Jesse Marsch ist erfolgreicher Trainer beim FC Red Bull Salzburg. Der US-Amerikaner wird bei der Suche nach neuen Coaches auch stets mit Bundesligaklubs in Verbindung gebracht.
Marsch: "Rangnick ist ein Genie"
Marsch ist ein aufgeräumter, humorvoller und sehr zielstrebiger Mensch, der einem klaren Fußball-Plan folgt.
Im ersten Teil des SPORT1-Interviews sprach der 47-Jährige über kommende RB-Stars, seine Ex-Kollegen Bo Svensson und Ralf Rangnick und über Emotionen, die die Champions League bei ihm weckt.
SPORT1: Jesse Marsch, Sie sagten einmal: "In Europa zählt vor allem Leistung. In den USA ist es der Teamgeist. Das ist der X-Faktor: Wie Spieler sich umeinander kümmern." Ist das die größte Kunst, diesen "American Way" noch stärker in Europa zu einzubringen?
Jesse Marsch: In den USA ist Teamgeist sicherlich ein großes Thema. Im Unterschied zu Europa haben unsere großen Sportarten Fußball, Football oder Basketball ein anderes Ligen-System. Während in Deutschland beispielsweise Arminia Bielefeld wohl unmöglich Meister werden kann, hat in Amerika jede Saison ein anderes Team die Möglichkeit auf den Titelgewinn. Es geht in den USA dabei mehr um Teamgeist, Mentalität und Zusammenhalt. Bei meinen Besuchen in Europa habe ich oft gesehen, dass es nicht so ein enges Miteinander zwischen Trainerteam und Mannschaft gab. Ein großes Ziel von mir ist es, diese Komponenten zu verbinden. In Europa ist es oft so, dass der Chef sagt, was alle machen müssen. Meine Art ist eine andere.
SPORT1: Die junge Generation an Spielern öffnet sich ja immer mehr für diese Art der Führung…
Marsch: Das stimmt. Wir haben in Salzburg viele junge Spieler und können hier ein Miteinander erarbeiten. Ich möchte Karim Adeyemi als Beispiel nennen. Er wurde in einer Partie schon früh in der ersten Halbzeit ausgewechselt. Diese Entscheidung war für mich schwierig zu treffen und für Karim schwierig zu akzeptieren. Weil wir ein vertrauensvolles Verhältnis haben, hat er die Entscheidung akzeptiert. Wir haben nach Abpfiff miteinander gesprochen und sind uns in einem schwierigen Moment so sogar noch etwas nähergekommen. Es ist unrealistisch, dass man eine perfekte Saison spielt. Man muss sich daher fragen, wie man mit schwierigen Situationen umgeht. Doch mit Zusammenhalt können wir in jedem Fall Fortschritte erzielen und stärker werden.
SPORT1: Neben den persönlichen Aspekten geht es auch um die sportliche Entwicklung der Spieler. Wie würden Sie Ihre Philosophie insgesamt beschreiben?
Marsch: Es gibt mittlerweile viele Red-Bull-Trainer in ganz Europa, die mit einer ähnlichen Fußball-Philosophie agieren. Ich arbeite, so denke ich, sehr intensiv damit. Ich halte sie für richtig und habe unter anderem von Leuten wie Ralf Rangnick viel gelernt. Ich lasse gerne einen vertikalen, aggressiven und schnellen Fußball spielen. Mein Ziel ist es, dass unsere Mannschaft den Gegner in jeder Phase des Spiels dominiert. Wir wollen auch ohne Ball, bei Standardsituationen oder bei Einwürfen Kontrolle erlangen. Das ist nur sehr schwer zu erreichen, aber das ist trotzdem das Ziel.
SPORT1: Welche Art von Trainertyp sind Sie im Umgang mit den Spielern?
