Es ist eine unendliche Geschichte in der Formel 1: Seit Pirelli 2011 Bridgestone als Einheitsreifenausrüster abgelöst hat, stehen die Italiener am Pranger.
Reifen-Zoff: Heizdecken das Problem?
Weil die Walzen mal zu wenig abbauen und mal zu stark. Weil sie mal platzen oder so steinhart sind, dass das Gummi nicht am Asphalt klebt. Was Pirelli auch macht, es scheint falsch zu sein.
So auch nach dem Großen Preis von Aserbaidschan, wo dem Führenden Max Verstappen (Red Bull) und Lance Stroll (Aston Martin) die linken Hinterreifen explodierten. Bei Tempo 320. (Rennkalender der Formel 1 2021)
Beide Piloten kamen mit einem Mauerkuss und dem Schrecken davon, doch bei den Fahrern regt sich Widerstand: "Die erste Priorität sollte sein, dass die Reifen sicher sind", fordert Aston Martin-Star Sebastian Vettel – seit jeher ein scharfer Kritiker der italienischen Reifenschmiede. "Natürlich gibt es im Rennen verschiedene Umstände und Szenarien, die die Reifen unter enormen Stress setzen – keine Zweifel. Trotzdem sollten sie ein Produkt sein, das so sicher wie möglich ist."
Pirelli ohne Beweise
Logisch, dass die Verantwortlichen von Pirelli sich dagegen wehren müssen. Die Formel 1 ist ein Marketinginstrument für den Reifenbauer. Dabei können die Italiener eigentlich nur verlieren.
Laufen die Walzen rund, sind sie kein Thema. Erst wenn sie ihren Dienst versagen, rückt das schwarze Gold in den Mittelpunkt. Allein deshalb muss Sportchef Mario Isola die Verantwortung an die Teams abschieben. (Alle Rennen der Formel 1 im LIVETICKER)
Via Pressemitteilung ließ Pirelli im Vorfeld des Großen Preis von Frankreich (Sonntag, ab 15 Uhr im LIVETICKER) also verlauten, dass die Reifen von Verstappen und Stroll in Baku unerwartet hohen Kräften ausgesetzt waren. Unerwartet heißt in diesem Fall: Der Luftdruck muss so niedrig gewesen sein, dass die Innenschulter des Pneu nachgegeben hat. Einen Beweis dafür hat Pirelli nicht auf Lager.
Reifendruck nicht geregelt
Die Messwerte, die die Teams freigeben mussten, bewegen sich laut Aussage von Red Bull und Aston Martin innerhalb der Vorgaben. Doch in der Formel 1 traut keiner keinem. Zumal geringerer Reifendruck einen Performance-Vorteil mit sich bringt. "Je niedriger der Druck, desto größer die Auflagefläche", erklärt Sky-Experte Ralf Schumacher bei SPORT1. "Das wiederum sorgt für mehr Grip und die entscheidenden Zehntelsekunden."
Für Pirelli-Sportchef Isola steht deshalb fest: "Wir bringen ein Produkt an den Start und stellen sicher, dass es innerhalb unserer Vorgaben funktioniert. Was die Teams dann damit machen, liegt nicht in unserer Macht."
Das Problem: Im Regelwerk stehen keine Vorgaben zum Luftdruck während der Fahrt. Allein der Startdruck wird im Grid geprüft. Der nicht zum ersten Mal in Erklärungsnot geratene Isola: "Ohne standardisierte Sensoren können wir die Reifendrücke während der Fahrt nicht messen. Deshalb bleibt uns nur, einen gewissen Startdruck zu definieren. Der wurde von den Teams in Baku eingehalten. Bei den geplatzten Reifen lagen die Bedingungen aber während der Fahrt trotzdem außerhalb unserer Erwartungen."
Heizdecken im Mittelpunkt
Wie Red Bull und Aston Martin das geschafft haben könnten, will der Italiener nicht verraten. Dass mittlerweile aber so viele Erklärungen dafür durchs Fahrerlager geistern, spricht sehr wohl für die Existenz entsprechender Vorgehensweisen. Im Mittelpunkt dabei: die Heizdecken. Sie sollen die Gummis vorn auf 100 und hinten auf 80 Grad vorheizen. Eigentlich. Denn die einfachste Schummel-Theorie besagt, dass sie das Gummi heißer kochen als die Anzeige verrät. (Fahrerwertung der Formel 1)
Es ist ein typisches Problem der Formel 1: Die Königsklasse des Automobilsports ist technisch mittlerweile so komplex, dass die einzelnen Vorgaben und Regeln kaum noch zu kontrollieren sind. Das technische Reglement der 60er-Jahre bestand aus vier Seiten. Im Jahr 2021 ist das PDF-Dokument ganze 133 Seiten lang.
Schon die Flexi-Flügel-Affäre rund um Red Bull hat gezeigt, wie schwer sich die Regelhüter des Automobilweltverbands dabei tun, den Teams beim Ausloten von Grauzonen auf die Finger zu hauen.
Für Ralf Schumacher sind die Probleme "hausgemacht". Grund: Eigentlich sollten die Heizdecken ab 2022 verboten werden. Doch die Teams konnten sich nicht darauf einigen. Schumacher: "Dabei spricht allein die Nachhaltigkeit gegen Heizdecken. Die verbrauchen an einem Wochenende so viel wie ein Zwei-Personen-Haushalt im ganzen Jahr." Dazu kommen die Kosten, rechnet Alpha Tauri-Teamchef Franz Tost vor: "Für 2022 bezahlen wir für die Heizdecken 375000 Euro."
Ferrari-Technikchef: "Zehn Polizisten in der Box"
Ein Verbot hätte noch einen positiven Nebeneffekt: Die Rennen würden spannender. "Wenn die Piloten aus der Box raus erst mal vorsichtiger fahren müssten, wäre das ein interessantes strategisches Element", sagt Ralf Schumacher. Gut möglich, dass die Diskussion darüber nun wieder Fahrt aufnimmt.
Bis dahin hofft Pirelli auf 2022. Mit den 18-Zoll-Reifen kommen standardisierte Sensoren der FIA, die den Reifendruck auch während der Fahrt messen. Solange soll die Technische Direktive 003 mit zwölf (!) Seiten dafür sorgen, dass die Teams bei ihren Tricksereien besser überführt werden können. "Das ist so, als hätten wir jetzt zehn Polizisten in der Box stehen", erklärt Ferrari-Technikchef Laurent Mekies. "An den Regeln ändert das nichts, aber daran, wie die FIA sie kontrolliert."
Für den GP Frankreich in Le Castellet wurde der Luftdruck der Hinterreifen übrigens um 2 PSI auf 21,5 erhöht. Damit Pirelli mehr Spielraum hat, wenn die Teams mal wieder am Luftdruck spielen.