Es war ein ruhiger Tag in Tokio - der 30. August 1991. Die Zuschauer erwarteten in der japanischen Hauptstadt das WM-Finale im Weitsprung der Männer.
Powell vs. Lewis: Der legendäre "Taifun von Tokio"
Jahrzehnte lang, seit dem 18. Oktober 1968, hatten die Protagonisten versucht, den Fabel-Weltrekord von Bob Beamon bei den Olympischen Spielen in Mexiko City (8,90 m) zu brechen - vergebens.
Warum sollte es an diesem 30. August 1991 funktionieren? Kaum ein Leichtathletik-Fan im Stadion ahnte, was auf ihn zukam: der "Taifun von Tokio!"
Unter diesem Namen ging das sensationelle Duell zwischen dem legendären Carl Lewis und dessen US-Landsmann Mike Powell in die Sport-Geschichte ein.
Das Duo lieferte sich einen gnadenlosen Kampf. Ich saß, wie Millionen Leichtathletik-Fans an diesem Morgen mitteleuropäischer Zeit vor dem TV-Schirm, als dieses Duell startete. Hatte ich den Traumsprung von Bob Beamon am späten Abend des 18. Oktobers 1968 in der Nähe von Lüneburg noch live im DDR-Radio verfolgt, so traute ich an diesem Morgen meinen Augen kaum.
Lewis setzt erste Marke
"Carl der Große" war nur auf eins fixiert: den Weltrekord von Beamon endlich zu knacken. Die anderen Springer sollten nur Statisten sein: Powell, Larry Myricks (USA/8,42 m) und der Deutsche Dietmar Haaf (8,22).
Der Lewis stolzierte wie ein aufgeblähter Pfau an der Anlaufbahn entlang. Powell schaute sich das an - erst sichtlich beeindruckt von dem Superstar. 7,85 Meter im ersten Versuch. Lewis konterte mit 8,68 Metern. Das hätte es schon gewesen sein können.
Zweiter Sprung: Die Stimmung an der Weitsprung-Grube und auf den Tribünen lud sich auf. Powell steigerte sich auf 8,54 Meter. Lewis trat über.
Weltrekord vom Wind verweht
Dritter Sprung: Powell mit mäßigen 8,29 Metern, Lewis steigerte sich auf 8,83. Die Beamon-Weite war greifbar nahe. Ein neuer Weltrekord lag in der Luft. Der Weitenflug war auf der sehr elastischen Anlaufbahn aber noch nicht beendet.
Vierter Sprung: Mike Powell wurde langsam nervös. Er trat über. Lewis registrierte das mit Genugtuung und setzte noch einen drauf: 8,91 Meter! "Carl der Große" sprang wie ein Irrwisch an der Sandgrube herum - Weltrekord! Noch nie war ein Mensch weiter gesprungen als er.
Das Publikum tobte, wenn man die japanische Zurückhaltung als Toben interpretieren durfte. Zumindest die Amerikaner und Europäer machten richtig Stimmung. Auch ich wurde langsam nervös, der Puls stieg.
Powell gereizt
Doch dann die Ernüchterung: Der Rückenwind war zu stark. Lewis fühlte sich um den möglichen Rekord gebracht. Er schimpfte wie ein Rohrspatz - wollte es kaum glauben, schlug die Hände verzweifelt vors Gesicht.
Fünfter Sprung: Powell war "emotional geladen", wie sein Trainer Randy Huntington der Süddeutschen Zeitung später verriet. Und Powell selbst sagte: "Ich war zornig!"
Er blies die Backen vor dem Anlauf auf. Und dann geschah etwas, das Konkurrent Lewis den Zahn zog, die Zuschauer im Stadion von den Sitzen riss und Millionen vor den TV-Schirmen den Atem stocken ließ.
"Größte Niederlage meiner Karriere"
Powell rannte wie ein Derwisch an, trommelte mit seinen Beinen die Bahn herunter, sprang ab und landete weit hinter dem Brett. Die Kampfrichter maßen 8,95 Meter! Weltrekord - diesmal war er gültig. Im Stadion brach ein Taifun aus. Lewis konterte mit 8,87 Metern.
Sechster Sprung: Powell war überwältigt. Sein letzter Versuch war ungültig. Lewis nahm noch einmal alle Kraft zusammen. Doch über glänzende 8,84 Meter kam "Carl der Geschlagene" nicht hinaus. Lewis bekannte später: "Es war die größte Niederlage meiner Karriere."
Um die Leistung des Mike Powell an diesem Tag deutlich zu machen, griffen die Zeitungen in die grafische Trickkiste: Der Kölner Express stellte groß auf der Seite zwei Daimler-Autos hintereinander und titelte den Weitsprung-Wahnsinn von Tokio mit dem Weltrekord von 8,95 Metern: "Powell überfliegt zwei Mercedes!"
Wolfgang Kleine hatte als Journalist seine Feuertaufe bei der Fußball-WM 1974in Deutschland. Danach wurden für ihn zahlreiche Handball-Spiele, die Berichterstattung vom Leichtathletik-Europacup 1979und die Begleitung der Tour de France 1996, 1997 sowie 1998 unvergessliche Erlebnisse. Aber eines bleibt besonders in Erinnerung: Das Wintermärchen der Olympischen Spiele 1994 in Lillehammer.