Jahrzehnte lang schien es undenkbar. Im Grunde schien es auch noch undenkbar, kurz bevor es im April 2019 Realität wurde: Dass erstmals die Frauen im Hauptkampf der größten Wrestling-Show der Welt standen.
So lief die "Women's Revolution" bei WWE
Bei WWE WrestleMania 35 im MetLife Stadium bei New York eroberten Becky Lynch, Charlotte Flair und Ronda Rousey die "grandest stage of them all", Lynch beschloss die Mega-Veranstaltung vor rund 80.000 Zuschauern als Siegerin und neu gekrönter Champion der Shows RAW und SmackDown.
Das Match war der vorläufige Höhepunkt einer größeren Umwälzung in der Showkampf-Promotion. Die "Women's Revolution" veränderte bei WWE - überfälligerweise - die Hierarchie der Geschlechter. Frauen werden seitdem nicht mehr als "Divas", als hübsches Beiwerk der männlichen Stars behandelt, sondern als athletisch gleichwertig.
Flair, Tochter des "Nature Boy" Ric Flair, und die Irin Lynch standen dabei von Anfang an im Zentrum.
"Four Horsewomen" von WWE als Schlüsselfiguren
Gemeinsam mit ihren Weggefährtinnen Sasha Banks und Bayley bildeten Lynch und Flair die im Entwicklungskader NXT die "Four Horsewomen", einen schon jetzt fast legendären Freundeskreis (der Name spielt auf die "Four Horsemen" an, die englische Bezeichnung für die biblischen vier Reiter der Apokalypse - und für eine legendäre Wrestling-Gruppierung um Ric Flair in den achtziger und neunziger Jahren).
Die Horsewomen begeisterten die Fans 2015 mit einer Serie herausragender Matches bei NXT - während die Liga von Vince McMahon parallel dazu unter Fan-Beschuss dafür geriet, wie sie die weiblichen Performer im Hauptkader behandelte.
Im Februar 2015 entfesselten die WWE-Zuschauer einen Twitter-Protest unter dem Hashtag #GiveDivasAChance, indem sie mehr Respekt und Aufmerksamkeit für die weiblichen Stars forderten. Unmittelbarer Auslöser war ein Match zwischen den Bella Twins (Brie und Nikki Bella) sowie Paige und Emma (Tenille Dashwood), dem WWE nicht mal eine Minute Kampfzeit gewährte.
2015 als Wendejahr: Vince McMahon gerät unter Druck
McMahon und sein Unternehmen geriet an mehreren Fronten unter Druck, die Zwei-Klassen-Gesellschaft zu überdenken, die in seiner Promotion zwischen Männern und Frauen herrschte.
Zwar war WWE im Lauf der Jahrzehnte immer wieder Bühne für populäre weibliche Performerinnen wie Alundra Blayze, die früh verstorbene Chyna, Lita, Trish Stratus und Beth Phoenix - die aber immer klar die zweite Geige hinter den männlichen Stars spielten. Mehr noch: Die sexualisierte Darstellung einiger "Divas" in "Bra and Panties Matches" und teils sogar in sehr gestrigen Schlammringkampf-Variationen - gerade auch in der erfolgreichen "Attitude Era" - brachte McMahon auch wiederholt den Vorwurf des Sexismus ein.
Sein ungeschriebenes Gesetz, dass den Frauen bei WWE nur die Nebenrolle vorbehalten war, wurde 2015 zunehmend in Frage gestellt, auch durch äußere Faktoren wie den durchschlagenden sportlichen und kommerziellen Erfolg von Ronda Rousey als Main-Event-Kämpferin der MMA-Liga UFC - die eine sehr ähnliche Zielgruppe wie WWE bedient.
Triple H mit wesentlichem Beitrag
Letztlich tat McMahons Liga, was sie tun musste: Sie gab der Frauenbewegung nach und schrieb sie sich selbst auf die Fahne - speziell Vinces Tochter und designierte Firmenerbin Stephanie McMahon inszenierte sich öffentlichkeitswirksam als Antreiberin des Umschwungs. Hinter den Kulissen war aber wohl der Beitrag ihres Manns Paul Levesque alias Triple H wesentlicher, der seit 2011 als Talentvorstand die Personalpolitik von WWE verantwortet.
Unter ihm gab es einen spürbaren Paradigmenwechsel, generell und im Besonderen in Bezug auf die Frauen: Vorher hatte WWE in erster Linie auf Quereinsteigerinnen aus der Model- und Unterhaltungsbranche ohne Wrestling-Erfahrung gesetzt (die Bellas, Stratus oder auch Kelly Kelly). Triple H dagegen rückte Talente wie Banks, Bayley und Lynch in den Fokus, die sich im Independent-Bereich schon profiliert hatten - und auch internationale Stars wie Asuka aus Japan, wo Frauenwrestling auf höchsten Niveau seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit war. Die von ihrer Wrestling-Familie geprägte Flair, das auch ohne Vorerfahrung schnell ein ähnliches Niveau erreichte, ist eine Ausnahmeerscheinung.
Als geistiger Vater des Experimentierfelds NXT, wo die Horsewomen Fahrt aufnahmen, war Triple H ebenfalls ein Türöffner der Revolution.
