Der FC St. Pauli Hamburg und Darmstadt 98 kommen gemeinsam auf zwölf Bundesligajahre.
Als Darmstadt Fußball-Historie schrieb
Doch getroffen haben sie sich im Oberhaus nie, ihre Beziehungsgeschichte beschränkt sich auf die 2. Bundesliga. Womöglich ändert sich das bald, denn das Top-Spiel heute (ab 19.30 Uhr LIVE im TV auf SPORT1) verdient seinen Namen. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der 2. Bundesliga)
Andere Voraussetzungen 2015
Beide können aufsteigen, der Dritte trifft auf den Vierten. Eine Entscheidung fällt aber nicht heute und deshalb kann es auch nicht zu solchen Jubelszenen kommen wie am 24. Mai 2015. Nach diesem Duell, damals am Darmstädter Böllenfalltor, jubelten beide ausgelassen.
Vor dem letzten Spieltag der Zweitligasaison 2014/15 waren noch viele Fragen offen: Es galt den zweiten Aufsteiger hinter dem FC Ingolstadt und den zweiten Absteiger hinter dem VfR Aalen zu ermitteln, auch die jeweiligen Relegationsplätze waren folglich nicht vergeben.
Um den Aufstieg kämpften noch drei Mannschaften, gegen den Abstieg sechs – und am Darmstädter Böllenfalltor ging es an diesem Tag um Himmel und Hölle. Bloß dass vor der Saison wohl jeder Experte mit einer anderen Rollenbesetzung gerechnet hätt – wollte nicht St. Pauli aufsteigen, wollte Darmstadt nicht einfach nur drinbleiben?
Von ganz unten nach ganz oben
Doch es kam anders. Die Südhessen von Trainer Dirk Schuster, die seit zwei Jahren einen Traum lebten – nach glücklicher Rettung vor dem Abstieg aus der 3. Liga (Lizenzentzug von 1860 München) und einem irren Aufstiegskrimi in der Relegation gegen Bielefeld (4:2 auswärts nach Heim 1:3) – spazierten unerschrocken durch die Liga. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur 2. Bundesliga)
Nach dem 33. Spieltag hatten sie nur fünf Spiele verloren, das Team voller Nobodies und Gescheiterter lag mit einem Punkt vor dem Karlsruher SC und dem 1. FC Kaiserslautern auf Platz zwei. Nun hatten sie Matchball, ein Sieg würde den dritten Aufstieg bringen.
Kapitän Aytac Sulu, aus der 2. Liga Österreichs verpflichtet, tönte: „Von Angst oder Puls ist nichts zu spüren, schließlich haben wir alle so eine Endspielsituation schon mal erlebt, vor gar nicht allzu langer Zeit“, spielte er auf das Wunder von Bielefeld an.
Darmstadt gelingt der Durchmarsch
Trainer Dirk Schuster wich dennoch etwas von der Gewohnheit des Alltags ab und setzte in der Woche vor dem Spiel Geheimtraining an. Wie schon vor den Bielefeld-Krachern spielten sie in der Kabine den WM-Hit von Andreas Bourani „Ein Hoch auf uns“, den viele Deutsche auf ewig mit dem Triumph von Rio 2014 verbinden.
Ein Durchmarsch von Darmstadt, dem 2009 noch fast insolventen Verein aus der südhessischen Kleinstadt, dessen Stadion den Charme der Siebziger atmete, wäre der Höhepunkt der Vereinsgeschichte, das wussten alle.
Das Stadion platzt an diesem Sonntag aus allen Nähten, 16.150 Zuschauer wollen dabei sein. Und doch gibt es sechs größere Kulissen am 34. Spieltag, denn fast alle Klubs haben größere Stadien, Darmstadt nicht mal eine überdachte Gegentribüne.
St. Pauli kämpft um den Klassenerhalt
Selbst der FC St. Pauli hat es komfortabler, aber das hilft ihm wenig. Er muss die Rettung 2015 in der Fremde eintüten. Auf Platz 14 gehen die Hamburger ins Rennen, mit einem Punkt vor 1860 München und dem FSV Frankfurt und zwei vor Erzgebirge Aue. Es sah schon mal schlimmer aus, die Hinrunde haben sie auf dem letzten Platz beendet, dann übernimmt Ewald Lienen das Kommando. Der alte Trainerfuchs hat die Lage mit fünf Siegen aus den letzten sieben Spielen deutlich verbessert, dennoch gilt: verlieren verboten!
Die Darmstädter Fans sind mit einem Ohr auf den Plätzen in Karlsruhe und Kaiserslautern und müssen hören, dass beide Konkurrenten zur Halbzeit an den Lilien vorbeigezogen sind, sie führen jeweils mit 1:0. Nach 45 eher ereignisarmen Minuten an diesem bewölkten Sonntag ist Darmstadt Vierter, die Hamburger noch auf 14.
