Zwei ehemalige Meister, die mit Fug und Recht das Label Traditionsklub tragen. Die Tradition dieses Spiels reicht so weit zurück, dass schon keiner mehr lebt, der das berühmteste Duell zwischen ihn gesehen hat.
Ein Endspiel-Drama für die Ewigkeit
Vor fast genau 100 Jahren trafen der HSV und der 1. FC Nürnberg in einem Endspiel für die Ewigkeit aufeinander. Es ging um die Deutsche Meisterschaft und musste sogar wiederholt werden. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur 2. Bundesliga)
Sie spielten zwei Mal bis zur Erschöpfung, aber nicht bis zur Entscheidung. Die musste am grünen Tisch fallen. Schließlich gab es keinen Meister.
Vor dem jetzigen Top-Spiel der 2. Liga zwischen Nürnberg und dem HSV erinnert SPORT1 an das verrückteste Finale in der Geschichte des Deutschen Fußballs.
FC Nürnberg wie so oft Favorit bei der Titeljagd
Es hat sicher schon viele Endspiele gegeben, deren Ausgang weniger klar erschien als das vom Sommer 1922.
Rückblende: Der 1. FC Nürnberg ist die absolute Übermacht in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und hat schon 1920 und 1921 den Titel gewonnen.
Namen wie Stuhlfauth, Träg, Kalb und Sutor kennt jedes Kind in Deutschland, es ist die Star-Elf jener Epoche und scheint unbesiegbar. So leistet es sich der Club kurz vor Endrundenbeginn sogar, im April als erste deutsche Elf für eine Woche nach Spanien zu fahren und wird für ihre Auftritte gefeiert.
Nach Berlin zum Finale reisen sie mit der Selbstgewissheit des Favoriten. Der HSV hingegen ist selbst in der eigenen Stadt 1922 nur die Nummer drei, aber dennoch Norddeutscher Meister geworden und somit in die Endrunde gerutscht.
Als er im Halbfinale Wacker München 4:0 schlägt, glauben viele Fußballfans an einen Druckfehler.
Nürnberg also ist Favorit, aber keineswegs sorgenfrei. Nationalspieler Hans Kalb bricht sich in einem Testspiel das Schienbein und so fährt der Club ohne seinen begnadeten Mittelläufer nach Berlin, wo am 18. Juni im erst frisch erbauten Grunewald-Stadion rund 30.000 Zuschauer auf die Mannschaften warten. Die meisten von ihnen drücken dem HSV die Daumen.
In dessen Reihen steht mit Otto „Tull“ Harder nur ein aktueller Nationalspieler, der wegen seiner harten Schüsse im ganzen Land gefürchtet ist. Schiedsrichter ist der spätere DFB-Präsident Peco Bauwens. Der Regen hat vor dem Anpfiff aufgehört, die Wolken weichen der Sonne, ein leichter Wind fegt übers satte Grün. Es ist angerichtet für ein Fußballfest – aber es wird keines.
Nach 19 Minuten geht der Außenseiter durch den Teenager Hans Rave in Führung, aber damit reizt er den Meister nur. Heinrich Träg nimmt sich vom Anstoßkreis den Ball, marschiert durch die Hamburger Reihen und weil ihn keiner aufhält, gleicht er aus.
Dieser Schlagabtausch binnen Sekunden wird Symbolkraft haben für dieses Endspiel: man schenkt sich nichts. Als Luitpold Popp zehn Minuten später HSV-Keeper Hans-Joachim Martens aus 20 Metern überwindet, scheinen die Dinge doch ihren erwarteten Verlauf zu nehmen.
Spieler gehen an ihre körperlichen Grenzen
Das Spiel wird nach Wiederanpfiff immer härter. Harder rammt Nürnbergs Anton Kugler angeblich „unabsichtlich, aber fürchterlich“ die Faust ins Gesicht, was diesen vier Zähne kostet, andere Quellen sprechen von fünf.
Ein anonymer Zeitzeuge wird in einer FCN-Chronik zitiert: „Im Geiste sehe ich den Kugler Toni, wie er einen Zahn um den andern auf die geweihte, blutgetränkte brandenburgische Erde spotzt.“ Er hält nach kurzer Behandlung durch. Nach der zehnten Verletzungsunterbrechung hält Bauwens eine kurze Ansprache an die Spieler und appelliert an den Fair-Play-Gedanken. Es hilft wenig, „immer verbitterter, härter, unschöner und verworrener wird das Spiel.“
Ein Ende findet es noch lange nicht, denn die nie aufsteckenden Hamburger gleichen vier Minuten vor Abpfiff durch Hans Flohr aus. 2:2 heißt es auch nach 90 Minuten. Das Reglement sieht zwei mal 15 Minuten Verlängerung vor. Was aber sieht der Himmel vor? Es gibt noch kein Flutlicht und nun ist es schon fast sieben Uhr abends. Trotz einbrechender Dunkelheit: Tore fallen keine mehr. Es gibt eine weitere Verlängerung, nun um zwei mal zehn Minuten, aber immer noch steht es 2:2.
