SPORT1-Redakteur Jonas Nohe gewinnt bei den Berufswettbewerben des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) den 1. Preis in der Kategorie "Großer Online-Preis". Mit dieser Multimedia-Story, die am 29. August 2019 auf SPORT1 veröffentlicht wurde, überzeugte der 30-Jährige die Jury:
Aus Liga 5 nach Europa: Das Racing-Märchen
Es ist ein verregneter Abend am 27. August 2011 im Osten Frankreichs.
Im 20.000-Einwohner-Städtchen Forbach, nur wenige Autominuten entfernt von Saarbrücken, wollen an jenem Samstag rund 600 Zuschauer ein Fußballspiel des dortigen Fünftligaklubs sehen.
Unter ihnen sind etwa 120 Gästefans. Fans von Racing Straßburg, einem Traditionsverein, der in der Saison 2005/06 noch im UEFA-Cup gegen die AS Rom und den FC Basel spielte - und der an diesem 27. August 2011 endgültig in den Niederungen des französischen Fußballs angekommen ist.
Mit 3:0 behalten die Gäste zur Freude der mitgereisten Schlachtenbummler die Oberhand, der Saisonstart ist gelungen.
Dass dieser Sieg zugleich der Beginn eines einzigartigen Fußballmärchens sein würde, auf dessen vorläufigem Höhepunkt die Straßburger fast auf den Tag genau nur acht Jahre später um den Einzug in die Gruppenphase der Europa League spielen, hätte an jenem verregneten Abend im Forbacher Stade du Schlossberg aber wohl nicht einmal der optimistischste Racing-Fan zu träumen gewagt.
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"Unsere größte Angst war, dass du aufwachst und deinen Verein nicht mehr hast."
Mit Schrecken erinnert sich Markus Bernhard an die Zeit, in der Racing Straßburg vor dem Aus stand. Der 48-jährige Badener hat seit 22 Jahren eine Dauerkarte auf der anderen Seite des Rheins - und musste miterleben, wie sein Verein von zwielichtigen Geschäftsleuten an den Rand des Abgrunds gestürzt wurde.
2010 war der Verein sportlich in die 3. Liga abgestiegen, im Sommer 2011 folgte nach einem Insolvenzverfahren der Absturz in die fünftklassige CFA 2 - eine Woche vor dem Saisonstart. Zu allem Übel hatte der vorherige Eigentümer des Vereins alles verscherbelt, was einen Wert besaß.
"Es waren alle Spieler weg bis hin zu sämtlichen Pokalen und Schalen, die der Klub in seiner inzwischen über 100-jährigen Geschichte gewonnen hatte", erklärt Peter Cleiß, der den Verein bereits seit 40 Jahren als Fan und seit einiger Zeit auch für die deutsche Lokalpresse begleitet: "Es wurde alles zu Geld gemacht."
Einer der wenigen Spieler, die noch zur Verfügung standen, war der damals 18-jährige Pierre Venturini. Er sah sich einer skurrilen Situation ausgesetzt.
"Wir hatten jede Menge Probespieler im Training. Du standest da auf einmal mit 15 Spielern, die du überhaupt nicht kanntest. Eine Woche vor dem Saisonstart gab es praktisch keine Mannschaft", erzählt Venturini.
9.500 Zuschauer beim ersten Fünftliga-Heimspiel
Das Auftaktspiel in der 5. Liga wurde verschoben, weil der Racing schlichtweg keine elf spielberechtigten Spieler aufbieten konnte. Immerhin aber schaffte es der vorherige Reservetrainer Francois Keller binnen einer Woche, dank seiner Kontakte im elsässischen Fußball eine Mannschaft für das Spiel in Forbach zusammenzustellen.
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"Der Name Racing Straßburg hat natürlich einige Spieler angezogen, auch wenn es nur die 5. Liga war", sagt Venturini, der als Nachwuchstalent im Saisonverlauf nur selten für die erste Mannschaft zum Einsatz kam. Die Neuzugänge waren für die Chance, im Trikot des Traditionsklubs aufzulaufen, auch zu finanziellen Abstrichen bereit.
Insbesondere die Fans aber zeigten, dass sie den Verein unbedingt am Leben erhalten wollten. Vor dem ersten Heimspiel putzten Freiwillige das Stade de la Meinau, zu der Partie gegen Illzach-Modenheim kamen sage und schreibe gut 9.500 Zuschauer.
