Es gibt da noch einen Aspekt in der Debatte um den Hosenriss von Pep Guardiola, dem bislang nicht ausreichend nachgegangen worden ist: den moralisch-ethischen.
... und aus allen Nähten flieh'n
Man stolpert halb gedankenlos darüber beim Lesen der internationalen Pressestimmen zum zerfetzten Beinkleid des Bayern-Trainers, ehe die These beim darüber Nachdenken ihre volle Wucht entfaltet.
"Als ihm klar wurde, dass es alle anderen deprimiert, dass er der beste und stilvollste Trainer der Welt ist", spekuliert der britische Mirror, "hat er extra eine Schwachstelle zur Schau gestellt, damit sich die anderen Fußballgrößen nicht so unzulänglich fühlen."
Die kaputte Hose als humanistischer Akt, ähnlich dem mit dem Protest-T-Shirt einen Tag zuvor - man hält es zunächst für einen rein humoristischen Gedanken.
Dann aber kommt einem in den Sinn, dass ähnlich gelagerte Fälle in der Historie gar nicht so selten waren.
Martin von Tours, im vierten Jahrhundert, zu seiner Zeit bei der römisch-kaiserlichen Garde in Amiens: Hat nicht auch er seinerzeit seinen Soldatenmantel zerrissen? Und ging es damals nicht auch im weitesten Sinne darum, das Unzulänglichkeitsgefühl eines Mitmenschen zu lindern?
Was damals folgte, ist bekannt: ein großer Candystorm samt Bischofsernennung, Heiligsprechung, Laternenumzügen. Sogar Christus erschien Martin damals in einer sportfremden Manifestation und lobte die Aktion in höchsten Tönen.
Klar, andere Zeiten damals und vielleicht nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragbar - aber auch in der jüngeren Vergangenheit haben zerrissene Hosen in der Kulturgeschichte keine so unwichtige Rolle gespielt.
Erinnern wir uns an den großen Udo Jürgens und sein ebenso großes Lied über die ausgebliebenen Reisen nach New York, Hawaii und anderswo.
"Ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans…": Wie grandios linderte dieser ebenfalls sehr stilvoll gekleidete Mann das Unzulänglichkeitsgefühl ganzer Generationen mit diesen tröstlichen Zeilen - trotz oder vielleicht auch gerade aufgrund der Tatsache, dass Udo Jürgens in Wahrheit zigmal in New York war und wahrscheinlich selbst nie das Bedürfnis hatte, vor einem Spaziergang in San Francisco seine Jeans zu zerreißen.
Pep Guardiola, wir wissen es, kann auch nicht wahrheitsgemäß von sich behaupten, niemals zu einem Sabbatical in New York gewesen zu sein.
Und trotzdem zeigt sich an seinem Beispiel einmal mehr, wie es auch dem größten aller Weltbürger gelingen kann, die Sehnsüchte des einfachen Mannes zu bedienen - wenn er sie nur für einen kurzen Moment zu seinen eigenen macht.
Ob es wirklich sein Plan war, auszubrechen und in zerrissenen Anzughosen über den FC Porto zu spazieren, weiß man nicht und wird es nie wissen. Es spielt aber auch gar keine Rolle.
Ebenso wenig, wie es eine Rolle spielt, dass Pep Guardiola hinterher in der Mixed Zone sinngemäß gefragt wurde: "War was?" und darauf sinngemäß antwortete: "Nein, was soll schon sein?"
Entscheidend für all uns Unzulängliche und Deprimierte ist das Gefühl, dass es wirklich anders gewesen sein könnte.
Dass Pep Guardiola in dem Moment, bevor seine Hose riss, auch nur einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen wollte.