Für Lewis Holtby ist das Spiel von Holstein Kiel beim Hamburger SV am Samstagabend (ab 19.30 Uhr LIVE im TV und Stream) eine Reise in die Vergangenheit.
Holtby über Achterbahnfahrt der Gefühle
Der Neuzugang von Holstein Kiel kehrt zu dem Verein zurück, bei dem er die fünf intensivsten Jahre seiner bisherigen Fußballerkarriere erlebte.
In seinem früheren Stadion will Holtby die Serie der Kieler fortsetzen, die in den letzten Jahren zum Angstgegner der Hamburger geworden sind.
Bei SPORT1 spricht der 31-Jährige über seine turbulente Zeit beim HSV, die Jahre in England und die Ziele mit seinem neuen Klub. (DATEN: Die Tabelle der 2. Bundesliga)
SPORT1: Herr Holtby, Sie haben in den vergangenen zwei Jahren in England gespielt, sind jetzt gerade wieder zurück nach Norddeutschland gekommen. Wie ist das Gefühl wieder hier zu sein? Haben Sie sich in Kiel schon eingelebt?
Lewis Holtby: Ja, definitiv. Ich bin ja Rheinländer, aber durch die fünf Jahre in Hamburg bin ich immer mehr zum norddeutschen Kind geworden. Mir gefällt es sehr gut hier oben, gerade auch hier im Verein. Ich bin froh, wieder in Deutschland zu sein. Holstein ist ein sehr sehr angenehmer, sehr familiärer Klub, der in der Vergangenheit einen sehr guten Job gemacht hat und sich zurecht ein bisschen in den Fokus von Fußball-Deutschland gespielt hat.
„In England ging es Schlag auf Schlag“
SPORT1: In Hamburg, das nicht weit von Kiel liegt, haben Sie auch ein paar Jahre verbracht. Besuchen Sie ab und zu Ihre alte Heimat?
Holtby: Natürlich. Wir sind sehr oft in Hamburg, es ist mehr oder minder ja ein Katzensprung von Kiel.
SPORT1: Wenn Sie Ihre Zeit in England mit der hier in Deutschland vergleichen: In welcher Liga haben sie sich wohler gefühlt?
Holtby: Was heißt wohler? Ich bin sehr dankbar und froh, dass ich in beiden Ligen spielen darf, bzw. durfte. In England in der Premier League, aber auch in der zweiten Liga, ist der Spiel-Rhythmus ein ganz anderer. Da spielt man gefühlt jede Woche eine Englische Woche, das ist sehr physisch. Hier gibt es nur ab und zu eine Englische Woche, das ist angenehmer. Man kann sich besser auf das Spiel vorbereiten als in England, weil es da wirklich Schlag auf Schlag ging. Aber in England nochmal die Kultur aufzusaugen und alles mitzunehmen, war sehr lehrreich und eine sehr schöne Zeit.
SPORT1: Wenn man speziell die englische und die deutsche zweite Liga vergleicht, wo bestehen Unterschiede?
Holtby: Definitiv das Pensum: Dort spielt man 46 Spiele, hier 34. Mit der Relegation kommt man hier maximal auf 36 Spiele. Dann auch die physische Härte, die Zweikampfhärte. Klar, hier gehen sie auch gut in den Zweikampf, aber dort wird ein bisschen mehr laufen gelassen. Aber von der Qualität sind beide Ligen auf einem richtig guten Niveau, technisch ist das beides top.
SPORT1: Sie können bereits auf einen bunten Karriere-Weg zurückblicken, mit Stationen in Mainz, Schalke, der Premier League und natürlich dem HSV. Welche Station hat sie am meisten geprägt?
Holtby: Jede Station hat mich auf seine Art und Weise geprägt fürs Leben, für meine Lebenserfahrung - positiv wie negativ. Klar, in jedem Verein gab es Höhen und Tiefen, aber es sind wichtige Lebenserfahrungen, die ich gemacht habe und wofür ich unfassbar dankbar bin.
Meine Zeit in Hamburg? „Es gab krasse Dinge“
SPORT1: Am Samstag kehren Sie nach Hamburg in den Volkspark zurück. Welchen Stellenwert hat die Station HSV bei ihnen?
Holtby: Einen sehr großen Stellenwert, weil ich dort die längste Zeit verbracht habe, insgesamt fünf Jahre. Ich habe sehr viel fürs Leben mitgenommen und fußballerisch sehr viel gesehen. Es ist ein Verein, bei dem ich die größte Emotionalität bislang hatte, eine krasse Liebe von den Fans zum Verein gespürt habe. Es gab in dieser Zeit ja auch viele Gefühls-Achterbahnfahrten. Krasse Dinge, Last-Minute-Rettung, dann leider ein Abstieg mit allem Drum und Dran. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur 2. Bundesliga)
SPORT1: Welcher Moment kommt Ihnen als Erstes ins Gedächtnis?
Holtby: Ich würde sagen, als wir das im zweiten Relegations-Spiel noch irgendwie Last-Minute in Karlsruhe umgebogen haben, als Díaz das Ding macht. Das war schon sehr krass. Vom Gescheiterten, von der Furcht abzusteigen bis hin zu ‚Krass, wir haben es noch irgendwie hinbekommen‘ und der finalen Erleichterung. Es war auf jeden Fall wild.
SPORT1: War das der schönste HSV-Moment?
Holtby: Ich weiß nicht, ob das der schönste war. Der schönste war eigentlich in dem einen Jahr, in dem wir sehr stabil gespielt haben und Zehnter wurden. Wir hatten eigentlich mit dem Abstieg das ganze Jahr nichts zu tun, haben mehr oben angekratzt. Das war das Jahr, in dem ich eigentlich jedes Spiel gemacht habe, auch von Anfang an.
