Der Hamburger SV braucht am Montagabend im Relegations-Rückspiel gegen den VfB Stuttgart ein kleines Wunder, um doch noch in die Bundesliga aufzusteigen.
„HSV-Sinkflug war nicht zu stoppen“
Das Hinspiel haben die Hanseaten mit 0:3 verloren. Im Volksparkstadion soll das Unmögliche möglich gemacht werden.
Dennis Aogo spielte für beide Klubs. Bei den Hanseaten spielte er von 2008 bis 2013, bei den Stuttgartern von 2017 bis 2019. Seine aktive Laufbahn beendete er 2020. Heute lebt Aogo in Dubai und arbeitet als Spielerberater.
Im SPORT1-Interview spricht der 36-Jährige über das Duell am Montag, seine beiden Ex-Klubs und HSV-Trainer Tim Walter.
SPORT1: Herr Aogo, wie sehen Sie die Situation vor dem Rückspiel in der Relegation?
Dennis Aogo: Ich habe es schon im Vorfeld gesagt. In der diesjährigen Relegation treffen zwei große Vereine aufeinander, bei denen man aufgrund der Historie das Gefühl hat, dass zwei gleich starke Mannschaften gegeneinander spielen. Aber im ersten Spiel hat man den Klassenunterschied deutlich gesehen. Der Verlauf der Partie hat dem HSV auf keinen Fall in die Karten gespielt. Der HSV hat die einzige Chance diesen Rückstand wettzumachen, indem er gut ins zweite Spiel startet und mit viel Emotionen und Ehrgeiz in die Begegnung reinkommt. Am vergangenen Donnerstag wurde schnell deutlich, dass die individuelle Qualität auch grundlegend wichtig ist.
„Individuell ist der VfB ganz klar besser besetzt“
SPORT1: Hat der VfB wirklich so viel mehr individuelle Qualität?
Aogo: Ganz klar ja. Es hat schon einen Grund, warum der VfB in der Bundesliga spielt und der HSV in der 2. Liga. Die Stuttgarter sind so aufgestellt, dass man vor der abgelaufenen Saison nicht davon ausgehen konnte, dass es ein klarer Abstiegskandidat ist. Individuell ist der VfB ganz klar besser besetzt.
SPORT1: Wie schlimm wäre es, wenn der HSV ein sechstes Jahr in der 2. Liga spielen muss?
Aogo: Ich denke, ein weiteres Jahr 2. Liga wäre keine Katastrophe. Nach fünf Jahren ist es fast schon Normalität geworden. Das spiegelt sich auch im Kader wieder. Die Hamburger haben größtenteils oben mitgespielt, aber sie waren nicht immer absolut dominant. Umso länger ein Klub in der 2. Liga spielt - und der HSV hat es einige Male schon verpasst aufzusteigen - desto mehr passt sich das sportliche Umfeld den Gegebenheiten an. Der HSV ist ein Zweitligist - vom Kader her. Das ist einfach so.
SPORT1: Sie haben die meiste Zeit Ihrer Karriere für den HSV gespielt. Wie blicken Sie zurück?
Aogo: Es war die schönste und prägendste Zeit für mich. Ich kam damals aus der 2. Liga und der HSV war zu der Zeit noch eine große Nummer. Ich bin dort zum Bundesliga- und Nationalspieler gereift. Zum HSV habe ich die größte, emotionale Verbindung.
„Die Zeit beim HSV war einfach prägend für mich“
SPORT1: Deshalb drücken Sie am Montag den Rothosen auch mehr für Daumen?
Aogo: Ja, denn mein Herz schlägt mehr für den HSV. Aber mein Kopf und die Realität sagen mir, dass der VfB der klare Favorit ist. Mit dem Hinspiel-Ergebnis im Gepäck sowieso. Ich habe noch guten Kontakt nach Stuttgart, weil ich später dort gespielt habe und noch einige handelnde Personen kenne. Ich habe sehr gute Erinnerungen an den VfB. Aber die Zeit beim HSV war einfach prägend für mich.
SPORT1: Was läuft beim HSV seit Jahren schief? Immer wieder wurde der Aufstieg verpasst. Jetzt droht das sechste Jahr 2. Liga.
