Tony Woodcock ist eine England-Legende. Zwischen 1978 und 1986 trug er das Trikot der Three Lions. Seine erfolgreichste Zeit als Spieler war von 1982 bis 1986 beim FC Arsenal.
"Würde Müller und Gnabry einbürgern"
Zuvor trug er unter anderem auch zwei Jahre das Trikot des 1. FC Köln. Für Eintracht Frankfurt arbeitete Woodcock auch mal als Sportdirektor. Auf den Klassiker England gegen Deutschland (EM 2021, Achtelfinale: England - Deutschland am Dienstag ab 18 Uhr im LIVETICKER) freut er sich besonders.
Im SPORT1-Interview spricht der 65-Jährige über beide Nationen, Wembley und verrät eine Anekdote.
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SPORT1: Herr Woodcock, England gegen Deutschland. Ist das für Sie ein vorweggenommenes Endspiel?
Tony Woodcock: Es wäre schön, wenn es das Finale gegen Deutschland wäre. Das sind meine beiden Mannschaften, England ist natürlich meine Nummer eins und Deutschland Zweiter. Aber ein Endspiel mit beiden Nationen kann es nun nicht werden. Das wäre unglaublich geworden, besonders in Wembley. Dieses Duell ist der Klassiker im Achtelfinale. Und jeder hofft, dass dieses Duell hält, was es verspricht.
SPORT1: Wie sehen Sie die Machtverhältnisse vor diesem Klassiker?
Woodcock: Machtverhältnisse klingt so belastend. Es ist ein extrem wichtiges Spiel für beide Nationen. Der Gewinner wird einen großen Schritt auf dem Weg zum Finale machen. England hat bei dieser EM nicht immer gut gespielt über die vollen 90 Minuten, also nicht komplett überzeugt. Es gab aber die eine oder andere Phase, in der sie sehr gut gespielt haben. Und die Deutschen mussten viel einstecken von den Fans und der Presse. Das Spiel bietet beiden Teams eine Riesen-Möglichkeit zur Wiedergutmachung.
Kritik an Foden, Kane und Co.
SPORT1: Zwar haben die Three Lions in der Gruppenphase keinen Gegentreffer kassiert, aber gerade die hoch gelobte Offensive hat nicht geliefert?
Woodcock: Bis jetzt hat mich die Offensive nicht überzeugt. Die jungen Leute wie Raheem Sterling, Harry Kane, Phil Foden oder Jadon Sancho können Fußball spielen. Aber sie haben bisher nicht die beste Leistung gebracht. Doch alle wissen, dass mehr in ihnen steckt.
SPORT1: Gibt es sie noch die traditionelle Angst vor den Deutschen?
Woodcock: Angst ist hier das falsche Wort. Es gab immer einen großen gegenseitigen Respekt von beiden Nationen über viele Jahre. Es gibt einige Spieler im Kader von England, die waren 1996 noch nicht auf der Welt. Sie kennen die Tradition dieses Duells also nicht, haben aber sicher von ihren Eltern davon gehört. Es ist Länderspiel-Klassiker, den sich jeder Fußballfan wünscht. England gegen Deutschland und dann noch in Wembley. Mehr geht eigentlich nicht.
SPORT1: Es werden 45.000 englische Fans im Stadion sein. Wegen Corona dürfen keine deutschen Zuschauer dabei sein. Ist das ein deutlicher Vorteil für England?
Woodcock: Nein. Viele Experten sagten vor dem Turnier, dass England sechs oder sieben Partien in Wembley spielen wird. Aber jeder Fußballer liebt es, in dieser Arena spielen zu können. Und besonders natürlich gegen England. Das pusht dich als Fußballer - auch ohne eigene Zuschauer.
SPORT1: Worauf muss England aufpassen?
Woodcock: Auf das deutsche Kollektiv. Die Deutschen sind wie ein angeschossenes Tier. Jeder in England weiß, dass im Kader von Joachim Löw sehr gute Spieler sind. Und sie können besser spielen als gegen Ungarn, das hat man gegen Portugal gesehen. In 90 Minuten können die Deutschen alles gut machen, was in den vergangenen Monaten schlecht war. Das macht das Spiel so gefährlich.
Woodcock nennt Englands Schwachstelle
SPORT1: Wo sehen Sie Stärken und Schwächen von England?
