Die letzten Sekunden vergingen so langsam auf der Uhr. Eigentlich hätte sich alles auf das Geschehen auf dem Rasen des Stade de France konzentrieren müssen, doch das war beinahe unmöglich bei dem, was sich an der Seitenlinie abspielte.
Ronaldo von der Hölle in den Himmel
Da stand er, Cristiano Ronaldo, Portugals Superstar, mit dick bandagiertem Knie und humpelte so schnell es eben noch ging von rechts nach links. Seite an Seite mit Trainer Fernando Santos brüllte er die letzten Anweisungen ins Feld, gestikulierte, schlug immer wieder die Hände vors Gesicht. Er schleppte sich sogar bis in die Coaching Zone der Franzosen, um mit dem vierten Offiziellen zu diskutieren.
Als der erlösende Schlusspfiff von Schiedsrichter Mark Clattenburg um 23.33 Uhr durch die Nacht von Saint-Denis hallte, sank Ronaldo einfach nur zu Boden und weinte in den Armen eines Betreuers Tränen der Freude. "Ich bin überglücklich. Ich habe sehr lange darum gekämpft, seit 2004. Das ist einer der glücklichsten Momente meiner Karriere", sagte der Real-Profi: "Ich habe mir das verdient."
Zwölf Jahre nach dem verlorenen Heim-Finale bei der EM 2004 gegen Griechenland hat sich der dreimalige Weltfußballer seinen Lebenstraum doch noch erfüllt. Und das nach dem größtmöglichen Drama.
"Ronaldos Aus war hart"
Gut zwei Stunden zuvor lag Ronaldo nämlich schon einmal weinend auf dem Rücken. Frankreichs Dimitri Payet hatte in bei einem Zweikampf böse am linken Knie getroffen. Ronaldo probierte alles, musste nach 25 Minuten aber einsehen, dass es nicht mehr weitergeht und unter Tränen auf der Trage abtransportiert werden.
Kaum einer hätte in diesem Moment wohl noch irgendetwas auf Portugal gegeben. Zumal die Franzosen in diesem Finale lange Zeit die bessere, die aktivere Mannschaft waren. Während Ronaldo in der Kabine behandelt wurde, warfen sich seine Kollegen in jeden Schuss der Franzosen, schafften es, sich immer mehr ins Spiel reinzubeißen.
"Ronaldos Aus war hart, wir haben unseren wichtigsten Spieler verloren. Einen, der jederzeit ein Tor erzielen und den Unterschied ausmachen kann", sagte Abwehrchef Pepe: "Gott hat uns geholfen. Wir wollten für ihn gewinnen, und wir haben es geschafft."
Andere springen in die Bresche
In der zweiten Halbzeit war Ronaldo wieder auf der Bank, munterte die Kollegen vor der Verlängerung auf und litt an der Seitenlinie mit, wie vielleicht niemals zuvor. Der Triumph Portugals ist die Pointe unter einem kuriosen Turnier. In sieben Spielen haben es die Portugiesen sechs Mal nicht geschafft, nach 90 Minuten das Spiel zu gewinnen – und am Ende stehen sie doch ganz oben.
Weil die Mannschaft einen riesigen Zusammenhalt gezeigt hat und eben längst mehr ist als nur eine Ansammlung von Statisten rund um Ronaldo. Renato Sanches zum Beispiel: Der Neuzugang des FC Bayern wurde zum besten jungen Spieler des Turniers gewählt – dritter in dieser Wertung: Raphael Guerreiro, der künftig in Dortmund spielt.
"Ronaldo ist sehr wichtig, aber wir haben andere gute Spieler", sagte Sanches euphorisch nach dem Titelgewinn.
Santos der Vater des Erfolgs
Und sie haben einen Trainer, der von Anfang an einen klaren Plan hatte. "Das Ziel, das ich ausgegeben habe, ist, den EM-Titel zu gewinnen", sagte Fernando Santos – im April 2015. Diesen Glauben an den Erfolg hat er den oft kurz vor dem Ziel gescheiterten Portugiesen eingeimpft.
Unter ihm haben sie noch kein Pflichtspiel verloren. Santos schert sich nicht darum, dass viele Kritiker seinen Fußball als unansehnlich einstufen. Und er hat ein wahnsinnig gutes Gespür für das Spiel.
Als er merkte, dass die Franzosen der Schwung verlässt, brachte er zehn Minuten vor Ende der regulären Spielzeit mit Eder einen Stürmer für Sanches, einen Mittelfeldspieler. Santos witterte die Chance, Eder traf.
Ronaldo angeblich mit Innenbandzerrung
Noch bevor Ronaldo den Pokal in den Nachthimmel stemmen konnte, warfen er und die Kollegen Santos in die Luft. Sie wissen, dass sie ihm diesen Titel zu verdanken haben. Denn Talent hatten sie auch früher schon.
Ronaldo hat sich laut ersten Berichten eine Innenbandzerrung im linken Knie zugezogen. Er selbst bezeichnete die Blessur als "kleine Verletzung". Im Urlaub wird er sich mit einem breiten Grinsen und in Erwartung seines vierten Weltfußballer-Titels auskurieren können.
Die zwei Stunden zwischen Himmel und Hölle und Saint-Denis werden er und viele Portugiesen niemals vergessen.