Am 27. Spieltag machte Straßburg mit einem 2:0 gegen den FC Chaumont bereits vier Spieltage vor Saisonende den Aufstieg in die viertklassige CFA perfekt. Der chaotische Saisonstart war vergessen, der Verein auf dem Weg zurück nach oben.
Er sei kürzlich gefragt worden, ob die Europapokal-Spiele gegen Frankfurt das Schönste seien, was er beim Racing mitgemacht habe, erzählt Markus Bernhard: "Aber das Größte, was ich mit dem Verein erlebt habe, ist, dass es unseren Racing weiterhin gibt."
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Racing Straßburg - das war einmal über die französischen Grenzen hinaus ein klangvoller Name mit viel Tradition.
2019 feierte der Klub das 40-jährige Jubiläum des Meistertitels 1979, sein bis heute größter Erfolg. Zum Aufgebot gehörten damals unter anderem der spätere französische Nationaltrainer Raymond Domenech und der langjährige Arsenal-Coach Arsène Wenger.
Diese bekannten Namen spielten für Racing Straßburg:
Es waren bei weitem nicht die einzigen großen Namen, die im Trikot der Blauen aufliefen: Die späteren Weltmeister Frank Leboeuf und Youri Djorkaeff spielten ebenso für den Racing wie die aus der Bundesliga bekannten Valérien Ismael und Marc Keller, heutiger Präsident der Straßburger.
Sogar Ruhrpott-Legende Stan Libuda sowie die deutschen Nationalspieler Thomas Allofs und Wolfgang Rolff schnürten im Stade de la Meinau die Fußballschuhe - und trugen dazu bei, dass das Interesse am Racing auch auf der deutschen Rheinseite wuchs.
Im UEFA Cup gegen Liverpool und Inter Mailand
"Es gab eine Zeit, da war das deutsche Publikum innerhalb des Meinau-Stadions beachtlich", erinnert sich Peter Cleiß, der inzwischen ehrenamtlich eine deutschsprachige Facebook-Seite für den Verein betreibt: "Bei manchen Spielen gab es hinterher eine lange Schlange über die Rheinbrücke."
Kein Wunder, schließlich waren in Straßburg die ganz großen Namen des europäischen Vereinsfußballs zu sehen: Nach der Meisterschaft gastierte im Europapokal der Landesmeister Ajax Amsterdam in der Meinau, Mitte der 1990er-Jahre der AC Milan.
Besonders gerne erinnern sich langjährige Racing-Fans an die UEFA-Pokalsaison 1997/98: Nachdem die Elsässer bereits die Glasgow Rangers und den FC Liverpool ausgeschaltet hatten, gelang vor heimischer Kulisse ein 2:0 gegen Inter Mailand um den brasilianischen Superstar Ronaldo. Erst ein 0:3 im Rückspiel in Italien beendete die Straßburger Europareise.
13 Jahre nach der letzten Europapokal-Teilnahme und acht Jahre nach dem Neustart in der 5. Liga haben die Duelle mit Eintracht Frankfurt daher eine ganz besondere Bedeutung für den Verein, wie Markus Bernhard erklärt: "Es ist natürlich toll, dass nicht nur Frankreich auf den Verein schaut, sondern dass wir langsam auch europäisch wieder ein Punkt auf der Landkarte werden."
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Wer vor einem Heimspiel seinen Blick rund um das Stade de la Meinau schweifen lässt, der sieht auffällig viele Trikots mit der Rückennummer 11 und dem Namen Liénard - und fragt sich womöglich erst einmal, wer denn dieser Liénard ist.
Kurz gesagt: Dimitri Liénard, 31 Jahre alt, Mittelfeldspieler, ist die personifizierte Version des Straßburger Fußballmärchens.
Seit Sommer 2013 und damit seit der ersten Saison in der drittklassigen National spielt er bei Racing, so lange wie aus dem aktuellen Kader nur Jérémy Grimm, und kann sein Glück noch immer kaum fassen.
"Ich hätte Ihnen ins Gesicht gelacht", sagt er auf die Frage, wie er reagiert hätte, wenn man ihm vor sechs Jahren gesagt hätte, dass er 2019 vor 50.000 Zuschauern in Frankfurt spielen würde.
Europa League? "Klar, bei FIFA 20"
"Ich hätte wahrscheinlich gesagt: 'Klar, vor dem Fernseher bei FIFA 20 spiele ich bestimmt mit Racing in der Europa League'", meint er lachend: "Ich glaube, nicht einmal mein Vater hätte auch nur einen Euro darauf gewettet, dass ich eines Tages Profi-Fußballer sein würde."