Aogo: Das ist schwer zu sagen. Natürlich mache ich mir da auch meine Gedanken, weil eigentlich alles gegeben ist: wahnsinnige Fans, eine schöne Stadt, ein tolles Stadion. Ich schiele immer mit einem Auge zum HSV und habe schon das Gefühl, dass man stets alles versucht hat und jeden Stein umgedreht hat. Aber am Ende des Tages liegt die Wahrheit auf dem Platz. Man muss endlich diesen einen Punch setzen. Das heißt ganz gut mitspielen reicht nicht. Am Ende muss man das Ding über die Ziellinie bringen. Der HSV hat sich entschieden, auf Kontinuität zu setzen, das finde ich grundsätzlich sehr gut. Doch am Ende zählen den Ergebnissen. Und die sind bis jetzt nicht zufriedenstellend.
SPORT1: Sie hatten in ihrer Zeit beim HSV acht Trainer. Wer war für Sie der Beste?
Aogo: Ich hatte in meiner Karriere über 20 Trainer und habe nicht die allerbesten Erfahrungen mit ihnen gemacht. Rückblickend muss ich sagen, dass ich wenig Trainer hatte, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie mir inhaltlich viel mitgegeben haben. Das klingt hart, ist aber leider die Realität. Wenn ich mich festlegen müsste, dann hat mir Thorsten Fink beim HSV am meisten gegeben. Er hat mir einen komplett neuen Ansatz aufgezeigt, was meine Position angeht. Und er hat mir auch Dinge nähergebracht, die ich noch nicht kannte oder von der Pike auf gelernt hatte. Die meisten Trainer machen am Ende des Tages doch vieles gleich. Aber einen komplett neuen Ansatz, was meine Position betrifft, habe ich bei Fink bekommen.
SPORT1: Sie haben zu Beginn Ihrer Profikarriere in Freiburg auch unter Christian Streich gespielt. Was könnten sich damalige HSV-Trainer von ihm abschauen?
Aogo: Gar nichts! Weil es ein komplett anderes Umfeld ist. Das kann man nicht miteinander vergleichen. Christian Streich würde beim HSV vielleicht gar nicht funktionieren. Auch wenn er eine besondere Persönlichkeit und Trainer ist. Ich bin Streich sehr dankbar. Er war einer der wichtigsten Personen, warum ich Profi geworden bin. Aber es ist etwas anderes, Trainer in Freiburg zu sein oder beim HSV, auf Schalke, bei Bayern oder in Dortmund. Auch beim VfB Stuttgart ist es etwas anderes.
„Nach fünf Jahren beim HSV wurde ich nicht mal vernünftig verabschiedet“
SPORT1: War es eine Frage der Zeit, bis der HSV da landet, wo er seit Jahren steht?
Aogo: Absehbar war es nicht, auch, wenn wir damals gemerkt haben, dass das Schiff langsam sinkt. Wir haben noch versucht, es aufzuhalten, aber es ist nicht gelungen. Der Sinkflug des HSV war nicht zu stoppen. Es war ein komisches Gefühl, weil wir ratlos waren. Nach meinem Abschied beim HSV hat es sich gezeigt, dass es mit dem Verein immer weiter abwärts geht. Es hatte sich angedeutet, ich hätte aber niemals gedacht, dass es so kommt, wie es gekommen ist.
SPORT1: Haben Sie damals im richtigen Moment den HSV verlassen?
Aogo: Ja. Ich bin aber nicht im Positiven gegangen. Das finde ich bis heute sehr schade. Nach fünf Jahren beim HSV wurde ich nicht mal vernünftig verabschiedet. Ich bin am Anfang der Saison gegangen und sportlich war es das Beste, was mir passieren konnte. Der HSV spielte gegen den Abstieg und ich mit Schalke in der Champions League. Aber es war schon eine seltsame Situation, dass ich fünf Jahre ein Trikot trug und dann innerhalb von einer Woche ein neues Trikot angezogen habe. Das war die seltsamste Situation in meiner Karriere. Es hatte sich einfach komisch angefühlt.
SPORT1: Sie hätten sich einen herzlicheren Abschied gewünscht?
Aogo: Natürlich. Bei einem Abschied ist es oft für die eine Seite schmerzhafter als für die andere. Aber ich habe damals diese Beziehung zwischen mir und dem HSV als etwas Besonderes empfunden. Gerade in den Zeiten, als es sportlich gut lief, habe ich für den HSV auf viel verzichtet. Ich habe auch anderen Topklubs abgesagt. Ich habe aber gelernt, dass es am Ende gar nicht darum geht, ob man Verbundenheit und Dankbarkeit verspürt. Es funktioniert gut, solange beide Parteien voneinander profitieren. Wenn der Klub nicht mehr davon profitiert, wird man schnell fallen gelassen. Das war für mich als junger Spieler eine schmerzhafte Erfahrung.
