Marc-André ter Stegen mag keine Verlängerungen.
Ter Stegen: So denke ich über Neuer
Als er darüber spricht, muss der 29 Jahre alte Nationaltorwart lachen. Zuletzt hat Schiedsrichter José María Sánchez Martínez am vergangenen Sonntag fünf Minuten draufgepackt, beim so wichtigen 3:2-Auswärtssieg des FC Barcelona beim FC Valencia.
Im einstündigen Interview mit SPORT1, in dem sich der gebürtige Mönchengladbacher mehr Zeit nimmt als geplant, geht ter Stegen aber bereitwillig in die Nachspielzeit. Denn Ter Stegen gibt selten Interviews. Jetzt hat er einiges zu erzählen. Auch in Teil zwei. (Marc-André ter Stegen im Interview: Hier geht es zu Teil eins über den FC Barcelona und die Super League)
Die unangefochtene Nummer Eins der Katalanen und aktuelle Nummer zwei im DFB-Tor spricht über die EM-Chancen der deutschen Nationalmannschaft, den möglichen Bundestrainer Hansi Flick und dessen Nachfolger Julian Nagelsmann. Erstmals äußert er sich zu den Attacken von Uli Hoeneß 2019.
SPORT1: Herr Ter Stegen, der FC Bayern gewinnt 8:2 gegen den FC Barcelona. Spanien haut Deutschland 6:0 weg. Wie denkt man in Spanien über den deutschen Fußball?
Marc-André ter Stegen: Nach wie vor ist ein großer Respekt vorhanden. Vor allem dafür, was der FC Bayern abgespult hat. Bayern und Dortmund bekommen in Spanien eine große Anerkennung. Und klar, das 2:8 gegen den FC Bayern hat uns wehgetan und in unserer Ehre gekränkt. Das möchte ich gar nicht abstreiten. Wir konnten den FC Bayern in unserer Verfassung zu der Zeit einfach nicht aufhalten. So ehrlich muss ich sein.
SPORT1: Was haben Sie persönlich nach der 0:6-Schande erlebt?
Ter Stegen: Danach gab es viele Fragezeichen, auch hier in Spanien. Viele Kollegen haben mich gefragt: 'Marc, was ist los bei euch? Wie konnte das passieren?'
SPORT1: Ist Deutschland bei der EM 2021 Außenseiter oder Favorit?
Ter Stegen: Niemand schreibt Deutschland ab. Das passiert nicht. Das höre ich in Spanien auch nicht. Dafür hat der deutsche Fußball zu viel Prestige und ein Turnier ist immer etwas anderes. Allerdings sind andere Nationen auf dem Papier zurzeit stärker. Derzeit reihen wir uns etwas weiter unten ein. Aber das schadet uns nicht. Je weniger von uns erwartet wird, desto besser ist es für unsere junge Mannschaft. Wir können bei diesem Turnier nur gewinnen.
SPORT1: Wer ist Ihr persönlicher Favorit auf den EM-Titel?
Ter Stegen: Frankreich hat eine brutal gute Mannschaft, England hat viel Qualität. Es wird auf Kleinigkeiten ankommen. Corona, viele Reisen, verschiedene Länder und Städte – das Turnier wird anders. Es wird wichtig sein, den Wohlfühlfaktor über mehrere Wochen aufrechtzuerhalten. Ich glaube, dass die Mannschaften im Vorteil sein werden, die ihre Basis nahe am Spielort haben und dementsprechend geringere Reisestrapazen haben.
Ter Stegen: Das wünsche ich Neuer
SPORT1: Es wird das letzte Turnier für Bundestrainer Joachim Löw sein. Schweißt es das Team zusammen, ihm einen erfolgreichen Abschied ermöglichen zu wollen? Kann das ein Pluspunkt werden?
Ter Stegen: Wir spielen alle Fußball, um erfolgreich zu sein. Aber klar ist, dass wir ihm alle einen gebührenden Abschied bereiten wollen. Diesen wünscht ihm jeder. Dafür müssen die Spieler auf dem Platz den Unterschied machen. Bekommen wir das als Team hin, kann das eine coole Erfahrung werden, von der wir alle lange zehren. Ob wir dann bis zum Endspiel kommen und das Turnier gewinnen? Da muss vieles zusammenkommen. Wir haben auf jeden Fall das Team dazu, ein erfolgreiches Turnier zu spielen.
SPORT1: Wie pushen Sie sich für so ein Turnier, obwohl Sie wissen, dass Manuel Neuer im Tor gesetzt sein wird?
Ter Stegen: In meinem persönlichen Fall gibt es eben nur diese eine Position. Da kannst du nicht für zehn Minuten reinkommen, um den Unterschied auszumachen. Die Leute wissen, dass ich immer da sein werde, wenn ich gebraucht werde. Auf diesen Moment werde ich vorbereitet sein. Ich werde auf und neben dem Platz Verantwortung übernehmen. Manuel wünsche ich, dass er verletzungsfrei bleibt. Am Ende kommt es sowieso nicht auf eine Personalie an, sondern wir müssen als Team funktionieren. Nur so können wir einen Unterschied machen. Indem das Team lebt und auf der Bank und der Tribüne mitgeht. Wir reden in Corona-Zeiten viel über die sogenannte Mannschaftsblase. Diese muss bei der EM funktionieren und harmonieren.