Kein Wunder, schließlich wurde Liénard nie professionell ausgebildet und spielte immer nur bei kleineren Vereinen, nie höher als in der 4. Liga. Tagsüber arbeitete er vor seinem Wechsel zu Racing als Verkäufer.
"Als er gekommen ist, hat man sofort gemerkt, dass er vor allem einen herausragenden linken Fuß und eine großartige Einstellung hat", erinnert sich sein ehemaliger Mitspieler Yann Benedick: "Er war damals ein Kämpfer und er ist immer noch ein Kämpfer. Er war schon immer ein feiner Kerl und ich freue mich wirklich für ihn."
Aber warum schaffte unter all den Racing-Spielern der letzten Jahre ausgerechnet Liénard den Durchmarsch von der 3. Liga bis nach Europa?
"Weil er verrückt ist. Er ist ein Verrückter", sagt Trainer Thierry Laurey staubtrocken: "Aber nicht ein Verrückter im üblichen Sinne, sondern ein Verrückter, weil es für ihn keine Grenzen gibt." Liénard habe "diesen Schuss Wahnsinn. Er versucht Dinge, die sich niemand anderes trauen würde."
Liénard mit Panenka im Ligapokal-Finale
Beispiele gefällig?
30. März 2019, Ligapokal-Finale gegen EA Guingamp. Elfmeterschießen, Racing führt 2:1. Als dritter Straßburger Schütze schnappt sich der erst in der 116. Minute eingewechselte Liénard den Ball - und chippt ihn im wichtigsten Spiel seines Lebens rotzfrech per Panenka in die Tormitte.
12. Mai 2018, vorletzter Spieltag der Ligue 1 gegen Lyon. Racing kämpft gegen den Abstieg, kurz vor Schluss steht es 2:2. Straßburg erhält einen Freistoß halblinks direkt vor dem Strafraum. Die perfekte Position für einen Rechtsfuß, die linke Torecke ist komplett frei. Liénard läuft an und zirkelt den Ball mit links in den rechten Winkel. Minuten später steht der Klassenerhalt fest.
"Ich habe diesen Freistoß unglaublich oft gesehen", erzählt Liénard - und verrät den kuriosen Grund: "Meine beiden Kinder sind knapp fünf und zweieinhalb Jahre alt und schauen oft irgendwelche Sachen auf dem Tablet. Vor dem Schlafengehen wollen sie häufig noch mal ihren Papa beim Fußball sehen - und das Erste, was erscheint, wenn man bei YouTube 'Dimitri Liénard' eingibt, ist dieser Freistoß."
Inzwischen gebe es unzählige Montagen, "auf Französisch, auf Englisch, mit dem Titanic-Soundtrack. Ich habe bestimmt 15.000 verschiedene Versionen gesehen", sagt der Standard-Spezialist lachend: "Und ich habe jedes Mal Gänsehaut bekommen."
Bei den Straßburger Fans genießt er nicht nur wegen dieses besonderen Treffers Kultstatus.
Racing-Fans über Liénard: "Für uns ein Superstar
"Dimitri Liénard ist für uns der Verein", erklärt Jean-Michel Boulois, seit 40 Jahren Racing-Anhänger: "Er hat ganz unten angefangen, heute spielt er in der Europa League - und ist für uns ein Superstar!"
Die Straßburger Fans und ihr "Dim": Es ist eine ganz besondere Liebesbeziehung.
"Ob es in der Stadt ist oder beim Einkaufen, ich denke mir jedes Mal: 'Ich bin jetzt das siebte Jahr hier, inzwischen muss doch jeder ein Foto oder ein Autogramm von Dimitri Liénard haben!' Aber nein, es gibt immer noch etwas Neues", erzählt der Fan-Liebling kopfschüttelnd: "Aber ich finde das total schön. Unser Slogan hier bei Racing ist: 'Wir sind nicht elf, sondern tausende.' Und es ist genau das: Wenn du hier spielst, dann hast du fast das Gefühl, als würdest du für dein Land spielen."
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"Nous ne sommes pas onze, mais des milliers." - "Wir sind nicht elf, sondern tausende."
Was auf den ersten Blick nach einem mittelmäßigen Marketing-Slogan klingt, wird bei Racing Straßburg nicht nur bei den Spielen mit Leben gefüllt. Auch im Vereinsalltag steht das Wort "convivialité" im Mittelpunkt, was im Deutschen so viel bedeutet wie "Geselligkeit" oder ein gemeinschaftliches Miteinander.
