Es waren Bilder, die man so schnell nicht vergisst - und die womöglich auch immer wieder Angstzustände hervorrufen, so wie man sie denn am eigenen Leib erfahren müsste.
Horror-Unfall beim Stabhochsprung
Und doch: Finley Gaio hat sein hochtraumatisches Erlebnis tatsächlich überwunden. Mehr als das: Sein schlimmer Trainingsunfall hat das Mehrkampf-Talent aus der Schweiz sogar zu neuen Höchstleistungen angetrieben - und belohnt Gaio nun gar damit, sich erstmals für eine Europameisterschaft qualifiziert zu haben.
Wenn im polnischen Torun von Donnerstag an bis zum Sonntag (4. bis 7. März) die Hallen-EM steigt, dürfte der 21-Jährige in einem stillen Moment sicherlich daran zurückdenken, nur um Haaresbreite der Sport-Invalidität oder womöglich noch Schlimmerem entgangen zu sein.
Rückblende, November 2020, im nicht mal 1000 Seelen zählenden Magglingen, einem kleinen Ort im Berner Seeland: Gaio verdingt sich beim Stabhochsprung-Training, business as usal eben für den Leichtathletik-Allrounder.
Stabhochsprung: Finley Gaio mit fatalem Unfall
Der Sohn eines Italieners und einer US-Amerikanerin läuft in gewohnter Manier mit erhobenem Stab los, wird schneller - und bemerkt, dass der Versuch kein guter wird.
Also bricht der muskulöse Blondschopf mit dem Tattoo am rechten Unterarm ab, wirft sein Arbeitsgerät nach vorn weg.
Doch der Stab fällt nicht flach auf den Boden, sondern steckt im Einstichkasten ein, bleibt schräg nach oben geneigt stehen - und bohrt sich fatalerweise in das Gesicht des aus vollem Lauf kommenden Gaio, der nicht mehr reagieren und abbremsen kann.
Die Folgen sind verheerend: Der Stab reißt ein großes Loch in die untere Gesichtshälfte, zertrümmert Kiefer und Zähne, Blut fließt in Strömen.
Kiefer zertrümmert, Zähne kaputt
"Mein Ober- und mein Unterkiefer waren gebrochen", sagte der Schweizer Youngster dazu kürzlich im Blick. "Drei Zähne wurden eingedrückt, einen schlug es mir komplett raus. Und meine Lippe war zerschnitten."
Gaios Glück noch während des Horror-Unfalls, dass ihn der Stab nicht weiter oben erwischt und ihn damit sein Augenlicht kostet - oder unten am Hals eventuell sogar tödlich.
Sprungtrainer Nicola Gentsch und Trainingskollege Simon Ehammer verständigen umgehend Notarzt und Rettungswagen. "Als ich realisiert habe, was geschehen ist, war das sehr heftig", so Ehammer rückblickend. "Den Teamkollegen so zu sehen, ist brutal."
"Ich habe mir Sorgen gemacht, weil er so viel Blut verlor", erklärte Gentsch, der auch miterlebte, wie Gaio zur Erstversorgung in einer Berner Krankenhaus gebracht wurde, wo ihm die Lippe zusammengenäht und der Kiefer gerichtet wurde.
Viele Tränen während der Leidenszeit
Eine lange Leidenszeit schließt sich an, Gaio erlebt harte "erste Tage", wie er es selbst beschreibt: "Ich hatte Schmerzen, konnte nur wenig schlafen, es ging mir nicht gut. Da habe ich viele Tränen vergossen. Weil ich wusste, dass noch viele Schmerzen auf mich zukommen und dass ich lange keinen Sport mehr machen kann. Eine Horrorvorstellung für mich."
Was besonders belastet: Die ersten zwei, drei Wochen kann der Youngster nur Flüssignahrung zu sich nehmen: "Immer Suppe, ich bin fast durchgedreht. Ich habe etwa acht Kilo abgenommen."
Doch der Youngster schiebt die düsteren Gedanken beiseite, treibt fortan seine Reha voran und kann bald schon tatsächlich wieder das Mehrkampf-Training aufnehmen: "Die Ärzte haben das Okay gegeben, dass ich mit einem langsamen Aufbau anfangen konnte. Es ging glücklicherweise schneller, als ich dachte."
Beeindruckend: Die Angst vor einem neuerlichen Unfall wirkt im Laufe der Genesung und Comeback-Versuche nur relativ kurz nach. "Ich werfe den Stab bei einem schlechten Versuch sicher nie mehr weg", hat Gaio seine Lehren aus dem Vorfall gezogen.
Wie auch sein Coach Gentsch: "Die ersten paar Tage haben mich die Bilder verfolgt. Beim Einschlafen habe ich sie vor mir gesehen." Teamkollege Ehammer plagten zwischenzeitlich sogar Schuldgefühle: "Nicola und ich mussten den Unfall schon noch einmal ausführlich besprechen. Wir haben uns gefragt, ob wir etwas hätten anders machen können. Aber da gab es nichts."
Finley Gaio erfüllt sich Traum mit Hallen-EM-Debüt
Und so nahm Gaio den Stab denn auch bald schon wieder professionell in die Hand.
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Mehr als das: Der Schweizer wurde unlängst Schweizer Hallen-Meister über die 60 m Hürden (7,81 Sekunden), und das in persönlicher Bestzeit - um nun in Polen sein unerwartetes EM-Debüt zu geben.
"Ich will es genießen, wieder dabei zu sein. Und eine neue persönliche Bestzeit will ich auch aufstellen", sagt Gaio hoffnungsvoll.
Doch schon allein seine Teilnahme an den kontinentalen Indoor-Wettkämpfen sollte ihm Happy End genug sein nach dem Drama mit dem Stab.
"Was soll ich sagen... Vor drei Monaten lag ich mit gebrochenem Kiefer, gebrochener Nase und gebrochener Lippe im Krankenhaus (...)", postete Gaio vor wenigen Tagen bei Instagram. "Ich bin sprachlos. Ich kann mich nicht genug bei allen bedanken, die mich auf dem Rückweg unterstützt haben. Ein großes Dankeschön an meine Familie, Freunde und Freundin! Ohne dich hätte ich es nicht geschafft!"