Er ist der erfolgreichste deutsche Vereinstrainer aller Zeiten und war vor vier Jahren selber als Schweizer Nationalcoach bei der WM dabei.
Hitzfeld: DFB-Feuer erloschen
Seitdem genießt Ottmar Hitzfeld das Privatleben in seiner Heimatstadt Lörrach.
Die Weltmeisterschaft in Russland hat der 69-Jährige aber als Experte genau verfolgt.
Im SPORT1-Interview zieht Hitzfeld seine Bilanz, nennt seine Topspieler und spricht über die Krise der DFB-Auswahl sowie die Aussagen von Philipp Lahm.
SPORT1: Ist Frankreich aus Ihrer Sicht trotz der Kritik an ihrer passiven Spielweise der verdiente Weltmeister?
Ottmar Hitzfeld: Frankreich ist ein würdiger Weltmeister. Man muss nicht immer mehr Ballbesitz haben, um ein Spiel zu prägen. Es kommt auf die Effektivität an. Frankreich hat einen sehr pragmatischen, sehr auf Sicherheit bedachten Fußball gespielt. Deschamps hat sich entschieden, dem Gegner den Ball zu lassen, um schnell umschalten zu können und so dank der Klasse der Einzelspieler zu einfacheren Torchancen zu kommen.
SPORT1: Die Mannschaft ist noch sehr jung. Kann Frankreich in den nächsten Jahren den Welt-Fußball dominieren?
Hitzfeld: Ich glaube, dass Frankreich auf einem guten Weg dahin ist. Sie haben einen Trainer, der sich als Arbeiter sieht. Er bleibt auf dem Boden und ist der Antreiber der Mannschaft. Und sie haben mit Spielern wie Mbappe, Griezmann oder Pogba unglaubliches spielerisches Potenzial.
SPORT1: Stimmen Sie der These zu, dass der Ballbesitzfußball tot ist?
Hitzfeld: Zumindest ist Ballbesitz nicht mehr der Hauptfaktor, um ein Spiel zu gewinnen. Man kann den Gegner nicht mehr müde spielen, jedes Team auf Top-Niveau ist heute besser vorbereitet und organisiert. Da kann man viel Ballbesitz haben und kommt trotzdem nicht zu Torchancen.
SPORT1: Luka Modric ist zum besten Spieler des Turniers gewählt worden. Wäre das auch Ihre Wahl gewesen?
Hitzfeld: Ich habe Modric auch als besten Spieler gesehen. Er war der Antreiber des kroatischen Spiels. Unglaublich präsent und mit einem hohen Laufpensum. Er geht auch dorthin, wo es weh tut und spielt mit Risiko.
SPORT1: Ist er damit auch ein Kandidat als Weltfußballer, oder werden es doch wieder Messi oder Ronaldo?
Hitzfeld: Ich denke, es wird eine Wachablösung geben. Den absoluten Superstar gibt es derzeit nicht. Neymar war überragend, aber seine Schauspielereien haben mich aufgeregt. Dafür wurde er auch zu Recht kritisiert, danach hat es sich gebessert. Bei den Franzosen hat mir Griezmann sehr gut gefallen, er spielt sehr intelligent. Und der Stern von Mbappe ist bei der WM aufgegangen. Er hat eine tolle Technik und einen starken Antritt, aber er ist jung und muss noch lernen. Er wird sicher ein zukünftiger Weltstar.
SPORT1: Wie sehr bedauern Sie als ehemaliger Nationaltrainer der Schweizer das Achtelfinal-Aus gegen Schweden?
Hitzfeld: Die Schweizer haben es verpasst, ihre historische Chance wahrzunehmen. Sie hätten gegen Schweden gewinnen müssen, sie waren besser. Aber sie haben keine Tore gemacht, weil die Stürmer nicht in Topform waren. Auch England wäre im Viertelfinale nicht unmöglich zu schlagen gewesen.
SPORT1: Die größte Überraschung war das Vorrunden-Aus der deutschen Mannschaft. Gibt es aus Ihrer Sicht eine Erklärung?
Hitzfeld: Ich habe damit genauso wenig gerechnet wie alle Fans. Im Nachhinein kann man sagen, dass man den Testspielen mehr Bedeutung hätte beimessen müssen. Da hätten eigentlich die Alarmglocken angehen müssen. Aber es ist ziemlich ruhig geblieben. Weil man gedacht hat, dass die Deutschen als Turniermannschaft wieder da sind, wenn es darauf ankommt. Anscheinend war das Feuer erloschen. Sie wollten, aber konnten nicht. Vielleicht war der Druck zu groß, oder die Gegner wurden unterschätzt. Aber da bin ich nicht nah genug dran, um das genau sagen zu können.
SPORT1: Sie haben sich trotzdem für einen Verbleib von Jogi Löw ausgesprochen. Warum?
Hitzfeld: Aufgrund seiner Arbeit in den letzten zwölf Jahren. Da hat die deutsche Nationalmannschaft mit ihrem Offensiv-Fußball Werbung in der ganzen Welt gemacht. Dass es jetzt Veränderungen braucht, hat das Turnier gezeigt. Aber Jogi Löw ist ein Fachmann, er wird es genau analysieren. Er wird sicherlich schauen, warum Frankreich und Kroatien erfolgreicher waren, und daraus die Lehren ziehen. Dafür ist er der richtige Mann.
SPORT1: Hat es Sie überrascht, dass sich auch Ihr ehemaliger Spieler Philipp Lahm in die Debatte eingemischt hat?
Hitzfeld: Viel hat er ja auch nicht gesagt. Ich hätte mir gewünscht, dass er auch begründet, warum und wie die deutsche Nationalmannschaft eine neue Führung braucht. Wenn man kritisiert, muss man auch sagen, was besser werden muss.
SPORT1: Glauben Sie, Philipp Lahm will sich damit in eine Position für ein Amt im DFB bringen?
Hitzfeld: Das ist möglich. Er hat auch gesagt, dass er nicht abgeneigt ist, als Funktionär Verantwortung zu übernehmen.
SPORT1: Trauen Sie ihm eine solche Rolle zu?
Hitzfeld: Philipp Lahm war immer ein Perfektionist, der immer an die Leistungsgrenze gegangen ist und immer auch ein Vorbild für die Mannschaft war. Mit seinem Ehrgeiz und seiner Kompetenz könnte er auf jeden Fall weiterhelfen.
SPORT1: Deutschland ist bei der WM früh ausgeschieden, mit Ausnahme des FC Bayern enttäuschten die Bundesliga-Klubs zuletzt international und auch die DFB-Nachwuchsteams gehören nicht mehr zur Spitze. Muss der deutsche Fußball sich ändern?
Hitzfeld: Das letzte Jahr war nicht gut. Es sind zu viele deutsche Mannschaften zu früh international ausgeschieden, das ist immer der Maßstab. Ich glaube aber nicht, dass es ein generelles Problem ist. Die kommende Saison werden die Mannschaften ihrer Rolle auch europaweit wieder gerecht werden. Ich würde nicht sagen, dass der deutsche Fußball kränkelt. Aber vielleicht geht es den Nachwuchsspielern zu gut und der Konkurrenzkampf müsste etwas härter sein. Vielleicht wird es ihnen heute zu einfach gemacht.