Marsch: Ich bin kein typischer Amerikaner. Die Österreicher sagen zwar oft, dass ich eine positive Ausstrahlung habe. Ja, das stimmt. Aber diese Eigenschaft haben auch viele Amerikaner nicht, deshalb ist das jetzt nicht so typisch amerikanisch. Diese Art ist wichtig für Erfolg und Entwicklung einer Mannschaft. Ich arbeite aber jeden Tag sehr, sehr hart für den Erfolg. Wenn wir alle immer alles geben, dann sehen wir auch Entwicklungen. Wir können dann auch besser mit einer Niederlage leben, wenn wir alles für den Erfolg getan haben. Mein Ziel ist es, dass mein Team immer alles gibt.
SPORT1: Als Co-Trainer in Leipzig haben Sie auch die Bundesliga schon eine Saison mitgewirkt. Wie groß war der Sprung von der MLS nach Deutschland im ersten Moment?
Marsch: Natürlich habe ich etwas Zeit zur Eingewöhnung benötigt. Ich hatte aber Glück, dass ich RB Leipzig davor schon kennengelernt habe. Das Niveau in Leipzig bei Spielern und Betreuern war schon damals sehr hoch. Ich war jeden Winter seit 2015 mindestens eine Woche dabei. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, für solch einen Klub zu arbeiten ist ein Traum. Die Arbeit mit Ralf Rangnick, dem gesamten Trainerstab und den Spielern war überragend. In Leipzig gab es viele Jungs mit Talent und Mentalität. Es war eine super Vorbereitung für meine Aufgabe in Salzburg.
SPORT1: Glauben Sie, dass der amerikanische Fußball irgendwann wirklich mit dem europäischen konkurrieren kann?
Marsch: Die MLS wird jährlich besser. Die Fußball-Lust in den USA steigt, es kommen immer mehr Zuschauer in die Stadien. Aber der Abstand zu Europa ist groß, was auch an der Entfernung liegt. Als europäischer Spieler überlegt man ganz genau, ob man diesen Umzug wagt. Das Niveau in der Liga wird zwar immer höher, ich bin sehr stolz auf die Arbeit in der MLS. Doch durch die Entfernung ist es schwer, mit Europa in Konkurrenz zu treten.
SPORT1: Sie haben in der Saison 2018/19 mit Ralf Rangnick zusammengearbeitet. Er wird nicht nur bei diversen Vereinen, sondern auch als Nationaltrainer gehandelt. Würden Sie ihm diese Rolle als Löw-Nachfolger zutrauen?
Marsch: Ralf Rangnick ist ein super Trainer, ein wahres Genie! Er ist schlau und versteht, dass er jetzt den richtigen Job für sich finden muss. Es geht dabei weniger um die aktuelle Kaderstärke oder Namen des Klubs, sondern vielmehr um das Projekt insgesamt. Bei ihm muss alles passen: die Strukturen, selbst die zweite Mannschaft oder die Personen, mit denen er zusammenarbeitet. Ralf hat das in Leipzig sehr gut gemacht. Wir werden sehen, wo er landet, aber er kann jedem Verein helfen.
SPORT1: Ein anderer Ex-Kollege von Ihnen hat in Deutschland sofort überzeugt. Mit Bo Svensson hat das Salzburger Farmteam FC Liefering einen hochtalentierten Trainer im Winter an Mainz 05 verloren. Können Sie etwas über die Zusammenarbeit mit ihm erzählen? Was zeichnet ihn aus?
Marsch: Bo Svensson ist ein super Typ. Er ist sehr sympathisch und es macht Spaß, mit ihm zu arbeiten. Er hat eine klare Meinung, aber er hört anderen auch genau zu und ist flexibel. Es hat mich nicht überrascht, dass ihn Mainz zurückgeholt und er nach kurzer Zeit Erfolg hat. Bo hat viel bei Liefering gelernt und unsere Philosophie verinnerlicht. Er hat aber auch seine eigene Spielidee. Ich freue mich für ihn. Ich schaue mir jedes Spiel von Mainz an und beobachte, was er macht. Ich hoffe, dass er das Beste für Mainz herausholt. Bo hat eine große Zukunft vor sich, weil er intelligent ist. Er hat den richtigen Grad Emotionalität und ist ein Siegertyp.