Bezeichnenderweise fällt das Wort gleichermaßen, ob man nun Mitarbeiter der Presseabteilung des Vereins oder aber treue Fans danach fragt, was den Verein ihrer Meinung nach auszeichnet.
Für alle Profis gilt, dass sie generell für Termine mit Vereinspartnern und Medien zur Verfügung stehen müssen - vor allem aber für die Fans. Einen guten Eindruck davon, was das bedeutet, liefert der Besuch eines Trainings. Gelegenheit dazu gibt es reichlich, nahezu alle Einheiten sind öffentlich.
In Kontakt mit den Anhängern kommen die Spieler dabei ganz automatisch: Von den Umkleiden im Stadion müssen sie über einen öffentlichen Weg zum Trainingsplatz - ein Traum für Autogramm- und Selfie-Jäger jeglichen Alters.
Am Eingang zum Trainingsgelände warten bereits Jean-Michel Boulois und seine Kumpels. Jeden Tag sind sie da, eine Handvoll Fans, egal, bei welchem Wetter. Sogar ins Trainingslager in die Niederlande haben sie ihren Verein vor der Saison begleitet.
Trainer Laurey schwärmt von Straßburger Fans
"Für mich bedeutet der Racing alles! Ich atme, ich esse, ich trinke, ich lebe Racing", stellt der Mittfünfziger mit einem gehörigen Schuss Pathos klar. Und ihre Helden wissen, was sie an ihren Edelfans haben: Vor jedem Training nimmt sich Trainer Thierry Laurey ein paar Minuten Zeit, um mit Boulois und Co. über Gott und die Welt zu plaudern.
"Es ist die Liebe für den Verein und die Liebe für dieses Trikot, die aus Racing etwas Besonderes machen", erklärt der Racing-Coach, der 2016 aus dem korsischen Ajaccio nach Straßburg kam: "Die Menschen hier machen etwas mit einem. Sie ermöglichen es uns, über uns hinauszuwachsen und unser Bestes zu geben."
Der langjährige Racing-Begleiter Peter Cleiß wird mit Blick auf die jüngere Vergangenheit noch etwas deutlicher. "Ohne seine Fans gäbe es den Racing mit Sicherheit nicht mehr", meint er: "Der Verein wäre 2011 im Sommer gestorben."
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Auch wenn diese Sichtweise manch einem Vereinsoffiziellen einen Tick zu weit geht, in einem Punkt sind sich rund um den Klub alle einig: Der Absturz in die Fünftklassigkeit hat das Verhältnis zwischen den Anhängern und ihrem Racing ganz neu definiert.
"Es gibt eine Leidenschaft und Inbrunst in diesem Verein, die es in der Form vor zehn, 15 oder 20 Jahren noch nicht gab, die nach dem Absturz in die unteren Spielklassen aber zum Vorschein gekommen ist", beschreibt es Laurey.
In den Augen von Yann Benedick, der schon als kleiner Junge auf der Tribüne stand, ehe er später selbst für Straßburg spielte, ist "die Liebe für den Racing bei den Menschen stärker zurückgekommen als sie vorher noch da war. Die Fans, die heute im Stadion sind, haben den Verein zu großen Teilen seit der 5. Liga begleitet und sind mit ihm gewachsen."
Dauerkarte bei Racing schon für 150 Euro
Das Publikum im Stade de la Meinau ist inzwischen eher familiär geprägt, es gehen viele junge Menschen und Studenten zu den Spielen. Und mittlerweile auch wieder regelmäßig knapp 1000 Deutsche, die es Markus Bernhard nachgemacht und eine Dauerkarte erworben haben.
"Die Tickets sind vergleichsweise sehr günstig", erklärt Bernhard einen Vorteil in Straßburg. Weil er schon lange dabei sei, zahle er für seine Jahreskarte gerade einmal 150 Euro: "Das ist nichts!"
Im Gegenzug macht er wie die anderen Fans in der blauen Wand auf der Westtribüne bei jedem Heimspiel einen Riesenlärm - egal, ob im Europapokal gegen Frankfurt oder an einem kalten Dezembertag gegen Caen.
"Was die Stimmung angeht, wird man in der Meinau nie enttäuscht. Die Fans geben immer alles", lobt Publikumsliebling Dimitri Liénard: "Es ist bei jedem Spiel, als würde die Kraft von 25.000 Menschen in mich hineinströmen. 25.000 Menschen, die hinter mir stehen und mir helfen, über mich hinauszuwachsen."
