Fünf lächerliche Tage war Lucas Piazon zu spät dran, als er seinen Vertrag beim FC Chelsea im Januar 2012 unterschrieb.
Chelseas riskantes Leih-System
Wäre der Angreifer doch nur ein bisschen schneller gewesen. Er hätte Gary Cahill bei der Vertragsunterschrift geschlagen und in diesem Sommer die Chance gehabt, sich im aktuellen Kader den inoffiziellen Titel des dienstältesten Chelsea-Profis zu schnappen. Der war vakant geworden nach dem Weggang des Torhüters Matej Delac.
Delac ist eine Kuriosität in einem Fußballgeschäft, das immer merkwürdigere Auswüchse produziert. In der vergangenen Saison war der kroatische Torhüter der dienstälteste Spieler bei Chelsea - ohne je eine Minute in einem Pflichtspiel für die Blues bestritten zu haben.
Grund dafür war zwar auch die fehlende Arbeitserlaubnis für England, aber vor allem das exzessiv betriebene Leihsystem des FC Chelsea, das auch Piazon bestens kennt. Delacs Vita weist neun Leih-Stationen in zehn Jahren aus, der Lebenslauf von Piazon sieben Vereine in fünf Jahren.
Alle aktuellen Chelsea-Leihspieler zum Durchklicken:
Der FC Chelsea hat sich längt einen Namen damit gemacht, massenhaft Spieler zu verleihen. Für andere wäre es Wahnsinn, bei den Blues hat es Methode. In dieser Saison listet der Verein 32 Spieler, die zurzeit bei anderen Arbeitgebern untergekommen sind, aber einen Vertrag bei den Blues besitzen. Darunter sind weniger klangvolle Namen wie Dujon Sterling oder Fikayo Tomori, aber auch Leute wie Michy Batshuayi und Tiemoue Bakayoko.
Dem Modell von Chelsea liegt ein essenzieller Gedanke zugrunde: Je mehr Talente man verpflichtet, desto größer ist die Chance, einen Top-Spieler zu entwickeln. Es ist eine Wette auf das Können der jungen Fußballer, bei der Chelsea einen geringen Einsatz zahlt und im Erfolgsfall fürstlich belohnt wird. Die Talente haben allerdings mehr zu verlieren als nur Geld, es geht um ihre Karrieren.
Landen junge Fußballer erst einmal beim Prestigeobjekt von Oligarch Roman Abramowitsch, stehen ihnen verschiedene Laufbahnen offen. Der perfekte Weg führt direkt in den Profikader. Davon träumen auch viele Chelsea-Jugendspieler. Die Akademie der Blues produziert jährlich Gewinnertypen: Seit 2010 ging der FA Youth Cup sieben Mal an die Blues. Aus dem eigenen Nachwuchs schaffte es aber selten einer zu den Profis. Einzig John Terry konnte seine Spuren dort hinterlassen. Tammy Abraham träumt derzeit davon.
Der beschwerlichste Chelsea-Weg
Sollte es im ersten Anlauf nicht klappen, biegen die Talente auf den zweiten Weg ab. Der führt zu einem kleineren Verein, bei dem die Konkurrenz nicht so ausgeprägt ist wie in Chelseas Luxus-Kader. Im Idealfall entwickelt sich die Leihgabe dort und kommt gestählt für die erste Mannschaft zurück. Doch im Kader der Blues einen Platz zu finden, gleicht dem Gedränge in einer überfüllten U-Bahn.
Schnell macht Chelsea deswegen Platz und schickt die Aussortierten auf dem dritten und beschwerlichsten Weg: den der unzähligen Ausleihen. Es ist ein System, das sich vor allem für Chelsea rentiert. Erreichen die Talente irgendwann das gewünschte Niveau und im Kader ist eine Planstelle offen, kann der Klub auf einen riesigen Spieler-Pool zurückgreifen.
Reicht es für die Leiharbeiter jedoch nicht zur allergrößten Karriere, versucht Chelsea, sie gewinnbringend zu verhökern. Oft steigern sie ihren Marktwert bei den temporären Arbeitgebern, weil sie verstärkt im Fokus stehen. Der dritte Weg nimmt gerne auch mal mehrere Jahre der Karriere ein. Er endet aber nicht zwingend wieder beim FC Chelsea - oder einem anderen großen Klub.
Ryan Bertrand ist ein gutes Beispiel für einen solchen Karriereverlauf. Der Linksverteidiger war 2006 für 180.000 Euro von Gillingham in die Jugend von Chelsea gewechselt. Rund zehn Jahre und sieben Leihen später verkaufte Chelsea den Linksfuß für 13,34 Millionen Euro an Liga-Konkurrent Southampton. Bertrand hatte nie das von Chelsea gewünschte Champions-League-Niveau erreicht, war aber für den schwächeren Klub eine Verstärkung.
Bundesliga freut sich
Auch die Bundesliga profitiert vom Chelsea-Modell. Das prominenteste Beispiel ist Kevin De Bruyne. Chelsea verlieh den Belgier 2010 nach Bremen, dort überzeugte er. Bei Chelsea konnte sich De Bruyne unter dem damaligen Trainer Jose Mourinho aber nicht durchsetzen. Der Mittelfeldspieler weigerte sich allerdings, den vorgesehenen Chelsea-Weg zu beschreiten. Er drängte auf einen Wechsel zum VfL Wolfsburg und legte dort den Grundstein für seine Weltkarriere.
Verteidiger Andreas Christensen war im ersten Versuch nicht gut genug für Chelseas Profikader. Er wählte den zweiten Bildungsweg Bundesliga und reifte innerhalb von zwei Spielzeiten in Gladbach zu einem Spieler, mit dem Chelsea arbeiten will. Dem Ex-Dortmunder Michy Batshuayi droht hingegen ein beschwerlicher Weg, sollte er unbedingt für Chelsea spielen wollen. Nach Antonio Conte hat auch Maurizio Sarri keine Verwendung für den Angreifer. Er ist an den FC Valencia verliehen worden, seine zweite Station.
Chelsea profitiert auch finanziell
Das Modell bietet Chelsea nicht nur einen sportlichen Nutzen, sondern auch finanziellen. Mit der großen Anzahl an Leihspielern lässt sich viel Geld verdienen. In dieser Saison erwirtschafteten die Blues mit 53,6 Millionen Euro die zweithöchsten Transfereinnahmen aller 20 Premier-League-Klubs - nur Leicester City war besser aufgestellt (85,8 Millionen). In den beiden Jahren zuvor belegte Abramowitschs Klub sogar Platz eins.
Ein erheblicher Teil der Transfereinnahmen kommt aus Leihgebühren oder Verkäufen der Leiharbeiter. Wenn das System funktioniert, ist es auch eine Möglichkeit, einen Teil der enormen Transferausgaben zu decken. Seit Abramowitsch den Klub 2003 übernommen hat, fließen durchschnittlich fast 80 Prozent der Gesamtausgaben in die Verpflichtung neuer Spieler.
Die Jagd nach dem nächsten Top-Spieler oder der nächsten rentablen Investition funktioniert aber nicht immer. Der ehemals dienstälteste Chelsea-Spieler Delac wechselte am Ende ablösefrei zum dänischen Klub AC Horsens. Piazon schaffte in der Vorbereitung nicht den Sprung in den Profi-Kader und muss sich nun bei Chelseas U23 beweisen.