werden. Deshalb tut mir Baumgart leid. Das ist schade und unnötig. Wie viele Leute willst du noch verbrennen? Als ich noch Stadionsprecher war, habe ich Baumgart oft erlebt und weiß, dass er ein echter HSV-Fan ist. Das wird er auch bleiben.