SPORT1: Wittern Sie nach diesem Turnier die Chance, Manuel Neuer als Nummer eins abzulösen?
Ter Stegen: Jetzt steht erstmal die EM an, aber natürlich denke ich schon darüber nach, was danach passiert. Jeder rechnet sich Chancen aus, dass die Karten neu gemischt werden. Dann liegt es an jedem Einzelnen, ob er sich ins Team spielt oder nicht. In meinem Fall ist es das Gleiche. Ich will mich über den Verein für die Nationalmannschaft beweisen.
Ter Stegen: Das werfe ich Hoeneß vor
SPORT1: Ex-Präsident Uli Hoeneß lederte im September 2019 los und sagte unter anderem, dass Sie keinen Anspruch hätten, in der Nationalmannschaft zu spielen. Er stellte sich damals vehement vor Manuel Neuer, nachdem Sie Ihre Ansprüche auf die Nummer eins formuliert hatten. Wie empfanden Sie seine Attacke?
Ter Stegen: Kann ich Uli Hoeneß wirklich übel nehmen, dass er seinen Torwart verteidigt hat? Nein, kann ich nicht. Eigentlich finde ich es fast schon gut, dass man beim FC Bayern gesagt hat: 'Komm, wir stellen uns hinter unseren Torwart. Koste es, was es wolle.' Die Wortwahl von Uli Hoeneß war aber nicht die Richtige. Das kann ich ihm vorwerfen und das fand ich in diesem Moment nicht lustig. Denn es gibt eine Grenze.
SPORT1: Wie meinen Sie das?
Ter Stegen:Man kann über Dinge reden und sich hinter den eigenen Torwart stellen. Aber Hoeneß' Aussagen fand ich semi-lustig, da bin ich ehrlich. Grundsätzlich bin ich pro Unterstützung. Ich fand es damals in Ordnung, dass sie es gemacht haben und sie ihre eigenen Interessen pushen. Auch ich habe mein eigenes Interesse und habe daher versucht, mich für meine Ziele in meine persönlich beste Lage zu bringen. Es war damals eine normale Aussage von mir, indem ich gesagt habe: 'Ich spiele gut. Ich möchte natürlich auch in der Nationalmannschaft spielen.' Das heißt nicht, dass ich Manuel gegenüber weniger Respekt zolle. Im Fußball wird nach Leistung bewertet, aktuelle Formen sollten entscheidend sein und in diesem Moment habe ich mich wohlgefühlt und gut performt. Ich habe einen Anspruch an mich selbst und hätte gelogen, wenn ich damals gesagt hätte: 'Es ist alles okay als Nummer zwei.' Das würde niemand sagen und das ist nicht mein Anspruch.
SPORT1: Haben Sie bereits die WM in Katar 2022 oder die Heim-EM 2024 im Blick? Getreu dem Motto: Da muss ich spielen!
Ter Stegen: Das ist noch so weit weg, da muss ich das Fernglas rausholen. Für mich geht es vielmehr darum, mich immer auf dem höchsten Niveau zu beweisen. Das ist die Schwierigkeit und das Bemerkenswerte an Spielern wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, die sich über Jahre hinweg auf diesem Niveau bewiesen haben. Das ist ein Ziel, das viel wichtiger ist: jedes Jahr wieder mein Bestes abrufen zu können, um Leistungen zu wiederholen. Am Ende meiner Karriere schaue ich vielleicht zurück und sage: 'Das habe ich gewonnen und das auch.' Vielleicht ist es noch schöner, sagen zu können, dass ich einen Titel mehrfach gewonnen habe. (Marc-André ter Stegen im Interview: Hier geht es zu Teil eins über den FC Barcelona und die Super League)
Flick als Bundestrainer? "Würde nach Hause komme"
SPORT1: Noch vor der EM soll bestenfalls der neue Bundestrainer präsentiert werden. Was halten Sie von Hansi Flick?
Ter Stegen: Hansi Flick hatte als Cheftrainer beim FC Bayern unfassbare anderthalb Jahre. Wenn er zum DFB kommt, werden ihm wenige Leute irgendwas sagen können. Denn er hat mit Bayern einen super Job gemacht. Käme er wieder zum DFB zurück, würde er gefühlt wieder nach Hause kommen. Ich bin gespannt, was passiert.
SPORT1: Wäre er aus Ihrer Sicht der passende Nachfolger für Joachim Löw?