Woodcock: Wenn wir mit Risiko spielen, ist der Schwachpunkt unsere Abwehr. Unser Sturm und das Mittelfeld dagegen sind wirklich gut. Wir haben da schnelle Jungs in der Mannschaft, die ohne Risiko richtig gut Fußball spielen können. Wenn wir gegen ein Topteam spielen, könnte das schwierig werden für unsere Defensive. Aber wir wissen auch, dass die deutsche Abwehr etwas langsam ist. Dies vielleicht nur in den Beinen und nicht im Kopf. (lacht)
SPORT1: Welche Stärken und Schwächen sehen Sie im DFB-Team?
Woodcock: Sie haben keinen Superstar mehr wie früher. Damals gab es Karl-Heinz Rummenigge, Klaus Allofs, Klaus Fischer oder meinen alten Kumpeln Pierre Littbarski. Die Deutschen haben keinen, der wie diese Jungs damals auf ganz hohem Niveau Tore schießen konnte. Aber sie funktionieren als Kollektiv. Thomas Müller und Hummels sind zurückgekommen und das war eine gute Entscheidung. Denn die zwei haben viel Erfahrung bei großen Turnieren und sie haben lange auf hohem Niveau gespielt. Dazu gibt einige starke, junge Spieler, die immer gefährlicher werden. Wieder kann man hier eine Parallele zu England ziehen.
SPORT1: Aber wo haben die Three Lions die Nase vorn?
Woodcock: Individuell hat unsere Mannschaft einen kleinen Vorteil. Wir haben Foden, er ist so ein toller Fußballer. Und Jack Grealish, er spielt sehr selbstbewusst und arrogant und ist der meist gefoulte Spieler in der Premier League. Er geht immer eins gegen eins oder sogar eins gegen zwei. Seine Waden sind wie unsere Oberschenkel. Grealish ist sehr schwer vom Ball zu trennen, außer durch ein Foulspiel.
SPORT1: Die DFB-Elf hatte Glück gegen Ungarn. Bei Instagram hatte Thomas Müller ein Video hochgeladen, dass ihn scherzend mit Joshua Kimmich zeigt. "Locker ins Achtelfinale geschaukelt", sagt Müller in dem Video. Ein kleiner Arroganz-Anfall?
Woodcock: Ich würde hier nicht von Arroganz sprechen. Sie wissen, wo es lang geht. Sie haben gewusst, dass sie 20 Minuten vor dem Abpfiff raus waren aus dem Turnier. Aber dann haben sie zurückgeschlagen. Vielleicht war das Video auch die pure Erleichterung.
Woodcock hatte "ein Mal den Adler auf der Brust"
SPORT1: Sie haben auch mal für Deutschland gespielt. Was hat diese Spiele ausgezeichnet?
Woodcock: Das waren immer besondere Spiele, nicht nur, weil es Deutschland war. Ich habe insgesamt fünf Jahre beim 1. FC Köln gespielt und viele meiner Freunde waren im deutschen Team. Ich habe im Abschiedsspiel von Didier Six für Deutschland gespielt. Wir waren auf dem Weg zu zwei Spielen der Europa-Auswahl, und ich fuhr mit Klaus Fischer und Rüdiger Abramczik. Das Auto von Rüdiger war gestohlen worden.
SPORT1: Gestohlen?
Woodcock: Ein ganz besonderer Renault, den er vor dem Mannschaftshotel geparkt hatte. Alles war zunächst weg, unsere Klamotten, unsere Schuhe und dann waren wir zu spät für das erste Spiel. Es war alles durcheinander, sie haben das Auto dann wieder gefunden und wir mussten zur Polizei. Aber wir waren zu spät. Jupp Derwall sagte damals zu mir "Okay, Tony wir kennen dich, du kannst für Deutschland spielen". Ich hatte also ein Mal den Adler auf der Brust und habe für Deutschland gespielt. Sie haben es damals erlaubt, dass ein Engländer für Deutschland spielen darf.
SPORT1: Und das war für Sie besonders?
Woodcock: Ja. Für mich war ein Spiel gegen Deutschland immer wie gegen meine Freunde zu spielen. Da waren einmal sechs Spieler vom 1. FC Köln in der Kabine von Deutschland vor einem Länderspiel und sie holten mich vor dem Anpfiff rein. Ich hatte immer eine enge Verbindung zu Deutschland, habe viele alte Kumpels und gute Freunde aus dieser Zeit und bin immer noch verbunden mit Deutschland und der deutschen Nationalmannschaft. Jeder denkt natürlich an das große Spiel 1966, weil das unser einziger Weltmeistertitel ist.