SPORT1: Der schlimmste war wahrscheinlich dann der Abstieg, oder?
Holtby: Ja definitiv. Der Moment, als abgepfiffen wurde. Die letzten acht Spiele noch hat man eigentlich gesehen, dass wir das Zeug haben, Bundesligist zu sein. Aber das war leider viel zu spät, weil in diesem Jahr einfach viel zu viel passiert ist.
„Ich war komplett gefangen in Emotionen“
SPORT1: Sie waren beim Abstieg dabei - und auch beim gescheiterten Versuch, direkt wieder aufzusteigen. Was hat das emotional mit Ihnen gemacht, wie haben Sie diese schwere Phase erlebt?
Holtby: Ich war natürlich komplett gefangen in Emotionen und konnte das erst so richtig realisieren, als ich aus Hamburg rausgefahren bin, meine Sachen gepackt habe und erstmal zwei, drei Monate von allem komplett Abstand genommen habe. Man steckt ja immer in so einer Matrix drin. Es ist dann schwer, Luft zu holen, wenn man irgendwo im Sumpf steckt. Ein Verein wie der HSV, mit unendlichen Fans, mit loyalen Fans, die schöne Zeiten eigentlich gewohnt sind - und dann da mittendrin zu stecken... Ich habe gefühlstechnisch eine krasse Hornhaut, muss man wirklich sagen.
SPORT1: Wie lief der Abschied damals beim HSV? Da gab es ja noch die Suspendierung und es ein bisschen Stress. Waren Sie darüber enttäuscht?
Holtby: Es ist passiert, wie es passiert ist. Klar wünscht man sich nach der ganzen Zeit, dass alles gut läuft. Aber es ist halt so gekommen. Dann ist es ein bisschen im Streit auseinander gegangen. Aber wenn man jetzt die Vergangenheit betrachtet, kann man es nicht mehr ändern, ob ich jetzt einen Blumenstrauß kriege oder nicht. Das schöne ist, dass man am Samstag zum Spiel nach Hamburg kommt, da kann man sich nochmal verabschieden oder ‚Danke‘ sagen für die Unterstützung - auch von meiner Seite. Es war sehr traurig, aber es ist passiert, die Welt dreht sich weiter.
SPORT1: Mit welchem Gefühl fahren Sie nach Hamburg ins Volksparkstadion?
Holtby: Noch bin ich ruhig. Ich freue mich sehr auf das Spiel, ich freu mich brutal auf Fußball und die Spieltage. Es ist egal, gegen wen wir spielen. Wenn man diese Wester-Allee runterfährt, den alten Weg, dann wird das aber hochkommen, wie man immer wieder zum Stadion gefahren ist. Und dann kommen die ganzen Spiele nochmal vor Augen. Dann geht man Richtung Kabinentrakt, nur dieses Mal geht man nicht nach links, sondern nach rechts. Da muss ich aufpassen. (lacht) Nein Spaß, ich freu mich einfach, hoffe wir haben ein geiles Spiel. Das ist wie so ein Polizeihund, der zu Hause locker ist und spielen kann, aber wenn er dann zu Arbeit geht, dann muss ich auch alles ausblenden und fokussiere mich auf meine Mannschaft, und darauf, dass ich ein gutes Spiel mache und wir gewinnen. Deswegen freu ich mich auf so ein cooles Flutlichtspiel im Volkspark. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der 2. Bundesliga)
SPORT1: Was erwarten Sie für eine Partie? Was wird das für ein Empfang? Haben sie vielleicht auch ein bisschen Angst vor Pfiffen der HSV-Fans?
Holtby: Es kommt, wie es kommt. Wenn Leute klatschen, freu ich mich. Wenn Leute pfeifen, dann werde ich auch nicht traurig oder sauer sein. Das gehört einfach dazu. Jeder hat seine eigene Meinung und die soll er auch hoffentlich respektvoll äußern, solange da keine Beleidigung wird.
„Ich möchte eine geile Serie mit Kiel starten“
SPORT1: Die Holstein-Bilanz ist mit vier Unentschieden und zwei Siegen gegen den HSV nicht schlecht. Man könnte sogar sagen, dass Kiel so etwas wie ein Angstgegner für den HSV ist. Machen Ihnen diese Statistiken Mut?
Holtby: Ich habe zweimal mit dem HSV gegen Kiel gespielt und zweimal verloren. Ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, dass wir auch wieder gewinnen und dass aus den zwei Siegen jetzt drei werden aus sieben Spielen.
SPORT1: Was haben Sie mit Kiel noch vor? Haben Sie sich Ziele gesteckt, die sie mit Kiel unbedingt noch erreichen wollen?
Holtby: Ich möchte definitiv eine geile Serie mit Kiel starten. Unser Ziel bis zum Winter ist ganz klar: Siege holen, unten rauskommen, Befreiungsschlag landen - und dann weiß man nie. Es kann im Fußball so schnell gehen: Du hast einen schlechten Lauf und auf einmal macht es klick und du hast einen brutal guten Lauf. St. Pauli hat es im letzten Jahr gezeigt. Die waren nach der Hinserie Letzter und es dachten alle schon wieder: ‚Ok, das wars.‘ Das muss für uns das Ziel sein, einfach jedes Spiel wie ein Pokalfinale zu sehen und drei Punkte zu holen.
SPORT1: Trauen sie dem HSV den Aufstieg zu?
Holtby: Qualität haben sie auf jeden Fall, sie sind auch oben dabei. Es ist eine spannende Liga, Regensburg ist da oben, das hätte auch niemand gedacht. Deswegen kann und wird noch so vieles passieren in dieser Liga. Aber die Qualität haben sie. Und wer weiß, dieses Jahr rechnet ja gar keiner mit denen, vielleicht trumpfen sie ja auf.