Änis Ben-Hatira war nie ein Typ, der mit dem Strom geschwommen ist. Er ist ein Berliner Junge mit einer klaren Meinung. Der heute 35-Jährige gehörte der Goldenen Generation von Hertha BSC an, zu der unter anderem auch Kevin-Prince und Jerome Boateng, Patrick Ebert oder Ashkan Dejagah zählten. Sie alle standen für ein modernes, weltoffenes Berlin. Ben-Hatira spielte jeweils fünf Jahre für die Hertha und für den Hamburger SV. Seit vergangenem Sommer läuft er für die zweite Mannschaft der Hertha auf.
“Lieber Walter als eine leblose Wurst“
Vor dem Topspiel der Zweiten Liga am Samstag zwischen der Alten Dame und den Rothosen (Zweite Liga: Hertha BSC - Hamburger SV, 19.30 Uhr LIVE im TV auf SPORT1) spricht Ben-Hatira im SPORT1-Interview unter anderem über seine ehemaligen Klubs, Herthas zuletzt verstorbenen Präsidenten Kay Bernstein und die beiden Trainer Pal Dardai sowie Tim Walter. Dabei geht es auch um einen möglichen Walter-Nachfolger.
SPORT1: Herr Ben-Hatira, wie haben Sie den plötzlichen Tod von Kay Bernstein verarbeitet?
Änis Ben-Hatira: Wir waren gut befreundet und ich habe es an dem Morgen ganz früh erfahren. In den Jahren seiner Präsidentschaft war eine enge Bindung da. Während Corona haben wir viel Zeit zusammen verbracht. Mir fällt es noch schwer darüber zu sprechen. Ich beginne jetzt erst zu akzeptieren, dass Kay verstorben ist.
SPORT1: Es geht Ihnen sehr nah...
Ben-Hatira: Absolut. Und ich habe in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Schicksalsschlag im Fußball erlebt. Ich habe meinen ehemaligen Jugendtrainer Michael Wolf verloren, der damalige Hertha-Physio David de Mel starb mit erst 55 Jahren und während meiner Zeit in der Türkei bei Gaziantepspor beging ein Mitspieler Suizid (Frantisek Rajtoral, d. Red.). Er war mein Zimmernachbar. Das sind Dinge, die mich extrem zum Nachdenken gebracht haben. Kays früher Tod hat mich richtig getroffen. Das neu entstandene Gemeinschaftsgefühl bei der Hertha muss nach seinem Tod unbedingt weitergelebt werden, ohne dass es einen Riss bekommt und da sind die aktuellen Verantwortlichen die richtigen Leute. Es ist noch so unrealistisch, man hat gar nicht damit gerechnet. Es war ein absoluter Schockmoment. Ganz Fußball-Deutschland war extrem betroffen. Kay hat mit seiner Haltung im ganzen Verein und im Umfeld sehr viel bewirkt.
SPORT1: Stand Bernstein für ein neues Wir-Gefühl?
Ben-Hatira: Ganz klar ja. Ich habe mein halbes Leben bei der Hertha verbracht. Wenn es gut läuft im Fußball, ist immer alles schön, dann läuft die Party. Wenn es aber nicht so gut läuft, gibt es schnell Ärger. Man hatte dank Kay das erste Mal seit vielen Jahren das Gefühl, dass man von einer Hertha-Familie gesprochen hat. Es war so, als ob jeder sagt ‚Wir sind Hertha!‘ Als Kay zum neuen Präsidenten gewählt wurde, haben alle gejubelt, als ob Hertha Meister geworden wäre. Es war die pure Euphorie. Es ist wichtig, dass man das fortführt, was Kay aufgebaut hat. Dieses Gemeinschaftsgefühl muss weiter gelebt werden.
Ben-Hatira über Bernstein: „Eine besondere Freundschaft“
SPORT1: Beschreiben Sie mal Ihre Freundschaft.
Ben-Hatira: In den vergangenen Jahren haben wir uns immer mehr angefreundet. In seinem Büro-Gebäude gab es ein Fitness-Studio und ich durfte dort jeden Tag trainieren. Also haben wir uns jeden Tag gesehen. Wir haben zusammen gelacht und viel über die Hertha geredet. Ich war einer seiner ersten Supporter für das Amt des Präsidenten.
SPORT1: Gab es einen besonders emotionalen Moment mit Bernstein?
Ben-Hatira: Als ich ihn nach der Wahl getroffen habe und er Präsident geworden ist. Das war besonders. Einen nicht so schönen Moment hatten wir am Stadion, als Hertha BSC abgestiegen ist. Wir hatten viele private, schöne Augenblicke. Auch, als ich nicht in Deutschland war, ist der Kontakt nie abgerissen. Es war eine besondere Freundschaft.
SPORT1: Hertha belegt aktuell Platz zehn. Wie beurteilen Sie die Lage?