Schiedsrichter Bauwens fällt nach 165 Minuten um, von Wadenkrämpfen geplagt. Doch auch mit sich selbst kennt der Regelhüter kein Erbarmen. Er rappelt sich auf, es geht nach kurzer Pause weiter, in die vermeintlich letzte Phase – „bis zum Weißbluten der Spieler!“, wie eine Zeitung schreibt. (DATEN: Die Tabelle der 2. Bundesliga)
Spielabbruch wegen Dunkelheit
Was bedeutet: das nächste Tor möge den Meister machen, denn schon 1922 gibt es das Golden Goal. Aber es fällt nicht. Was hat Vorrang nun? Regelwerk oder Menschlichkeit? Das Publikum will nicht mehr, es gibt „Aufhören“-Rufe. Bauwens hat ein Einsehen, nach 189 Minuten, es geht auf halb neun zu, pfeift er wegen der einbrechenden Dunkelheit ab. Das jedenfalls ist ein Abbruchgrund, Erschöpfung nicht. Ein junger Journalist fragt Club-Keeper Heiner Stuhlfauth, ob es schon morgen weiter gehe. Der Club-Torwart antwortet im breitesten Fränkisch: „Sie sänn gwiss närrisch, Herr Schödel!“
Aber ein Jahr ohne Meister, das darf nicht sein. 1904 hatte es das zwar schon mal gegeben, als der DFB das bereits terminierte Endspiel zwischen VfB Leipzig und Britannia Berlin wegen eines Regelverstoßes absetzte und die ganze Endrunde annullierte.
1922 soll das nicht passieren, man nimmt sich nur eine Sommerpause. Sieben Wochen vergehen bis zum vorgeschriebenen, aber noch nie nötig gewordenen Wiederholungsspiel, das am 6. August in Leipzig stattfindet und das erste Finale noch in den Schatten stellen sollte.
Die Wartezeit wird mit gegenseitigen öffentlichen Vorwürfen überbrückt, die Stimmung ist aufgeladen. Wieder haben die Nürnberger Pech bei der Aufstellung. Kalb fehlt immer noch; ein Beinbruch im Spiel – das kann passieren. Aber dass Verteidiger Michael Grünerwald bei einem Zwischenhalt des Zugs in Marktredwitz, er will sich mit Bier und Würstchen versorgen, beim Aussteigen am Trittbrett hängenbleibt und sich beim Sturz den Fuß verknackst, das eher nicht.
Damals reist man gewöhnlich ohne Ersatzspieler und so muss der Reservist Reitzenstein, dessen Vornamen alle Chroniken verschweigen, telegraphisch nach beordert werden. „Grünerwald verletzt - stop - mit Sonderzug nachkommen - stop - 1. FC Nürnberg“, liest er am Tag vor dem Finale und reist mit fröhlich-lärmenden Club-Fans im Zugabteil nicht gerade komfortabel an.
Am Sonntagmorgen um fünf stößt er zur Mannschaft. Ihm jedenfalls wird der verzögerte Anpfiff recht gewesen sein, denn im für 40.000 Zuschauer zugelassenen VfB-Stadion im Stadtteil Probstheida finden sich nach Schätzungen zwischen 50.000 und 70.000 Menschen ein. Es ist Zuschauerrekord für Deutschland und die Spieler brauchen eine halbe Stunde, bis sie auf den Rasen gelangen.
Dort stehen sie in nahezu unveränderter Besetzung, jede Elf hat nur einen Tausch vorgenommen und auch Peco Bauwens ist wieder dabei um zu Ende zu bringen, was sie in Berlin angefangen haben. Leider machen sie auch da weiter wo sie aufgehört haben: von Beginn an ist es ein hartes Spiel. Schon nach 18 Minuten stellt Bauwens Club-Stürmer Willi Böß vom Platz.
Nachholspiel mit starkem Einsatz
Lassen wir Bauwens selbst zu Wort kommen: „Nachdem sich in der ersten Viertelstunde eine scharfe Note im Spiel beider Mannschaften zeigte, ermahnte ich die Mannschaftsführer und wies darauf hin, dass ich nun zu dem schärferen Mittel des Herausstellens greifen würde, da meine dauernden Ermahnungen und die Verhängung von Strafstößen (damalige Bezeichnung für Freistöße) doch nichts nützen würden. Ein Vorstoß vom Nürnberger Innensturm kam im Strafraum zum Stillstand. Der Ball wurde von einem Hamburger Spieler im weiten Schlag zum linken Flügel gegeben, und zwar ging der Ball bis auf die Mittellinie. Als der hohe Stoß erfolgt war, sah ich noch, wie Böß, obgleich der Ball weg war, sein Bein gegen einen am Boden liegenden Hamburger erhob. Daraufhin verwies ich Böß des Spielfeldes.“ Hier war der Namen wohl Programm.