2016: Aus "Divas" werden "Superstars"
In der Nacht auf heute vor fünf Jahren beförderte WWE Flair, Banks und Lynch in den Hauptkader und rief eine "Divas Revolution" aus - kurz darauf zeigten Bayley und Banks mit einem von Fans und Kritik gefeierten Ironman-Match bei NXT TakeOver vor dem SummerSlam noch einmal mehr denn je ihre Qualitäten. Es folgte eine emotionale Zusammenkunft aller vier "Horsewomen".
Aus der Divenrevolution wurde bald darauf die "Women's Revolution", die ihm Frühjahr 2016 den nächsten Schritt machte. WWE mottete den für die vergangenen Zeiten stehenden Begriff "Divas" ein, die offizielle Berufsbezeichnung der WWE-Frauen ist nun dieselbe wie der Männer: "Superstars".
Dementsprechend wurde der 2010 eingeführten Divas Title wieder in einen Women's Title verwandelt, bei WrestleMania 32 wurde er in einem höchst sehenswerten Dreikampf zwischen Banks, Lynch und Siegerin Flair neu ausgefochten - es war das bis dato klar größte und beste Frauenmatch im Hauptroster.
Die WWE-Frauen fühlten sich ermutigt, ihr neues Gewicht auch offensiv zu vertreten. "Mein Ziel ist es, im Hauptkampf von WrestleMania zu stehen", verkündete Charlotte Flair bereits im Herbst 2016 zu SPORT1. Die im selben Jahr als letzte "Horsewoman" beförderte Bayley proklamierte, ebenfalls im SPORT1-Gespräch: "Zu den Bra & Panties Matches wird es nicht zurückgehen. Ich garantiere das. So lange wir hier sind, wird das nicht passieren. Und wir werden lange Zeit hier sein."
2018: Ronda Rousey treibt die Revolution voran ...
WWE trieb die Entwicklung mit der Ansetzung weiterer historischer Matches voran: Am 30. Oktober 2016 bestritten Charlotte Flair und Sasha Banks das erste Hell-in-a-Cell-Match der Frauen, das zugleich der erste Frauen-Hauptkampf bei einem Pay Per View von WWE war. Am 18. Juni 2017 folgte das erste Money-in-the-Bank-Leitermatch mit Siegerin Carmella, am 28. Januar 2018 das erste Royal-Rumble-Match der Frauen mit der Japanerin Asuka als Triumphatorin - und einem weiteren Paukenschlag im Anschluss.
Die nach ihrem sportlichen Absturz bei der UFC zurückgetretene Ronda Rousey feierte ihr WWE-Debüt und gab der Division einen weiteren Schub: Rousey ist in den USA ein Mainstream-Superstar, ihre Ankunft erhöhte die Aufmerksamkeit von Zuschauern, Medien und Sponsoren.
Rousey gewann beim SummerSlam 2018 in New York den RAW-Damentitel von Alexa Bliss und verteidigte ihn monatelang, unter anderem auch beim historischen Pay Per View Evolution im Oktober 2018, bei dem es nur Frauenmatches gab (was auch ein PR-Manöver nach den Shows in Saudi-Arabien war, bei denen nur Männer antreten durften): Rousey besiegte Nikki Bella, die für dieses Match als Symbolfigur der vergangenen "Divas Era" inszeniert wurde.
Obwohl nicht wenige Fans Rousey kritisch sahen und sie trotz des Talents, das sie auch im WWE-Ring offenbarte, eher als Eindringling wahrnahmen, der die Lorbeeren anderer erntete: Ohne sie hätte es den WrestleMania-Hauptkampf 2019 kaum gegeben.
2019: Becky Lynch vollendet
Was WWE ebenfalls in die Karten spielte: Becky Lynch bekam 2018 mit ihrem neuen, ursprünglich als Schurkin konzipierten Charakter als "The Man" einen riesigen Popularitätsschub bei den Fans, womit sich auch eine passende Gegenspielerin für Rousey aufdrängte. Weil Rousey nach WrestleMania 35 eine Auszeit nahm, um eine Familie zu gründen, war Lynch die logische Siegerin des Meilenstein-Matches (und wurde kurz darauf auch zum ersten weiblichen Coverstar der Videospielreihe WWE 2K).
Wie stabil der Aufschwung der WWE-Frauen ist, muss die Zeit zeigen: Die "Women's Revolution" hatte auch Rückschritte und Fehltritte wie das PR-Debakel um die Benennung der Frauen-Battle-Royal bei WrestleMania nach der als Mensch höchst umstrittenen WWE-Hall-of-Famerin Fabulous Moolah oder die zwischenzeitlich rechte lieblose Behandlung des Duos Bayley und Sasha Banks, die letztere 2019 fast in die Kündigung trieb.
Ein so großer Rückfall wie in den Neunzigern, als McMahon aus Kostengründen zwischenzeitlich den Damentitel abschaffte und sich von allen Wrestlerinnen trennte, ist aber eher unwahrscheinlich.
Auch bei der neuen Konkurrenzliga All Elite Wrestling stehen die Frauen übrigens hoch im Kurs, sie geht sogar noch einen Schritt weiter, den WWE bislang nicht vollzogen hat: Kurz nach Gründung von AEW Anfang 2019 verkündete die Promotion, dass es dort "Equal Pay" geben wird: Die Wrestlerinnen sollen dieselbe Bezahlung erhalten wie die Männer in gleicher Position.