Seit etlichen Jahren gilt Markus Rehm als bester deutscher Weitspringer - und dies längst nicht nur im paralympischen Bereich.
Die größte Ungerechtigkeit im Sport?
Am vergangenen Dienstag verbessert der 31-Jährige, der seit einem Unfall im Alter von 14 Jahren eine Unterschenkelprothese trägt, seinen eigenen Weltrekord auf die Fabelweite von 8,62 Meter. Damit ist Rehm nicht nur der Jahresbeste bei den nicht-behinderten Sportlern, sondern sprang im Freien so weit wie kein anderer Deutscher vor ihm.
Auch bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig ließ Rehm an diesem Sonntag alle Rivalen hinter sich - durfte allerdings nicht siegen, weil er nur außer Konkurrenz startete. (Fabelsprung heizt große Debatte an)
Im SPORT1-Interview - das vor der Konkurrenz am Sonntag geführt wurde - erklärt der dreifache Sieger der Paralympics, warum er sich trotzdem auf den Wettkampf freut und es aus seiner Sicht endlich an der Zeit ist, dass die Verbände ihn auch bei den Olympischen Spielen starten lassen.
SPORT1: Herr Rehm, bei Ihrem Weltrekordsprung von 8,62 Meter hatten Sie 1.64 Meter Vorsprung vor dem Zweiten. Sie springen schon seit Jahren in einer eigenen Liga. Das hindert Sie aber nicht, beständig Spitzenleistungen abzurufen. Wie schaffen Sie es, sich immer wieder neu zu motivieren und Ihre Bestweite zu steigern?
Markus Rehm: Ich liebe das, was ich tue. Ich mache das nach so vielen Jahren immer noch gerne und stelle mir selbst die Frage: Wo sind die Grenzen? Ich versuche sie zu verschieben. Ich weiß noch, wie ich 2012 gefragt wurde, ob man 8 Meter springen kann. Da habe ich gesagt: 'Ich weiß zwar nicht, ob ich es sein werde – aber es geht.' Und so habe ich mich immer an den besten Weitspringern der Welt orientiert - das sind die olympischen Weitspringer. Ich möchte nicht nur ein guter Weitspringer im paraolympischen Bereich sein, sondern der beste Weitspringer überhaupt. Das ist meine Motivation, warum ich noch weitermache.
SPORT1: Wünschen Sie sich bei den Paralympics nicht auch Konkurrenten, die mit Ihnen mithalten können?
Rehm: Klar, ist es immer schön, sich in einem Wettkampf auf gleicher Ebene zu messen. Deswegen suche ich immer noch die Konkurrenz abseits des paralympischen Sports. Natürlich ist der paralympische Wettkampf mein Wettkampf, aber es für mich eine Motivation, auch mit olympischen Athleten an den Start zu gehen - weil ich da mithalten kann. Da kann ich gewinnen, aber auch mal mächtig verlieren. Das macht einen ganz anderen Reiz aus.
Medaillen? "Darum geht es mir nicht mehr"
SPORT1: Bei der DM in Braunschweig treten Sie im gleichen Wettkampf mit den Nicht-Behinderten an - wenn auch außer Konkurrenz. Trotzdem: Ist das Kribbeln dort ein bisschen größer, weil der Abstand zu den anderen Athleten nicht so groß ist?
Rehm: Absolut. Es ist eine große Herausforderung – und ich liebe Herausforderungen! Es macht mir großen Spaß, ein bisschen ins Ungewisse reinzugehen. Ich habe keine Ahnung, wer von meinen Konkurrenten gut drauf ist, vielleicht überrascht jemand, dann muss man kontern. Das ist es, was man als Leistungssportler sucht. Das macht es spannend und ich freue mich darauf. Mir geht’s darum, dass ich am weitesten springen will - dann bin ich zufrieden. Ob ich dann eine Medaille um den Hals gehängt bekomme, darum geht es mir nicht mehr.
