In England geht die Elfer-Angst um!
Southgate: "Ich habe versagt"
Trotz zweier 1:0-Siege und einem 0:0 in der Vorrunde sorgen sich die Fans der Three Lions vor dem Achtelfinal-Kracher am Dienstag in Wembley vor Deutschland. "Die Vorfreude auf das Spiel ist in unserem Land riesig", sagt Rob Draper im Gespräch mit SPORT1: "Aber wir müssen ehrlich sein: Wir haben auch ein bisschen Angst vor euch Deutschen." (EM 2021, Achtelfinale: England - Deutschland, Dienstag ab 18 Uhr im LIVETICKER)
Draper ist Fußball-Chef der Mail on Sunday, einem Ableger der Daily Mail, und begleitet die englische Nationalmannschaft schon seit Jahren. Zurzeit berichtet der Reporter hautnah vom England-Quartier im St. George's Park. Das nationale Fußballzentrum des englischen Verbandes (FA) liegt in Burton upon Trent, rund zweieinhalb Autostunden von Wembley entfernt.
In England geht wenige Stunden vor dem Kracher die Elfer-Angst um! "A date with destiny" – eine Verabredung mit dem Schicksal nannte die Daily Mail die Neuauflage des Klassikers.
Sieben Mal trafen England und Deutschland bei großen Turnieren aufeinander. Vier Mal ging das DFB-Team als Sieger vom Platz, zwei Mal England.
In den Köpfen der Engländer bleiben bis heute die Elfmeterschießen in den Halbfinals bei der WM 1990 in Rom und der EM 1996 in Wembley hängen – beides Mal gewann Deutschland und holte hinterher den Titel.
EM 2021: Southgate lässt seit September Elfmeter trainieren
Einer, der 1996 dabei war, ist Gareth Southgate. Der heute 50 Jahre alte Nationaltrainer verschoss vor 25 Jahren in Wembley den entscheidenden Elfmeter gegen den heutigen Torwarttrainer Andreas Köpke. "Ich habe unter Druck versagt", sagte Southgate kürzlich: "Alle haben darunter gelitten. Das habe ich mehr als 20 Jahre mit mir herumgetragen."
Seit September 2020 lässt Southgate deshalb bei der Nationalmannschaft Elfmeter trainieren. Die Misserfolge im Elfmeterschießen haben ihn, aber auch den britischen Verband sogar dazu veranlasst, dem Trauma tiefgründig nachzugehen.
Im St. George's Park, das laut Draper quasi wie eine "University of English Football" ist, gibt es die größte Fußball-Bibliothek des Landes. "Die Leute haben sich gefragt: Was zur Hölle müssen wir endlich machen, damit wir auch mal im Elfmeterschießen gewinnen und bestenfalls in ein Finale kommen?"
So entstanden in den vergangenen Jahren etliche Dossiers und wissenschaftliche Arbeiten, die das Elfmeterschießen welches/von wem bis ins Detail beleuchten: Vom psychologischen Aspekt bis hin zum Anlaufverhalten. "Wir haben die größten Untersuchungen im Elfmeterschießen weltweit", sagt Draper. Aus diesen Dissertationen soll sich auch Southgate, dessen verschossener Elfmeter in diesen Tagen in England natürlich rauf und runtergespielt wird, bedient haben.
England stellt Elfer-Ranking auf
Southgate lässt seit fast einem Jahr im Training Elfmeter üben. Aber nicht einfach so. Der frühere Innenverteidiger versucht die Wettkampfsituation im Training bestmöglich nachzustellen. "Ich habe vor kurzem mit Nationalspieler John Stones, dem Abwehrchef von Manchester City, gesprochen und er hat uns bestätigt, dass Southgate das Elfmeterschießen sehr spielgetreu nachsimuliert", sagt Draper: "Die Spieler stehen sogar wie im richtigen Spiel zusammen am Mittelkreis und machen den vollen Gang bis zum Punkt. Sie wissen genau, was sie zu tun haben. Wir haben schon noch Angst vor Deutschland aufgrund der Geschichte – aber dieser Tage sind wir wieder etwas zuversichtlicher."
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Der Coach der Three Lions soll sogar mit seinem Assistenten Steve Holland im Laufe der vergangenen Monate eine Art Rangliste aufgestellt haben, die dabei helfen soll, die besten Schützen herauszufinden.
Vor der WM 2018 hatten die Engländer sechs der sieben Elfmeterschießen in großen Turnieren verloren. Nur bei der EM 1996 gegen Spanien hatten sie das bessere Ende für sich. In Russland siegten die Engländer dann gegen Kolumbien nach Elfmetern.
Southgate will Rache
Mit dem Trauma hat Southgate mittlerweile leben gelernt. Er will Rache gegen Deutschland: "Das Halbfinale ist unser Ziel", sagt er selbstbewusst.
Übrigens: Die Stimmung im englischen Camp im St. George's Park soll ausgelassen gut sein. Die England-Stars spielen in ihrer Freizeit viel Darts und Basketball. Sogar Superstar Ed Sheeran schaute vorbei und gab unter freiem Himmel beim bei einem Barbecue ein Privatkonzert. "Die Atmosphäre ist sehr cool", berichtet Draper.
"Wir Engländer haben Deutschland als Vorbild genommen. Ihr habt 2014 im Campo Bahia den Grundstein für den Erfolg gelegt. In St. George's Park wird sehr auf die Bedürfnisse der Spieler geachtet. Die FA hat sich in dieser Sicht von den Deutschen inspirieren lassen."
Wie sieht Draper die Chancen beider Mannschaften? "50 zu 50. Das ganze Land steht hinter der Mannschaft. Es ist die große Chance, dieses Deutschland-Ding mit den Elfmetern endlich hinter uns zu lassen."
Wenn es am Ende wieder nicht klappen sollte: Southgate und ganz England könnte man nicht vorwerfen, sie hätten es nicht versucht…