Ben-Hatira: Nach der schwierigen Zeit im Sommer mit der Lizenz, dem Sparkurs und den Stellenkürzungen wurde richtig gute Arbeit geleistet. Ein großes Lob an Benny (Herthas Sportdirektor Banjamin Weber, d. Red.) und Zecke (Andreas „Zecke“ Neuendorf, Leiter Lizenzbereich bei der Hertha, d. Red.). Der aktuelle Kader hat die Qualität, um oben mitzuspielen. Die Truppe braucht noch Zeit, es fehlt nur die Konstanz in den Ergebnissen. Aber der entscheidende Punch, um sich oben festzubeißen, hat bisher gefehlt. Mit dem Kader kannst du aber um den Aufstieg mitspielen. Im Sommer wurde viel darüber gesprochen, dass der Klub sich stabilisieren muss. Ich hoffe, dass die Saison zu Ende gespielt werden kann, ohne dass man unten reinrutscht. Man muss in beide Richtungen schauen.
SPORT1: Aber glauben Sie wirklich schon daran, dass die Alte Dame bereit wäre für den direkten Wiederaufstieg?
Ben-Hatira: Man muss sich nur mal die einzelnen Spieler anschauen. Ich sehe nicht, dass die ersten fünf Klubs besser besetzt sind als die Hertha, wenn man eine direkte Gegenüberstellung machen würde. Hertha ist auf den meisten Positionen wirklich gut besetzt. Der Aufstieg ist nicht das Ziel, das wurde vor der Saison auch so kommuniziert. Und das finde ich auch vernünftig. Aber insgeheim träumt man trotzdem ein bisschen. Man sollte jedoch die Kirche im Dorf lassen, am Ende des Tages zählen die Ergebnisse.
„Konnte nichts mit dem Big City Club anfangen“
SPORT1: Hat man bei der Hertha aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt? Da gab es den Begriff Big City Club und die Windhorst-Millionen.
Ben-Hatira: Hinterher weiß man immer mehr. Ich persönlich konnte als Berliner Junge mit dem Begriff Big City Club nichts anfangen. Dieser Slogan hat nicht zum Verein gepasst. Was nicht heißt, dass die Hertha ein kleiner Verein ist, im Gegenteil. Es bringt auch nichts über die Vergangenheit zu reden, so, wie es jetzt ist, ist es gut. Aktuell sind die richtigen Leute mit einem Hertha-Herz am Ruder. Und man hat mit dem Berliner Weg ein Ziel. Da spielen Benny Weber, Zecke Neuendorf, Tom Herrich und einige andere eine ganz wichtige Rolle.
SPORT1: Pal Dardai war Ihr Trainer bei der Hertha. Wie wichtig ist er nach wie vor?
Ben-Hatira: Ganz wichtig. Er kennt den Klub in- und auswendig. Pal besitzt die Hertha-DNA. Das hat er auch immer vorgelebt. Er hat wieder Disziplin und Ordnung reingebracht. Es geht aber nicht nur um Pal Dardai oder Person XY. Es geht um Hertha BSC.
SPORT1: Man dachte Dardai habe sich abgenutzt, doch es scheint wieder zu passen. Oder?
Ben-Hatira: Ich bin nicht der Meinung, dass Pal sich abgenutzt hat. Auch in der Fanszene wurde so nicht gedacht, auch, wenn Pal schon zwei mal Cheftrainer war und es mit ihm mal schlechter und mal besser lief. Viele waren zufrieden jemanden zu haben, der Herthaner ist. Darum ging es den Verantwortlichen. Jetzt steht am Samstag gegen den HSV ein echtes Prestige-Duell an. Auf das Spiel freuen sich Pal und die Jungs bestimmt sehr.
.SPORT1: Sie spielten fünf Jahre beim HSV. Momentan belegen die Rothosen Platz vier, das würde wieder nicht reichen für den Aufstieg.
Ben-Hatira: Das stimmt. Ich bin beim HSV erwachsen geworden. Es war natürlich eine ganz andere Zeit. Momentan ist die Situation wieder enttäuschend, weil sich jeder beim HSV nach der Bundesliga sehnt. Da gehört der Verein auch hin, das weiß man, wenn man beim HSV unterschreibt. Der große Traum ist es, aufzusteigen. Es ist aber nicht gut, nach 19 Spielen schon wieder so besorgt zu analysieren, dass man unruhig wird. Der Trainer (Tim Walter, d. Red.) stand zuletzt in der Kritik, aber man hat immer über Kontinuität auf der Trainerbank gesprochen, das ist jetzt gegeben. Walter ist das dritte Jahr da. Und mit ihm ist etwas entstanden.
Ben-Hatira über HSV-Coach: „Walter spaltet, aber…“
SPORT1: Sie scheinen ein Fan von Tim Walter zu sein.