SPORT1: Wie begegnet man Ihnen im Kreis der Nicht-Behinderten? Gibt es eher Vorbehalte oder Ermutigungen?
Rehm: Da ist alles dabei. Ich kann mich noch an 2014 zurückerinnern, als ich zum ersten Mal bei einer Deutschen Meisterschaft gestartet bin. Da gab es viel Gegenwind, aber auch Zuspruch. Christian Reif (damals Zweiter hinter Rehm, d.R.) hat mir gesagt, ich sei ein toller Athlet und dass mehr dahinterstecke als meine Prothese. Sonst würde es viel mehr paralympische Athleten geben, die in diesem Bereich springen. Über die Jahre ist es etwas entspannter geworden - und das ist genau mein Ziel. Ich möchte, dass die nächste Generation der Sportler von vornherein gewohnt IST, dass auch mal ein paralympischer Athlet dabei ist. Deswegen wünsche ich mir, dass es in der Zukunft klare Regeln gibt. Wenn es Unklarheiten gibt, sorgt es eher für Diskrepanzen zwischen den Athleten. Irgendwann wird es hoffentlich mal heißen: 'Klar laufen und springen da paralympische Athleten mit ' weil sie die gleiche Disziplin machen. War das jemals anders?'
SPORT1: Das wäre dann die Reinform der Inklusion ...
Rehm: Ganz genau. Und da will ich irgendwann hin. Dass es nicht mehr heißt: Ihr gegen uns. Sondern: Wir sind alle Weitspringer und versuchen, möglichst weit in den Sandkasten zu springen, um es ganz banal auszudrücken. Dann ist es völlig egal, ob mit oder ohne Prothese. Das wünsche ich mir - und zum Glück ist es in den letzten Jahren besser geworden.
"Das ist total nett, die feiern das"
SPORT1: Was sagen Sie den Konkurrenten, die noch immer Vorbehalte haben?
Rehm: Ich habe keine außergewöhnliche Prothese, keinen Prototypen oder sonst irgendwas. Ich habe das, was auch die anderen Weitspringer im paralympischen Bereich haben. Das ist Beweis genug, dass hinter meinen Leistungen nicht nur die Prothese dahintersteckt.
SPORT1: Was sagen Ihre Konkurrenten im paralympischen Bereich, dass Sie so haushoch überlegen sind?
Rehm: Das ist total nett, die feiern das. Nach meinem Weltrekord habe ich schon im Callroom die ersten Fragen bekommen, ob wir gleich noch ein Foto gemeinsam machen. Sie finden das wirklich super, obwohl meine Weiten ihre Sprünge etwas kürzer aussehen lässt. Da ist wirklich keiner, der das nicht gut findet.
SPORT1: Es gibt überhaupt keine Vorbehalte - beispielsweise wegen Ihrer Prothese?
Rehm: Nein, die gibt es nicht. Sie sehen meine Technik - und meine Prothese unterscheidet sich nicht von ihrer. Es ist auch gang und gäbe, dass ich den Technikern meiner Konkurrenten die Prothese in die Hand gebe. Sie fragen mich dann, welche Komponenten ich verbaut habe. Das ist kein Geheimnis, das kann man alles im Katalog bestellen. Da bin ich super transparent, weil ich damit auch beweise, dass es eben nicht an der Prothese liegt.
SPORT1: Mit Ihrem Satz auf 8,62 Meter haben Sie die Olympianorm auch bei den Nicht-Behinderten spielend geknackt. Haben Sie Hoffnung, dass Sie tatsächlich in Tokio starten dürfen? Wie ist der aktuelle Stand?