Sie haben mutiger begonnen und durch Lasse Sobiech, der heute bei Darmstadt spielt, die größte Chance der ersten Hälfte, doch streicht sein Kopfball über den Kasten von Christian Mathenia (heute Nürnberg). Tobias Kempe trifft nach 40 Minuten das Außennetz, es ist die größte Torannäherung der Gastgeber. Doch sein großer Moment soll noch kommen. In der 55. Minute übt er schon mal, da geht der Freistoß des gefürchteten Spezialisten noch knapp übers Tor.
Das „Bölle“ explodiert
In Karlsruhe steht es mittlerweile 2:0, sehr zur Freude des proppevollen Gästeblocks, denn damit scheidet 1860 München allmählich aus dem Kreis der Pauli-Verfolger aus. Für Darmstadt aber gilt umso mehr: ein Tor muss her. In der 70. Minute bekommen die Lilien einen Freistoß aus etwa 22 Metern, halblinker Position. Kempe legt sich den Ball zurecht, da wird er bei der Ausführung unterbrochen: Lienen wechselt aus.
Kempe bekommt noch 30 Sekunden Zeit nervös zu werden oder um sich noch besser zu konzentrieren. Zwei weitere Mal legt er sich den Ball zurecht, dann darf er endlich schießen. Mit rechts. Über die Drei-Mann-Mauer hinweg senkt sich der Ball flach in die untere rechte Ecke von Keeper Robin Himmelmann. Der ist noch dran, kann den Ball aber nicht fassen. Womit das Unfassbare zum Greifen nah wird – Darmstadt trennen noch 20 Minuten von der Bundesliga. Das „Bölle“ explodiert.
In Kaiserslautern fällt 10 Minuten später der Ausgleich, nun kann nur noch der KSC Darmstadt gefährlich werden – und natürlich St. Pauli. Dirk Schuster versucht den Spielfluss zu stören, wechselt in den letzten zehn Minuten dreimal aus – damals ist es das Maximum an erlaubten Wechseln. St. Pauli kommt bis auf einen Flachschuss von Lennart Thy, der am Pfosten vorbei trudelt, zu keiner Chance mehr.
„Eine Ganzkörpergänsehaut“
Dann endlich pfeift Florian Meyer ab und Aufstiegsheld Kempe erlebt angesichts des nun folgenden, völlig friedlichen, Platzsturms „eine Ganzkörpergänsehaut“, wie er neulich erst der Sport Bild erzählte.
Im Trubel verlor er seine Schuhe, aber auch mit den Ersatzteilen blieb er treffsicher – 44 Tore in den folgenden sieben Jahren sind beachtlich für einen Mittelfeldspieler. Kempe und Linksverteidiger Fabian Holland, heute Kapitän, sind die einzigen „Überlebenden“ aus der Aufstiegstruppe. Sie wissen wie schön es ist, einen Durchmarsch in die Bundesliga zu schaffen. (DATEN: Die Tabelle der 2. Bundesliga)
Weil St. Pauli dank der Niederlage von 1860 München und des Remis von Aue (2:2 in Heidenheim) auf Platz 15 noch drin bleibt, steigt im Stadion eine Riesenfete. Auch die Pauli-Fans schwenken ihre Fahnen und singen, die der Darmstädter feiern den beliebten Kiez-Klub in Sprechchören gleich mit.
Natürlich ist Darmstadts Erfolg der größere und vor allem ist er unglaublich. „Das hier sind Helden für die Ewigkeit“, sagt Präsident Klaus Rüdiger Fritsch gerührt und richtet kecke Grüße an die Bayern aus. „Wenn der Pep kommt, wischen wir hier noch mal durch“, sagt er selbstironisch ob der primitiven Zustände am Böllenfalltor.
Wie zur Bestätigung läuft im größten Aufstiegstrubel ein Funktionär der Champions durch die Katakomben und fahndet dringend nach einem Installateur, denn zur Feier des Tages hat es vor den Kabinen einen Wasserrohrbruch gegeben.
Fußballmärchen Darmstadt 98
Mathenia ist das egal, er kennt das: „Bei uns ist es in der Kabine kalt, bei uns stinkt es, die Bayern werden ihre Freude haben.“ Auch Bruno Labbadia, der mit dem HSV am Vortag die Relegation gegen den Abstieg aus der Bundesliga erreicht hat, kennt diese Zustände als Ex-Spieler und Ex-Trainer der Lilien und als Sänger des Vereinslieds, das in den 80er-Jahren aufgenommen worden ist.
Er gratuliert aus der Ferne: „Wenn es noch ein Fußballmärchen gibt, dann ist es Darmstadt 98. Glückwunsch von ganzem Herzen.“ Was da noch keiner glauben kann – das Märchen erhält ein weiteres dickes Kapitel. Darmstadt hält die Klasse und bekommt sogar ein zweites Bundesligajahr, ehe es 2017 zu St. Pauli zurückkehrt.
Heute treffen sie sich zum 20. Mal in der 2. Liga. Mal sehen, wann sich die Wege wieder trennen und wer den Schritt nach oben macht.