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Wo Heldengeschichten wie jene von Dimitri Liénard geschrieben werden, da gibt es meist auch Geschichten, die kein Happy End gefunden haben.
Geschichten von Spielern, die vielleicht davon träumten, dasselbe erleben zu dürfen wie Liénard oder Jérémy Grimm, die aber irgendwann auf der Strecke geblieben sind.
"Wir haben schon einiges erlebt", meint Liénard rückblickend und sagt ganz bewusst: "Da denke ich auch an die ehemaligen Spieler, die in der 4. und 5. Liga gespielt haben und den Klub mit uns wieder nach oben gebracht haben."
Viele Spieler am Racing-Märchen beteiligt
Spieler wie Pierre Venturini oder Yann Benedick. Die beiden Eigengewächse wurden beim Racing ausgebildet, schafften es auf unterschiedlichen Wegen bis in die erste Mannschaft - und wurden wie so viele andere Spieler irgendwann nicht mehr gebraucht.
Venturini konnte sich als junges Nachwuchstalent in der 5. Liga noch nicht durchsetzen, im Anschluss ließ man ihn wissen, dass er auch in der 4. Liga keine Chance haben würde.
Benedick wechselte im Alter von 19 Jahren zunächst zu Stade Reims, um zur Rückrunde der Straßburger Viertliga-Saison 2012/13 für eineinhalb Jahre auf Leihbasis in die Meinau zurückzukehren.
Nachdem er unter anderem mit einem Tor im entscheidenden Spiel gegen Raon l'Étape großen Anteil am Aufstieg hatte, wurde er in der darauffolgenden Saison durch mehrere Verletzungen ausgebremst. Nach Ende der Leihe war das Kapitel Racing auch für ihn wieder beendet.
"Das ist Teil der Arbeit - und die Spieler verstehen das auch", meint der heutige Racing-Trainer Thierry Laurey, der seit dem Zweitliga-Aufstieg gravierende Kaderänderungen mitverantwortet hat.
Gerade als der Verein von der Ligue 2 in die höchste Spielklasse aufgestiegen sei, habe er sich von verdienten Spielern trennen müssen, "weil wir die Mannschaft besser aufstellen mussten".
Liénard und Grimm als Identifikationsfiguren
Was für ihn wichtig ist: "Hier in Straßburg gibt es eine ganz spezielle DNA: Die Fans wollen Spieler sehen, die sich mit dem Verein identifizieren. Unsere Aufgabe war und ist es, Spieler von außerhalb zu finden, die diesem Profil entsprechen."
Dass die Identifikationsfiguren Liénard und Grimm noch immer zum Team gehören, spielt laut Peter Cleiß eine wichtige Rolle für die Racing-Anhänger, "aber grundsätzlich wollten die Fans zurück in die 1. Liga und waren bereit hinzunehmen, dass sich dafür die Gesichter in der Mannschaft immer wieder wandeln".
Venturini spielt inzwischen in Deutschland für den Oberligisten SV Linx, Benedick beim französischen Drittligisten Villefranche-sur-Saône - und beide hegen keinen Groll gegen ihren Jugendverein. Im Gegenteil.
"Straßburg ist meine Geburtsstadt, Racing ist mein Jugendverein, ich bin schon als kleiner Junge ins Stadion gegangen. Einen Teil zur Auferstehung des Vereins beitragen zu können, hat mich unendlich stolz gemacht", erzählt Benedick.
Auch Venturini freut sich, "dass der Verein da steht, wo er heute ist. Es ist schön, wieder einen großen Verein in Straßburg zu haben."
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Mit den Europa-League-Playoffs gegen Eintracht Frankfurt hat in Straßburg eine neue Zeitrechnung begonnen. Die Ära der Auferstehung ist vorbei, der Blick geht nach vorne.
Seitdem Ex-Profi Marc Keller den Verein im Sommer 2012 als Präsident gemeinsam mit zehn anderen Investoren für den symbolischen Preis von einem Euro übernommen hat, gehören auch die finanziellen Sorgen der Vergangenheit an.
"Marc Keller ergänzt die Begeisterung und Leidenschaft der Fans und den großen Rückhalt in der elsässischen Bevölkerung mit einem großen Know-how in Sachen Fußballmanagement", lobt Peter Cleiß.
Racing entwickelt sich zum PSG-Schreck
In den letzten Jahren sind einige Aktionäre hinzugekommen, einen Mäzen oder Großinvestor gibt es in Straßburg aber weiterhin nicht. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit setzt Racing mehr denn je auf Stabilität.