Rehm: Ich habe auf jeden Fall die Hoffnung, dort zu starten und würde mir von den Verbänden wünschen, dass sie endlich Mut beweisen. Man muss sich mal vorstellen: Seit 2014 diskutieren wir herum, ob ich bei Olympia starten darf. Es kann nicht sein, dass es so lange dauert. Man muss endlich eine klare Regelung schaffen. Ich würde gerne bei Olympia starten, mir ist es dabei auch völlig egal in welcher Form. Eigentlich warte ich nur auf den Anruf vom DLV, oder noch besser, von World Athletics (Dachverband aller nationalen Sportverbände für Leichtathletik, d. Red.). Sie sollen mir endlich sagen, in welcher Form ich bei den Olympischen Spielen starten kann. Ich nehme keinem etwas weg - und auf der DLV-Seite steht, dass man sich für Inklusion einsetzt. Dem muss man mal Taten folgen lassen und den Mut haben, mich starten zu lassen. In der Wertung oder außerhalb, wenn es nicht anders geht. Das wäre ein gesellschaftliches Statement für Inklusion. Da würden alle mehr gewinnen als verlieren.
"Mir fehlt jedes Verständnis, warum so etwas nicht gehen soll"
SPORT1:Es gibt seit kurzem ein wegweisendes CAS-Urteil, wonach die Verbände nachweisen müssen, dass Sie mit Ihrer Prothese einen Vorteil haben. Das müsste Ihnen doch zugute kommen?
Rehm: Ich bin immer noch optimistisch. Der DLV bezieht sich auf diese Regeländerung und sagt, dass World Athletic die Regeln noch nicht angepasst hat - deswegen ändern wir es nicht. Aber das kann ja nicht ihr Ernst sein. Wenn eine Regel nicht mehr rechtens ist, kann man nicht sagen, dass man die alte Regel stehen lässt und das CAS-Urteil ignoriert. Ich bin überzeugt, dass diese Regel rechtskräftig ist und dass die Verbände mir, wenn sie Vorbehalte haben, nachweisen müssen, dass ich einen Vorteil habe. Wenn wir es aktuell nicht feststellen können, ob die Prothese einen Vor- oder Nachteil bringt - und danach sieht es leider aus - dann lasst uns trotzdem überlegen, wie ich starten kann. Vielleicht findet man eine Lösung, die für beide Seiten super ist. Mir fehlt jedes Verständnis, warum so etwas nicht gehen soll. Vor allem, wenn man dabei keinem Athleten etwas wegnimmt.
SPORT1: Mit ihrem Weltrekord würden Sie auch in Tokio zum Favoritenkreis gehören. Sie sind eigentlich der einzige paralympische Athlet, der bei den Nicht-Behinderten um die Medaillen kämpfen würde?
Rehm: Spontan wüsste ich von keinem weiteren, wenn ich ehrlich bin. Mit einer Weite von 8,62 Meter könnte man theoretisch eine Medaille gewinnen, aber darum geht es mir nicht. Meine Medaille gewinne ich bei den Paralympics - hoffentlich. Es geht mir auch gar nicht darum, für meine Nation zu starten, obwohl ich unglaublich stolz bin, den Bundesadler auf der Brust zu tragen. Ich würde einfach gern für die Idee starten - nicht nur im Sport, sondern gesamtgesellschaftlich. Ich will nicht bei den Olympischen Spielen starten, weil die Medaille vermeintlich mehr wert ist – das ist sie nicht. Eine paralympische Medaille bedeutet mir so viel, weil dahinter immer ganz besondere Geschichten und Schicksale stehen. Athleten, die sich ins Leben zurück gekämpft haben.
SPORT1: Glauben Sie, dass Sie sogar den Weltrekord von Mike Powell knacken könnten, der bei 8,95 Meter liegt, seit er Bob Beamons Jahrhundertsprung übertrumpft hat?
Rehm: Das bin ich in letzter Zeit tatsächlich öfter gefragt worden (lacht). 30 Zentimeter sind im Weitsprung aber doch nochmal ein Brett. Ich bin ehrlich, der Sprung war schon ziemlich perfekt, ich habe ihn mir gefühlt schon 50 Mal angeschaut. Aber wie mein Trainer so schön sagt: Zufriedenheit ist der erste Rückschritt - und deswegen bin ich für einen Moment vielleicht zufrieden. Aber heute denke ich schon wieder: Was muss ich tun, um die 8,62 zu knacken?