Ryan Crouser sagte hinterher, dass er es schon ahnte, als die Kugel seine Finger verlassen hatte - und es sah auch so aus.
War der irre Kugel-Rekord ungültig?
Der US-Kugelstoßer führte schon einen wilden Siegestanz auf, als der Fabel-Weltrekord von 23,37 Meter noch auf dem Weg war.
"Ich wollte diesen Weltrekord schon so lange. Jetzt fällt eine Riesenlast von mir", sagte der 28 Jahre alte Crouser, nachdem er die Schockwellen weit über die Leichtathletik-Welt hinaus gesandt hatte.
Wie hat er das gemacht? SPORT1 hat sich in der deutschen Kugelstoßer-Szene nach Erklärungsansätzen umgehört - und ist dabei auch auf Verwunderung über ein Regel-Detail gestoßen.
Ryan Crouser: Kugel-Koloss ist "Modellathlet"
"Es hat sich angekündigt, er hat so stabil über 22 Meter die ganze Zeit gestoßen, da war klar, dass irgendwann der weite Stoß kommen musste", sagt Steven Richter, das größte deutsche Talent im Kugelstoßen zuSPORT1.
Olympia-Titelverteidiger Crouser hatte seit 2019 schon mehrfach Weiten erreicht, die nach Barnes niemand mehr hingelegt hatte - und sich damit mehr und mehr als Ausnahmeerscheinung profiliert. Auch Bundestrainer Sven Lang meint daher zu SPORT1, dass er "nicht überrascht" über Crousers Rekord sei. Er sei "auf einem äußerst hohen Niveau so stabil, dass es nur eine Frage der Zeit war, dass der alte Rekord überboten wurde".
Hobby-Angler Crouser habe "sehr gute körperliche Voraussetzungen, mit seiner Größe und allgemein der Statur", ergänzt Richter. Die Voraussetzungen hält Crouser mit einem prall gefüllten Ernährungsplan aufrecht: Zwei große Burritos am Morgen, ein Pfund Steak am Mittag, auf ihn zugeschnittenes Liefer-Essen am Abend. Als Selbstbelohnung für den Rekord stand ein "schöner Doppel-Doppel-Hamburger" auf dem Menü. Als Kugelstoßer sei der Koloss "ein Modellathlet", sagt Lang.
Drehstoßtechnik perfektioniert
Entscheidend sei aber nicht nur die bloße Körperkraft, sondern das kunstvolle Zusammenspiel mit den handwerklichen Finessen der Disziplin: Crouser habe "für sich eine Technik gefunden, mit welcher er die physischen Vorteile optimal auf das Gerät bringt", sagt Lang.
Auch Richter hebt hervor, dass Crouser "die Drehstoßtechnik für sich optimiert hat und so alles genau passt, zum Beispiel hält er beim Ausstoß sehr lange den Kontakt mit dem rechten Bein auf dem Boden, was hohe Spannung erzeugt".
Mit dem Studium solcher technischen Details können sich die Top-Kugelstoßer und ihre oft als guruhaft verschrienen Coaches lang beschäftigen. Gerade der aus Portland/Oregon stammende Crouser, Spross einer Leichtathleten-Familie, gilt in der Hinsicht als besessener Workaholic.
US-Medienberichten, dass Crouser zur Umgehung der Trainingsbeschränkungen während der Corona-Pandemie einen eigenen Trainingsring aus Sperrholz gezimmert hätte.
Rekord von Randy Barnes unter Doping-Verdacht
Eine schöne Zutat für eine Helden-Story, wie sie in der US-Heimat geliebt wird und die sie nun schon vor Olympia bekommen hat.
Dass sie trotz Crousers technischer Perfektion auch von Argwohn begleitet wird, ist jedoch unvermeidlich in dieser Disziplin, die einen schweren Rucksack an historischem Doping-Ballast mit sich herumschleppt.
Der bisherige Rekordhalter Barnes - einer der Pioniere der Drehstoßtechnik, die die von David Storl praktizierte Angleit-Technik inzwischen fast völlig verdrängt hat - war wenige Monate nach der Bestmarke des Anabolika-Dopings überführt worden. Frühere Rekordhalter sind unter anderem die ehemaligen DDR-Stoßer Udo Beyer und Ulf Timmermann, die wegen des dort praktizierten Staatsdopings ebenfalls im Zwielicht stehen.
Beyer ist mittlerweile geständig, Timmermann schweigt seit Jahren zum Thema, der dpa sagte er auch jetzt mit Blick auf Crouser: "An solchen Diskussionen will ich mich nicht beteiligen. Ich bin kein Freund davon, alles in Frage zu stellen." Den neuen Rekordhalter lobt auch er als Meister seines Fachs: "Er hat eine tolle Technik, ist unglaublich dynamisch und sehr konstant."
Hat Crouser übertreten?
Jenseits der leidigen D-Frage ist in einem Experten-Forum (leichtathletikforum.com) auch eine weitere Diskussion um Crousers Rekord ausgebrochen - nämlich die, ob er bei seinem Schwung die Regularien zu sehr ausgereizt hat.
Auch Richter war beim Anblick von Crousers Rekord der Ansicht, "dass der Fuß beim Abdruck aufsetzt und ich bin auch erstmal davon ausgegangen, dass das eigentlich ungültig ist".
Auch Lang sagt: "Eigentlich ist das Berühren der Oberkante nicht erlaubt." Es sei aber "keine einfache Entscheidung" und "für die Kampfrichter in der hohen Geschwindigkeit kaum zu erkennen".
Kritikern, die deshalb die Trial-Kampfrichter angreifen, dass sie Crouser bei seinem Heimspiel einen irregulären Versuch hätten durchgehen lassen, wollen sich Lang und Richter nicht anschließen: "Ich weiß nicht, ob dies im Regelwerk so genau festgelegt ist oder ob dies eher eine Grauzone darstellt, welche den Kampfrichter freien Raum bei der Entscheidung lässt", sagt Richter. Lang will das Thema auch nicht zu hoch hängen: "Ich würde sagen, dass er damit keinen Vorteil gewinnt."
Richter mag kein Urteil in die eine oder andere Richtung abgeben, kann sich aber vorstellen, dass das Thema noch Wellen schlägt: "Ich denke, das könnte eine interessante Diskussion geben."