Nur eine einzige Trainingseinheit hatte Thomas Tuchel mit dem FC Chelsea vor seinem Debüt an der Stamford Bridge absolviert.
Wird Werner zu Tuchels Problem?
Doch das reichte dem Coach offensichtlich, um seinem neuen Team eine klare Vorstellung zu geben von dem, was er sich künftig von der Mannschaft auf dem Platz erwartet.
Das 0:0 gegen die Wolverhampton Wanderers brachte zwar weder den ersten Sieg noch das erste Tor für den neuen Trainer, dafür aber schon einige Erkenntnisse darüber, wie er die Blues aus der Krise führen will. (Die Tabelle der Premier League)
SPORT1 fasst die wichtigsten Schlüsse zusammen.
Mehr Offensiv-Power dank mehr Ballbesitz
Kaum hat Tuchel den Job von seinem erfolglosen Vorgänger Frank Lampard übernommen, macht in England schon der Begriff der "possession obsession" die Runde. Dass der 47-Jährige dem eigenen Ballbesitz die absolute Priorität einräumt, war schon gegen die Wolves zu sehen - und an den Zahlen eindeutig abzulesen.
433 Mal spielte sich Tuchels neue Mannschaft in der ersten Halbzeit den Ball zu, am Ende waren es 820 Pässe und ein Ballbesitz von 78,9 Prozent. Zahlen, die nicht nur Rekordwerte für einen Trainer-Debütanten darstellen, sondern die auch den gebürtigen Schwaben sehr gefreut haben: "Es hat mich ein bisschen an unsere Spiele in Dortmund erinnert". (Spielplan und Ergebnisse der Premier League)
Damals - in den Spielzeiten 2015/16 und 2016/17 - verzeichnete in der Bundesliga nur der FC Bayern mehr Ballbesitz als der BVB.
Viele Pässe allein machen aber noch keine erfolgreiche Mannschaft. Deswegen hat Tuchel auch die Taktik geändert. Statt des 4-2-3-1 von Lampard lässt der Deutsche nun in einem 3-4-2-1 spielen. Damit sollen vor allem die offensiven Mittelfeldspieler und die Flügelspieler mehr Freiheiten in ihrem Spiel nach vorne bekommen.
Im Spiel gegen die Wolves waren das die beiden Außen Callum Hudson-Odoi und Ben Chilwell sowie Hakim Ziyech und Kai Havertz.
Havertz spielt - Werner nicht
Während der ehemalige Leverkusener auf seiner Stammposition im offensiven Mittelfeld für viel Wirbel sorgte und Chelseas beste Chance des Spiels für Chilwell auflegte, kam sein Landsmann Timo Werner noch nicht zum Zug.
Auch wenn Tuchel auf der Pressekonferenz am Tag nach dem Spiel betonte, man solle nicht zu viel in die Startelf hineininterpretieren, war es schon überraschend, dass Werner in der Startelf dem 34 Jahre alten Franzosen Olivier Giroud den Vortritt lassen musste und bis zum Schlusspfiff auf der Bank saß.
Damit widerlegte Tuchel auch die Vermutung, er werde als Deutscher sofort seine drei Landsleute spielen lassen. Die Entscheidung könnte darauf hindeuten, dass der Ex-Leipziger auch langfristig Probleme bekommen könnte, unter Tuchel als Stammspieler zum Zuge zu kommen.
Denn mit seiner enormen Schnelligkeit wäre er zwar für das schnelle Umschaltspiel eines Julian Nagelsmann oder Jürgen Klopp geeignet. In Tuchels Philosophie des obsessiven Ballbesitzes passen Werners Stärken jedoch nicht optimal.
Dazu steckt der deutsche Nationalstürmer derzeit im Formtief und muss von Tuchel erst einmal wieder aufgebaut werden. "Timo leidet, er hadert gerade ein wenig. Ich glaube, er braucht jetzt einfach viel Zuspruch, viel Vertrauen in seine Qualität", sagte Tuchel. Er sieht Werner am ehesten zwischen dem linken Flügel und der Spitze. Da müsse er dann mit Geschwindigkeit hinter die letzte Linie stecken. Aber, so Tuchel: "Dafür braucht er wieder etwas Zutrauen und ein Lächeln."
Rüdiger profitiert
Dafür aber steht mit Antonio Rüdiger wieder jemand hoch im Kurs, der unter Lampard kaum spielte und noch vor wenigen Wochen ernsthafte Abwanderungsgedanken gehegt haben soll.
Dass Tuchel mit dem Innenverteidiger plant, ist nicht nur daran zu erkennen, dass er ihn bis zum Schlusspfiff durchspielen ließ. Er gab dem 27-Jährigen, der vom VfB Stuttgart über die Roma nach London kam, immer wieder lautstarke Anweisungen auf Deutsch.
Offensichtlich hat es sich Tuchel vorgenommen, Rüdiger wieder zu alter Form zu führen und ihn auf diesem Weg auch auf dem Platz zu unterstützen.
Lampard-Liebling auf der Bank
Die gegenteilige Erfahrung machte Mason Mount. Ausgerechnet der englische Nationalspieler, der unter Tuchels Vorgänger Lampard quasi eine Stammplatz-Garantie hatte und in dieser Saison in 17 von 19 Partien in der Startelf stand, musste zunächst mit einem Platz auf der Bank Vorlieb nehmen.
Der 22-Jährige kam zwar in der Schlussphase für Ziyech ins Spiel, könnte aber auch langfristig zum Opfer der Tuchel-Taktik werden. Sollte sich der Coach weiterhin für zwei offensive Mittelfeldspieler im Zentrum entscheiden, bleibt einem nur die Rolle als Ersatzspieler.
Derzeit sieht es so aus, als hätten Havertz und Ziyech einen Vorsprung. Mount hingegen hat seinen Status als Unberührbarer fürs Erste verloren, auch wenn er starken Zuspruch von prominenter Stelle erhält.
"Man muss dem Gegner wehtun können. Das ist überhaupt nicht passiert, bis Christian Pulisic und Mason Mount eingewechselt wurden. Sie haben für etwas mehr Gefahr gesorgt", sagte England-Legende Rio Ferdinand bei BT Sport. Ex-Stürmer Peter Crouch ergänzte: "Tuchel wird schnell merken, dass Mount in dieser Saison einer ihrer kreativsten Spieler war. Ich bin sicher, dass er es schnell wieder ins Team schafft."
Diese Möglichkeit besteht durchaus. Denn Mount ist ein gutes Beispiel dafür, was Tuchel als unabdingbar für den langfristigen Erfolg der Blues bezeichnet. "Chelsea ist dafür berühmt, eine der besten Nachwuchszentren in Europa zu haben. Es muss also einen Weg geben, wie wir die Jungs fördern und fordern können", sagte er.
Mount selbst durchlief elf Jahre lang sämtliche Stationen der Akademie, ehe er zunächst zu Vitesse Arnheim und Derby County ausgeliehen wurde. Seit Juli 2019 ist er wieder zurück bei den Blues und seitdem zu einer wichtigen Säule geworden. Nun muss er nur noch Tuchel von seinen Qualitäten überzeugen.