Was aber ist für den Verein in den kommenden Jahren möglich?
Zur Orientierung: Mit einem Budget von rund 45 Millionen Euro rangieren die Elsässer im unteren Mittelfeld der Ligue 1, Paris-Saint Germain hat deutlich mehr als das Zehnfache zur Verfügung. Und doch haben die Straßburger seit ihrem Aufstieg als einziger Verein in vier Liga-Spielen eine ausgeglichene Bilanz gegen das Starensemble aus der Hauptstadt.
Ob ein Coup wie die Meisterschaft vor 40 Jahren in näherer Zukunft denkbar ist? "Wer die Geschichte von Racing Straßburg kennt, muss sagen: Es gibt Wunder im Fußball. Sie sind sehr selten, aber ich denke, sie passieren immer wieder - und genau darauf hofft man", beschreibt Cleiß die Gemütslage rund um den Traditionsverein.
Thierry Laurey warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen. "Wir haben den Willen, Jahr für Jahr zu wachsen. Wir wissen aber, dass es Phasen geben wird, in denen die Dinge etwas mehr Zeit brauchen", prophezeit Straßburgs Trainer auch Rückschläge.
Oberstes Ziel sei der Klassenerhalt - und dann werde man sehen, "ob wir unserer Saison in den Pokalwettbewerben oder in der Europa League ein bisschen Würze hinzufügen können". Beim 1:0-Sieg im Hinspiel gegen die Eintracht ist seiner Mannschaft das schon einmal hervorragend gelungen.
Aber auch abseits des Platzes gibt es noch die eine oder andere Baustelle. "Man merkt schon, dass wir noch nicht solange wieder im Profigeschäft sind", sagt Racing-Fan Philipp Le Provost. Unter anderem bei der Organisation des Ticketings gebe es noch Luft nach oben.
Auch in Sachen Kommerzialisierung bewegt sich der Racing wie jeder Traditionsklub auf einem schmalen Grat. Der jüngste Ausrüsterwechsel von Hummel zu Adidas rief in Fankreisen gemischte Reaktionen hervor.
Stadionausbau in der Meinau steht bevor
Das größte nicht-sportliche Thema aber ist derzeit das Stadion: Das seit 1914 mehrfach renovierte Stade de la Meinau versprüht zwar viel Charme, ist aber in die Jahre gekommen - und mit rund 26.000 Plätzen (24.000 in internationalen Wettbewerben) nicht das größte.
Für rund 100 Millionen Euro soll es von 2021 bis 2024 umgebaut und auf rund 32.000 Plätze erweitert werden, mit deutlich mehr VIP-Logen als bisher. "Wir wollen das Stadion von morgen mit der Stimmung von heute", verkündete Vereinspräsident Marc Keller bei der Vorstellung der Umbaupläne.
Mit der Qualifikation für die Gruppenphase der Europa League könnte der Verein weiter Werbung bei Sponsoren und Investoren betreiben, für Laurey ist das Duell mit den Frankfurtern aber schon vor dem Rückspiel ein voller Erfolg.
"Egal, ob wir uns am Ende qualifizieren oder nicht - die Fans werden sich immer an dieses Hinspiel erinnern, weil da eine tolle Stimmung war, weil es ein super Spiel war und weil alles gegeben war, um ganz besondere Emotionen zu erleben."
Das sieht auch Markus Bernhard so, der verspricht, dem Verein die Treue zu halten, "egal, ob in der 1. oder in der 5. Liga".
Währenddessen träumt Jean-Michel Boulois schon von ganz anderen Sphären. "Champions-League-Sieger? Natürlich! Racing kann das schaffen - und wir werden es schaffen. Uns kann nichts passieren", verkündet der Elsässer selbstbewusst - und fügt beinahe philosophisch hinzu: "Wenn du weißt, woher du kommst, dann weißt du auch, wo du hingehst."
In Straßburg haben sie nicht vergessen, wo sie herkommen. Beim Namen Forbach weiß jeder echte Fan sofort, wovon die Rede ist: 5. Liga, 600 Zuschauer, ein verregneter Abend vor acht Jahren.
Am Donnerstagabend spielt Racing wieder im Europapokal. Vor knapp 50.000 Zuschauern in der Frankfurter Arena. Und ob es regnet, werden die Straßburger Fans vor lauter Euphorie vermutlich gar nicht mitbekommen.