Ben-Hatira: Walter spaltet, aber den Fußball, den er spielen lässt, finde ich gut. Mit diesem Spielstil würde sich der HSV in der Bundesliga leichter tun. Aber beim HSV ist das seit Jahren ein psychologisches Ding. Walter wird selber wissen, dass er unter Druck steht. Wenn es mit dem Aufstieg nicht klappt, war‘s das vermutlich für ihn.
SPORT1: Sie sagten, dass Walter spaltet. Wie meinen Sie das?
Ben-Hatira: Die einen sagen, Walter ist mit Leidenschaft dabei, er hat Feuer. Anderen ist er zu laut und unbequem. Er hat seine eigene Art. Lieber Tim Walter als eine leblose Wurst. (lacht) Wir rufen immer nach Typen und Persönlichkeiten und dann gibt es jemanden wie Walter und alle beschweren sich. Wenn er dagegen mit dem HSV aufsteigen würde und fünf Spiele gewinnt, schreien alle ‚Was für ein geiler Typ!‘
SPORT1: Es wird schon der Name Steffen Baumgart als Nachfolger gehandelt. Wäre er einer für den HSV?
Ben-Hatira: Bestimmt. Ich finde es aber etwas respektlos darüber zu sprechen. Tim Walter ist aktuell Trainer des HSV. Ich finde Baumgart sympathisch. Er hat eine coole Art. Aber Tim Walter als Trainer wird von mir auch abgefeiert. Es müsste mehr solcher Typen geben. Baumgart würde schon zum HSV passen. Aber auch zu einigen anderen Traditionsvereinen. Wenn der Aufstieg wirklich gefährdet sein sollte, dann muss Walter sicherlich gehen. Aber so weit ist es noch nicht. Noch ist der Aufstieg absolut drin.
SPORT1: Was würde ein erneutes Scheitern für den HSV bedeuten?
Ben-Hatira: Das wäre natürlich eine große Enttäuschung. Man hat wieder viel Aufwand betrieben und die Fans waren lange euphorisch. Das Gefühl zu wissen, es wieder nicht geschafft zu haben, macht einfach nur noch müde. Der Aufstieg muss einfach gelingen. Nicht, dass sich der HSV an die Zweite Liga gewöhnt.
„Ruud van Nistelrooy sorgte für Krach“
SPORT1: Haben Sie eigentlich eine Anekdote aus Ihrer Zeit bei der ersten Mannschaft der Hertha und beim HSV?
Ben-Hatira: Bei Hertha BSC gab es nicht so viel Spektakuläres. Zu der Zeit, als Jürgen Klinsmann die Hertha beispielsweise trainierte, war ich nicht da. Es gibt aus meiner HSV-Zeit so viele wilde Geschichten. Ob das jetzt Anekdoten sind, weiß ich nicht. Der Wechsel von Rafael van der Vaart vom HSV zu Real Madrid war krass. Der Streit zwischen Huub Stevens und Vincent Company war auch heftig. Oder, wenn ich nur an Frank Rost denke - es ist wirklich viel passiert. Spannend war auch, als Ruud van Nistelrooy zu Real wechseln wollte und dann doch beim HSV geblieben ist. Da gab es Krach.
SPORT1: Sie waren immer der „Bad Boy“ in der Bundesliga . Hat Sie das gestört?
Ben-Hatira: Nein. Ich gehörte zur Goldenen Generation der Hertha mit den Boateng-Brüdern, Ashkan Dejagah, Patrick Ebert, Chinedu Ede, Sejad Salihovic und vielen anderen. Wenn es dann mal nicht lief, wurde bei mir nur das Negative gesehen. Bad Boy war für mich eher positiv. Das ist jemand, der eine gewisse Körpersprache und eine Haltung hat und eine andere Präsenz auf und neben dem Platz zeigt. Das war immer dieses Berliner Ding. Ich wollte nie ein Vorbild sein, sondern nur ein gutes Beispiel oder eine Inspiration. Irgendwann bin ich erwachsen geworden und war dennoch für viele immer noch der Bad Boy.
SPORT1: Was wollen Sie nach der Karriere machen?
Ben-Hatira: Ich will noch etwas spielen, werde demnächst meine Trainerscheine machen. Es gibt auch andere Pläne mit Hertha BSC. Ich werde dem Fußball erhalten bleiben, weil das mein Leben ist.
SPORT1: Wäre Hertha-Trainer ein Traum für Sie?
Ben-Hatira: Das habe ich wirklich noch nicht in meinem Kopf. Wenn ich aufhören werde, werde ich darüber nachdenken, ob ich das Potenzial habe, um ein guter Trainer zu werden. Ich will auf jeden Fall Jugendspieler verbessern. Ich habe immer noch einen Stellenwert für die Jungs.