Woodcock: "Müller ist immer gut für ein Tor"
SPORT1: Welchen deutschen Spieler würden Sie gerne einbürgern?
Woodcock: Das ist eine spannende Frage. Es gibt einige gute deutsche Spieler. Thomas Müller zum Beispiel ist immer gut für ein Tor und bei ihm muss man im Strafraum höllisch aufpassen. Dann gibt es noch Serge Gnabry. Er hat es bei Arsenal leider nicht geschafft, hat dann aber seinen Weg gemacht und spielt auf einmal für Deutschland. Er ist inzwischen ein hochinteressanter Spieler. Muss ich mich festlegen? 0kay, ich würde Müller und Gnabry einbürgern. Beide würden gut passen.
SPORT1: Können Sie die Entscheidung von Musiala für Deutschland und gegen England verstehen?
Woodcock: Jeder muss für sich selbst entscheiden, was gut für ihn ist. Er hat sich nun für Deutschland entschieden. Ich werde den Jungen nicht umstimmen können. Schade, aber so ist es. Wir sehen viele junge Engländer, die spielen in der Bundesliga wie Sancho oder Bellingham, die beide bei Borussia Dortmund unter Vertrag stehen. Das ist gut für die sportliche Ausbildung. Sie machen ihre Sache in Dortmund gut.
SPORT1: Wie sehen Sie die Ignoranz von Gareth Southgate bei Jadon Sancho?
Woodcock: Ich glaube nicht, dass er Sancho ignoriert. Southgate hat einen hochwertigen Kader von vielen guten Spielern und auf der rechte Seite spielt auch Foden, der bisher alle erfreut. Ich könnte mir vorstellen, dass der Trainer denkt, Sancho zu bringen, wenn etwas Besonderes passiert. Er wird womöglich gebraucht, wenn das Spiel nicht wie gewünscht läuft. Wartet ab, Sancho kommt gegen die Deutschen rein und dreht das Spiel. Fußball ist ein Mannschaftssport. Jeder weiß, dass Sancho ein toller Spieler ist. Aber es gibt viele tolle Spieler bei den Three Lions.
Elfmeter-Angst "wirklich kein Thema"
SPORT1: In Englands Zeitungen gibt es auf den Sportseiten nur noch ein Thema. Die bitteren Episoden bei der WM 1990 und bei der EM 1996 werden wieder aufgerollt, als die Engländer stets nach guter Leistung im Elfmeterschießen an Deutschland scheiterten.
Woodcock: Das ist wirklich kein Thema für unsere Mannschaft. Die Elfmeter-Dramatik gehört der Vergangenheit an. Am Dienstag gewinnt England nach einem tollen Spiel im Elfmeterschießen. (lacht) Es ist wie gesagt schade, dass es nicht das Endspiel ist. Irgendwann dreht sich das Blatt und dann gewinnen wir ein Elfmeterschießen. Dienstag ist die beste Gelegenheit dazu. Southgate wird seine Jungs im Kopf klar machen und es wird nicht einfach, aber er macht sich nicht verrückt wegen der Vergangenheit. Er wird auch nicht extra Strafstöße üben lassen. Vergesst das mit 1990 und 1996.
SPORT1: Was macht den Mythos Wembley aus?
Woodcock: Am Dienstag wird im neuen Wembley gespielt, das alte war für jeden, der Fußball liebt, ein unglaubliches Erlebnis. Das neue Stadion ist eines der Stadien, wo jeder Fußballer einmal spielen möchte. Von solchen Stadien gibt es in der Welt nur eine Hand voll. Die Deutschen werden in Wembley besonders motiviert sein. Da spielt es auch keine so große Rolle, dass wegen Corona ihre Fans nicht dabei sein dürfen. Das wird kein Problem für Deutschland, sie sind mental sehr stark. Es ist einfach schade, dass Wembley nicht voll sein wird. Eins ist klar: Wenn eine große Karriere vorbei ist, musst du eigentlich einmal dort gespielt haben.
SPORT1: Sie haben früher beim 1. FC Köln gespielt. Wenn England nicht EM-Sieger wird, wäre Deutschland dann Ihr Wunsch-Gewinner des Turniers?
Woodcock: Ja. Das Allerbeste wäre, England gewinnt nach einem 3:3 in der regulären Spielzeit im Elfmeterschießen. Aber wenn die Deutschen gewinnen sollten, dann sollen sie auch in das Endspiel kommen und dieses für sich entscheiden. Doch Wembley kann für die deutsche Elf auch zur Endstation werden.