SPORT1: Doch nicht nur Ihre ehemaligen Kollegen sind erfolgreich unterwegs, auch Sie müssen sich nicht verstecken. Mit Salzburg standen Sie in den vergangenen beiden Jahren in der Champions-League-Gruppenphase und hätten jeweils am letzten Spieltag gegen Liverpool oder Atletico das Weiterkommen noch schaffen können. Wie viel bedeuten Ihnen diese Spiele in der Königsklasse?
Marsch: Ich liebe die Champions League – und ich hasse sie zugleich (lacht). Es macht so viel Spaß, sich auf die besten Gegner in Europa vorzubereiten. Wir standen zweimal knapp davor, in die K.o.-Runde einzuziehen. Das war zwar einerseits ein gutes Gefühl. Andererseits aber war die Enttäuschung vor allem nach der Niederlage gegen Atletico Madrid groß. Wir waren so nah dran, aber es hat nicht gereicht. Trotzdem hatten wir das Gefühl, dass wir gut gespielt und Qualität gezeigt haben. Die Mannschaft ist insgesamt gereift. Aber mein Ziel war es, die Gruppenphase zu überstehen. Das frühe Ausscheiden ist daher schwierig zu akzeptieren, wenn man so nah dran war. (Spielplan und Ergebnisse der Champions League)
SPORT1: Was haben Sie und Ihre Mannschaft dennoch mitnehmen können?
Marsch: Wir haben viel gesehen und gelernt, was Topniveau im europäischen Fußball bedeutet. Wir müssen nach oben blicken und verstehen, was wir tun müssen, um dort dabei zu sein. Das ist unser Anspruch. Aber natürlich ist es auch eine Gefahr für Red Bull Salzburg. Es ist nämlich eine schöne Sache, in der Champions League dabei zu sein, aber umgekehrt sieht Europa unsere besten Spieler und kauft sie uns weg (lacht).
SPORT1: Sie sprechen das typische Salzburger Modell an. Der nächste Spieler steht schon bei anderen Klubs auf der Liste. Patson Daka wurde als 19-Jähriger in Sambia entdeckt – und steht jetzt in der österreichischen ersten Liga bei weit über 20 Torbeteiligungen. Können Sie etwas über Daka erzählen?
Marsch: Patson Daka bringt eine super Kombination aus Persönlichkeit, Mut, Arbeit und Freude mit. Er hat stets ein Lächeln auf den Lippen. Patson ist ein unglaublicher Typ, der immer alles für das Team gibt und viel Potenzial hat. Manchmal ist er vielleicht sogar zu nett, da darf er auch mal härter sein oder eine andere Persönlichkeit auf dem Feld zeigen. Er versucht die Dinge, die wir ihm mitgeben, richtig umzusetzen. Viele Topvereine denken, dass er jetzt bei ihnen den nächsten Schritt gehen kann. Patson ist sehr schnell, taktisch intelligent und arbeitet gut gegen den Ball. Wir werden sicherlich noch zwei gute Monate miteinander verbringen, danach ist er bereit für den nächsten Schritt. Aber warten wir ab, was dann wirklich mit ihm passiert.
SPORT1: Der deutsche U-19-Nationalspieler Karim Adeyemi ist das nächste hoffnungsvolle Talent: Er wurde in Unterhaching entdeckt, in Liefering gefördert und dann an die erste Mannschaft herangeführt. Wie viel Spaß und Freude bereitet einem ein solches Farmteam wie Liefering?
Marsch: Die Zusammenarbeit zwischen dem FC Red Bull Salzburg und dem FC Liefering ist eine ganz besondere, die super für die Spieler und den Klub ist. Dieser Verein bietet in der Gesamtheit die perfekte Lage für einen jungen Spieler. Und wir spielen eben viel mit jungen Spielern, glauben an sie und entwickeln sie weiter. Karim ist ein hochtalentierter Junge, der ein hohes Tempo und Qualität vor dem Tor mitbringt. Er hat eine tolle Persönlichkeit und ist ehrgeizig. Es braucht noch den letzten Klick für den nächsten großen Schritt. Karim kann aber ein überragender Spieler in Salzburg und dann irgendwann auch bei einem europäischen Großklub werden.