SPORT1: Welche Wucht kann das Volksparkstadion haben. Das ist der Hoffnungsschimmer für die Verantwortlichen des HSV.
Aogo: Was sollen die Verantwortlichen auch sagen? Das Spiel in Stuttgart hat nicht viel hergegeben. Die Niederlage hätte noch höher ausfallen können. Das ist der letzte Strohhalm für den HSV. Der Volkspark hat eine besondere Energie. Aber diese zu entfachen, müssen die Spieler auf dem Platz schaffen. Der Funke muss vom Platz auf die Ränge überspringen und nicht umgekehrt. Da ist die Mannschaft gefordert. Es ist keine einfache Situation, denn es herrscht ein enormer Druck auf die Spieler. Jetzt nochmal ein Feuerwerk zu zünden, wird sehr schwierig. Da ist brutale Aufbauarbeit notwendig.
„Ich hätte Tim Walter gerne als Trainer gehabt“
SPORT1: Was wird am Montagabend wichtig sein?
Aogo: Es wird ganz wichtig sein, wie der HSV in das Spiel startet. Es muss ein frühes Tor fallen, ähnlich wie es in Stuttgart für den VfB fiel. Es wird sehr schwer für den HSV, wenn das nicht passiert.
SPORT1: HSV-Trainer Tim Walter ist ein besonderer Typ. Ist er der deutsche Mourinho?
Aogo: Tim Walter der deutsche Mourinho? Das ist aber ein großer Vergleich. Walter ist ein eigener Typ. Er ist gefordert, den Jungs den Glauben daran zu geben, das Wunder schaffen zu können. Das Spiel, das Walter spielen lässt, ist sehr Risiko behaftet. Wenn man in diesem Spielstil unsicher ist, funktioniert es nicht.
SPORT1: Walter schickte in Stuttgart einen Kameramann mit den Worten „Verpiss dich!“ weg, als dieser sich der Spielertraube nach dem Spiel näherte.
Aogo: Ich kann und will diese Szene nicht kommentieren, weil ich nicht weiß, was genau vorgefallen ist. Aber besondere Typen haben immer auch einen außergewöhnlichen Charakter. Das ist ja grundsätzlich etwas Positives. Walter schlägt bewusst einen anderen Weg ein. Dass dieser nicht jedem passt, ist auch klar. Aber er zieht sein Ding durch und das finde ich gut. Jonas Boldt (Sportvorstand beim HSV, d. Red.) hätte sicher nicht den Vertrag mit Walter verlängert, wenn er nicht daran glauben würde, dass er der richtige Trainer ist. Aber am Ende des Tages wird auch er am sportlichen Erfolg gemessen und das heißt aufzusteigen. Tim Walter muss jetzt liefern. Spätestens in der nächsten Saison. Wenn er im Falle des Nicht-Aufstiegs gehen müsste, würde ich die Vertragsverlängerung nicht verstehen.
SPORT1: Hätten Sie als Profi gerne unter Walter gespielt?
Aogo: Grundsätzlich mag ich Typen wie Tim Walter. Ich finde es gut, wenn ich sportlich noch etwas dazu lerne oder neue Ideen mitbekomme. Da wäre ich bei Walter an der richtigen Adresse. Er ist mit Sicherheit keiner für Dienst nach Vorschrift, sondern der sich etwas dabei denkt, wenn er manches anders spielen lässt. Ich hätte mir zumindest Walters Ideen gerne mal angehört. Auf dem Platz sieht das interessant aus. Ich würde das System Tim Walter gerne mal von ihm erklärt bekommen. Da bin ich mir sicher, dass ich einiges von ihm lernen könnte. Ich mag generell außergewöhnliche Typen und er ist einer. Ich hätte Tim Walter gerne als Trainer gehabt.
„Jeder bleibt in der Liga, wo er vor der Relegation war“
SPORT1: Was muss der HSV dauerhaft besser machen?
Aogo: Sie müssen endlich Konstanz reinkriegen. So, dass sie auch mal eine Saison ohne größere Rückschläge spielen können. In den vergangenen Jahren war man dominant, ist aber hinten raus eingebrochen. Das war in der abgelaufenen Runde nicht so deutlich, man hatte aber dennoch Schwächephasen drin. Der Punkt Konstanz ist ganz wichtig, um aufzusteigen.
SPORT1: Wie geht es am Montag aus?
Aogo: Jeder bleibt in der Liga, wo er vor der Relegation war. So leid es mir für den HSV tut.