Der Boss findet nicht, dass Krise ist. An der Stelle fängt schon mal alles an.
Woran Oranjes Fußball krankt
"Nein, es ist keine Krise", sagte Bert van Oostveen, Vorstandschef des niederländischen Fußballverbands KNVB im September noch allen Ernstes. Nicht vor, sondern nach den Pleiten gegen Island und die Türkei. Den Pleiten, nach denen die niederländische Nationalmannschaft das EM-Aus schon nicht mehr aus eigener Kraft verhindern konnte.
Kann sein, dass die Elftal an diesem Abend nochmal davonkommt. Dass sie Tschechien im letzten Qualifikationsspiel schlägt (ab 20.15 Uhr im LIVETICKER), dass der Gruppenerste Island zugleich Konkurrent Türkei besiegt. Dann wären Arjen Robben und Kollegen zumindest noch Dritter, kämen in die Playoffs, alles wäre noch zu retten.
Ein dünner Strohhalm, an dem nun vieles hängt. Reißt er, wird vielleicht auch Bert van Oostveen zugeben müssen, dass Krise ist. Und zwar eine Krise, die das Selbstverständnis des niederländischen Fußballs in Frage stellt.
"Das Problem ist die Arroganz"
Es ist ja nicht nur das drohende Verpassen der Europameisterschaft. Es ist ein genereller Bedeutungsverlust, von dem die Erfolge des Nationalteams lange abgelenkt haben.
Seit acht Jahren hat kein niederländischer Klub mehr die Gruppenphase der Champions League überstanden. Der internationale Glanz von Ajax Amsterdam, Feyenoord Rotterdam, PSV Eindhoven: verblasst.
Die niederländische Schule hat ihre Vorbildwirkung für den Rest Europas verloren - und nicht jeder im Land scheint es bemerkt zu haben.
"Das Problem ist die Arroganz", findet der niederländische Fußballjournalist Elko Born: "Der niederländische Fußball glaubt schlauer zu sein als der Rest der Welt. Aber er ist es nicht mehr."
Verblasster Ruhm der Siebziger und Neunziger
Born schreibt für den Daily Telegraph, den Mirror, ESPN und zahlreiche andere Portale über den niederländischen Fußball. Er ist Ende 20, Ajax-Fan und geprägt von den sportlichen Errungenschaften seines Landes.
"Der niederländische Fußball war etwas Besonderes", weiß Born: "Das Spiel war klüger als das vieler anderer." So war es in den frühen Siebzigern, als der Europapokal der Landesmeister viermal in Folge in sein Land ging, der WM-Titel 1974 fast auch noch. Als Johan Cruyff die Ideen des voetbal total in die Welt trug.
So war es auch noch in den Neunzigern, als Ajax Amsterdam das bislang letzte Mal den europäischen Thron bestieg, 1995 unter Louis van Gaal. Zwanzig Jahre her.
Es hat sich einiges getan seitdem, die Konkurrenz ist besser und (finanz-)mächtiger geworden. Und Born vermisst bei vielen Landsleuten die Bereitschaft, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen: "Die anderen Ländern haben von den Niederlanden gelernt, die Niederlande aber nicht genug von den anderen Ländern."
Nur die Abweichler hatten Erfolg
Die kleine Fußballnation, die mit ihren Ideen einst die Welt verändert hat, ist konservativ geworden, auf eine verhängnisvolle Art und Weise.
Speziell bei älteren Fans und Experten beobachtet Born ein Festklammern an die Ideale der guten alten Zeit, an das schöne, das offensive Spiel - obwohl die Niederlande zuletzt nur dann Erfolg hatten, wenn sie davon abwichen.
Man denke an die WM 2010, als Bert van Marwijk seine Mannschaft um die nicht so schön und offensiv spielenden Nigel de Jong und Mark van Bommel aufbaute und fast den Titel holte. Auch van Gaal setzte 2014 auf defensiven Pragmatismus, führte sein Team damit bis auf Platz 3.
Man könnte das als respektable Erfolge verbuchen. In den Niederlanden gab es stattdessen Verrisse über "Polder-Catenaccio" und "Investorengesellschaftsfußball" zu lesen, über eine "Beleidigung der holländischen Schule". Defensivfußball, das macht man nicht.
Ein Trainerproblem
Ebenjene Kritiker dürfte van Gaals Nachfolger Guus Hiddink im Ohr gehabt haben, als er den Systemwechsel von van Gaals 5-3-2 auf das offensive, ballbesitzorientierte 4-3-3 verordnete. Er scheiterte, warf hin, Nachfolger Danny Blind agiert bislang ebenso glücklos.
Obwohl van Oostveen Blind soeben eine Beschäftigungsgarantie auch über das drohende EM-Aus gegeben hat: Es sieht nicht so aus, als ob der einstige Ajax-Libero die Lösung für das seit langem schwelende Trainerproblem ist.
Aus der Generation nach den Ü-60-Coaches van Gaal, Hiddink und Dick Advocaat hat sich bis heute nicht der Bondscoach der Zukunft herauskristallisiert - nicht ohne Grund wurden alle drei genannten noch je ein zweites Mal in den Job berufen.
"Vielleicht ist es Ronald Koeman", sagt Born: "Er ist etwas flexibler, hat Erfahrung und Erfolge als Blind." Der Europameister von 1988 hat als Klubtrainer diverse Titel gewonnen, führte zuletzt den FC Southampton auf einen respektablen siebten Platz in der Premier League. Van Oostveen hat ihn aber bislang immer übergangen.
"Siegermentalität spielt keine große Rolle"
Egal welcher Trainer künftig auf der Oranje-Bank sitzt: Schnelle Besserung ist nicht in Sicht. Die Leistungsträger Robben, Robin van Persie und Wesley Sneijder kommen in die Jahre, die Talente wie Memphis Depay und Georginio Wijnaldum brauchen noch Zeit - in der Altersgruppe dazwischen klafft eine Lücke.
Aus Borns Sicht muss der niederländische Fußball Grundsätzliches überdenken. Seine Idee, dass schön Spielen im Zweifel wichtiger ist als Gewinnen habe schon in der Nachwuchsarbeit einen negativen Effekt.
"Das Thema Siegermentalität spielt da keine große Rolle", sagt er: "Alles zielt auf die persönliche und die technische Entwicklung." Die sei auch wichtig, das nicht falsch verstehen, "aber es ist ein Problem, wenn ein erwachsener Spieler als Jugendlicher nie das Gewinnen-Wollen eingeflößt bekommen hat."
Es sei Zeit, da von anderen Ländern zu lernen, unter anderem auch von Deutschland.
Besserung gelobt, aber...
Die Schlusspointe ist nun die, dass KNVB-Boss van Oostveen das prinzipiell schon verstanden hat.
Erst Ende vergangenen Jahres berief er einen großen Trainerkongress ein, in dem er selbst und andere genau das vortrugen, was aus Sicht der Kritiker zu tun wäre: mehr Defensive wagen, mehr Siegermentalität, mehr von den anderen Ländern lernen.
Was aus Borns Sicht dabei aber wieder typisch war: Experten aus dem Ausland wurden auf den Kongress in Utrecht nicht eingeladen.
Auch in dem Moment, in dem der niederländische Fußball gelobte, von anderen Ländern lernen zu wollen, war er unter sich.