Ter Stegen: Bestimmt. Er hat mit dem FC Bayern Erfahrungen auf einem ganz hohen Niveau gesammelt und hat Spieler um sich herumgehabt, wie Robert Lewandowski. Er hat sie so integriert, dass jeder seine größten Stärken abrufen konnte. Darum geht es in der Nationalmannschaft: die besten und größten Spieler in Deutschland zusammenzubringen und sie auf Topniveau besser zu machen, sodass sie gemeinsam performen. Ist er nun der richtige Bundestrainer? Wenn ich nur die deutschen Trainer sehe, die infrage kommen, dann ist er derjenige, der perfekt ins Beuteschema des DFB passen würde.
SPORT1: Muss der neue Bundestrainer überhaupt ein deutscher Trainer sein?
Ter Stegen: Hat irgendwie Charme, oder? Ich hätte kein Problem damit, wenn es ein ausländischer Trainer wäre. Aber wir haben deutsche Trainer, die wirklich top sind. Alle Kandidaten, die mir so im Kopf rumschwirren, haben maximale Qualität. Sie könnten es alle machen, doch es gibt viele, die sagen, dass sie gerne das tägliche Business haben wollen. Dann gibt es Trainertypen, die es genießen, sich in Ruhe vorzubereiten. Das ist sehr individuell. Toptrainer müssen wissen, wie sie ticken. Hansi Flick kennt beide Seiten und würde auch den Bundestrainer-Posten toll ausfüllen.
Ter Stegen freut sich über Gladbachs Erfolge
SPORT1: Dass Julian Nagelsmann zum FC Bayern wechseln wird …
Ter Stegen: … macht Sinn. Ich bin kein Fachmann, der jeden Tag den Herrn Nagelsmann analysiert hat. Das machen Leute im Klub, die sich mit einem Plan B beschäftigen, wenn Plan A, in dem Fall Hansi Flick, was anderes vorhat. Was ich aber von Julian Nagelsmann gesehen habe und was er schon erreicht hat, da muss ich sagen: Hut ab. Er ist 33 und hat schon fünf Jahre Erfahrung auf höchstem Niveau gesammelt. Er hat seine Mannschaften besser gemacht. Das muss ich dazu sagen. Ich bin gespannt, wie es mit ihm beim FC Bayern läuft, doch ich denke, es passt. Er steht für eine junge Generation. Und welchen deutschen Trainer gäbe es aktuell, bei dem man sagt, dass das der Trainer für den FC Bayern München ist? Mir fallen nicht viele ein.
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SPORT1: Marco Rose verlässt hingegen ihren Ex-Verein Borussia Mönchengladbach. Adi Hütter kommt aus Frankfurt. Verfolgen Sie die Geschehnisse am Niederrhein?
Ter Stegen: Ich schaue immer noch regelmäßig, was die Borussia macht und habe mich sehr gefreut, dass sie in der Champions League mit dabei waren. Sicherlich verfolge ich nicht jedes Spiel, dafür ist unser Spielplan sehr eng getaktet. Dass Marco Rose geht, darüber bilde ich mir keine Meinung. Dafür bin ich zu wenig dran. Aber ich habe Freunde, die Gladbach-Fans sind und für seinen Abgang kein Verständnis haben. Rose hat ein paar Sachen gesagt, die ihm jetzt um die Ohren fliegen. Ist das fair? So ist der Fußball – leider. So sind die Leute - leider. Rose hat sich für den nächsten Schritt in seiner Karriere entschieden. Das muss man respektieren und schätzen. Hat er bis dato einen guten Job gemacht? Ja, hat er. (Ter Stegen verrät: Das ist mein Idol)
SPORT1: Was halten Sie von Ausstiegsklauseln für Trainer?
Ter Stegen: Die kreiert der Markt. Es gibt ja nicht irgendjemanden, der einem Trainer ein Preisschild umhängt. Preise für Trainer ergeben sich aufgrund der Nachfrage und des Anforderungsprofils. Wer ganz oben steht, nimmt sich den größten Fisch. Dann geht es der Reihe nach. Der Trainermarkt ist wie eine Nahrungskette. Es gab übrigens Ablösesummen für Spieler, bei denen man hätte sagen könnte: 'Die haben sie doch nicht mehr alle.' Wenn das keiner zahlen würde, wären die Spieler und Trainer günstiger.
SPORT1: Vielleicht wird Ihr Sohn Ben mal Fußball-Profi. Lässt sich nach anderthalb Jahren schon ein Talent erkennen?
Ter Stegen: Ich habe teilweise das Gefühl, dass er Linksfuß wird. Die werden im Fußball ja gesucht (lacht). Er macht jedenfalls alles mit links. Ob er später mal was mit Fußball machen wird, weiß ich nicht, aber wenn, dann fände ich es supercool. Wenn er Stürmer wird, kann ich ihm auf jeden Fall helfen und mich ins Tor stellen. Ich hoffe, dass er mich dann nutzt, um besser zu werden. Hoffentlich bekommt er eine gute linke Klebe. Am rechten Fuß kann er dann noch arbeiten (lacht).