Selbst die Nürnberger sahen das ein. Ihr Präsident Ludwig Bäumler kritisiert den Sünder in der Vereinszeitschrift hart: „Böß Verhalten war ein Vorkommnis, das geeignet war, nicht nur unsere Hoffnungen, sondern auch unsern sportlichen Kredit ins Wanken zu bringen. Unser Mittelstürmer ließ sich zu einer Handlung hinreißen, die ihm nicht verziehen werden kann. Zu deuteln gibt es an der Sache nichts, sie ist festgestellt von einwandfreien Zeugen; dass der angegriffene Beier nach Verlauf von 5 Minuten wieder kreuzfidel weiter spielte, ändert wenig.“
Andere Beobachter monieren indes die angeblichen Schauspielkünste der Hamburger.
Trotz Unterzahl geht der Club nach 48 Minuten durch Heinrich Träg in Führung. Bis zur 69. Minute hat das 1:0 Bestand, dann gleicht Karl Schneider für den HSV aus. Nach Toren steht es 1:1, nach Spielern vier Minuten später 11:9, denn Pechvogel Toni Kugler, der im Hinspiel Zähne einbüßte, erwischt es nun am Knie.
Eine Weile quält er sich mit Schmerzen, dann macht es keinen Sinn mehr. Auswechslungen sind 1922 nicht erlaubt. Mit zwei Mann weniger schleppt sich der Club in die nächste Verlängerung dieses Kaugummi-Finales. Es soll noch schlimmer kommen, viel schlimmer. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der 2. Bundesliga)
In der 105. Minute wird Träg vom Feld gestellt. Bauwens schreibt in seinen Bericht, warum er den Club auf acht Mann dezimieren musste: „Etwa fünf Minuten vor Schluss (der ersten Halbzeit der Verlängerung, Anm. d. Red.) machte Träg einen schnellen Vorstoß, den Beier durch korrektes Sperren unschädlich machte. Träg stieß nun, ohne den Ball zu haben, Beier mit aller Kraft in den oberen Rücken, nahe dem Nacken, so dass Beier nach vorn überkugelte. Im gleichen Augenblick pfiff ich ab und verwies Träg des Platzes. Die Handlung war derart gemein, dass ich nahe daran war, das ganze Spiel jetzt schon abzubrechen.“
Die Verlängerung bleibt nicht aus
Eine Szene mit Vorgeschichte; Träg ist gereizt worden, wie Peco Bauwens ebenfalls zu Protokoll gibt: „Bevor ich die erste Verlängerung anpfiff, hörte ich eine heftige Auseinander-setzung zwischen Träg (Nürnberg) und Agte (Hamburg). Ich frug, um was es sich handelte, worauf Träg sehr erregt sagte: ‚Der hat Lump zu mir gesagt und Sie haben es nicht hören wollen.‘ Zuerst wies ich wieder mal Träg wegen der letzten Bemerkung zurecht. Agte versuchte, sich bei Träg zu entschuldigen. Dieser ließ das aber nicht gelten, sondern erklärte ihm, ihn ‚5 Minuten vor Schluß kaputt zu treten‘.“
So weit lässt es Bauwens nicht kommen, er stellt Träg früher vom Feld. Dann muss mit dem Pausenpfiff der Verlängerung auch noch Nürnbergs Luitpold Popp vom Platz, aber das erledigen die Sanitäter – Diagnose Kreislaufkollaps. Bauwens: „Ich ließ einige Zeit verstreichen, damit er sich erhole. Es wurde mir dann von Spielführer Riegel erklärt, Popp könne nicht mehr weiterspielen. Ich machte darauf aufmerksam, dass ich das Spiel abbrechen müsse, da weniger als acht Mann auf dem Spielfelde seien. Riegel erklärte nach einiger Zeit, Popp könne nicht mehr eintreten. So brach ich vor Beginn der zweiten Verlängerung ab.“
Wieder ein Endspiel ohne Endscheidung
Ein Finale Elf gegen Sieben hätte wohl auch jeglichen Reiz verloren, dennoch liegt Bauwens daneben. Laut Regel müssen mindestens sechs Spieler auf dem Feld sein, der Abbruch hätte nicht erfolgen dürfen. Dass nach summa summarum über fünf Stunden, präzise 304 mitunter brutalen Minuten, die wenigsten noch Lust auf eine Fortsetzung verspüren, ist jedoch nicht verwunderlich. Ein paar HSV-Fans sehen das trotzdem so, man muss sie bändigen.
Ratlos gehen die Massen nach Hause, das Endspiel bis zur Erschöpfung hat erneut keinen Sieger erbracht. Er muss am grünen Tisch gefunden werden.
Auch das juristische Nachspiel geht in die Verlängerung: Als der DFB kurz darauf auf einer Tagung in Hildesheim den HSV zum Meister erklärt, weil ja Nürnberg am Spielabbruch schuld gewesen sei, droht der Süddeutsche Fußballverband mit Austritt. In der Revision in Würzburg wird beschlossen, dass es keinen Meister 1922 geben werde.
Der HSV lässt nicht locker und bringt die Frage auf dem Bundestag in Jena im November noch mal auf die Tagesordnung. Obwohl die Delegierten mit 53:35 für den Meister HSV stimmen, hat dieser mittlerweile keine Lust mehr auf den auf diese Weise errungenen Titel und verzichtet nun doch.
Ein Jahr später schafft er es auf sportlichem Wege dann doch. Späte Genugtuung. Geschichte aber schrieb das Finale ohne Ende.